Alltagssplitter (4): Der stumme und der nicht so stumme Zwang der Verhältnisse

Neulich verlor ich, spät abends von Lesung und Bühnengespräch mit Andreas Altmann heimkehrend, mein Brillenetui mit der Nah- und Lesebrille. Lange habe ich das Etui am nächsten Morgen in der Wohnung gesucht, aber suchen Sie mal eine Brille ohne die richtige Brille. Schließlich fahre ich mit der Fernbrille zur Arbeit und sehe in der ersten Kurve das vermisste Etui zwischen Motorhaube und Frontfenster draußen herumrutschen.
In den folgenden Tagen versuche ich herauszukriegen, wer es da abgelegt haben könnte. Aus dem Haus, vor dem ich geparkt hatte, ist es niemand. Aber der Sohn des Hauses kennt eine Dame zwei Häuser weiter namentlich. Sie hat das Etui gefunden und es zunächst ihm, dem Sohn, zugeordnet, bevor man beschloss, es gehöre wohl mir, dem augenärztlich zertifizierten weitsichtigen Mann von gegenüber. Also legte die Dame das Etui auf meinen Peugeot-Partner, wo es über Nacht tatsächlich niemand wegnahm.

Plötzliche Besuche fürchten müssen
Zweimal klingle ich tagsüber bei der findigen Dame. Nie wird geöffnet.
Dann treffe ich die vom oben erwähnten Sohn korrekt beschriebene Dame mit ihrem kleinen Hund auf der Straße. Ja, sie habe das Etui gerettet. Nein, sie würde nie jemandem die Türe öffnen, weil die Klingel abgestellt sei. Sie lebe unterm Dach mit ihrem autistischen Sohn, den würde jedes unvermutete Klingeln so erschrecken und aus der Bahn werfen, dass sie sich entschlossen habe, die Klingel einfach abzustellen, dies sei einfacher für alle. Plötzliche Besuche Unbekannter, wie es meine gewesen waren, hätte sie sonst andauernd zu fürchten.

Schellemännekes?
Wir sitzen beim Abendessen. Irgendwo im Haus rumst es dumpf, macht nichts, oben in der Wohnung wird seit Tagen einiges ausgeräumt, das junge Paar über uns trennt sich, der Mann aber wird hier wohnen bleiben. Plötzlich schellt es Sturm. Ich ziehe mir schnell eine sogenannte ordentliche Hose über und drücke auf den Türöffner, nichts tut sich, ich sause die Treppen hinunter. Niemand da. Ich klingle bei den Vermietern, wir haben freundliche Vermieter. Sie stammen aus Kroatien, die begabte Tochter studiert zurzeit in Zagreb.
Die Vermieterin öffnet, eine junge Frau steht etwas abseits im Wohnungsflur. Ich frage, ob die Vermieterin das Schellen auch gehört habe. Ja, auch bei ihr habe es geschellt, es sei diese junge Frau dort gewesen. Die junge Frau bittet mich um Entschuldigung, sie habe einfach überall geklingelt. Erst jetzt sehe ich im Halbdunkel etwas Blut in ihrem Gesicht. Ich schaue die Vermieterin fragend an, sie winkt ab, alles sei o.k., danke, ich könne ruhig gehen. Falls doch Hilfe gebraucht würde, meine ich noch, solle sie mir oben Bescheid geben, denn ihren Mann sehe ich nirgends.

Frauenhaus
Irgendwann klingelt das Telefon. Die Vermieterin ist am Apparat, ja, jetzt sei es doch so, dass sie Hilfe benötige. Als ich unten in der Wohnung eintreffe, höre ich die ganze Geschichte.
Die Vermieterin hatte mit der Tochter in Zagreb telefoniert und dabei zur Straße aufs Fenster geschaut. Dort habe ein Pärchen gesessen und sich gestritten.
Sie erzählt weiter: Plötzlich hat der junge Mann mit Baseballcap begonnen die Frau zu schlagen, bis diese am Boden lag. Da hat sie, die Vermieterin, so vehement mit der flachen Hand auf die Fensterscheibe geschlagen, dass der Schläger getürmt ist. Diese Chance wiederum hat die junge Frau genutzt und an unserer Haustür Sturm geschellt. Die Vermieterin hat sie sofort eingelassen. Nachher hat sie der weinenden und sehr aufgeregten Frau das Gesicht gesäubert. Die äußerlichen Verletzungen sind, dem Himmel sei Dank, nur gering. Doch die Frau ist schwanger (vom Schläger) und will nun entweder zum Bekannten ein Haus weiter, den sie ursprünglich sowieso habe besuchen wollen, oder ins Frauenhaus.
Ob ich sie hinüberbringen und schützen könne, falls der Schläger wieder auftauche, oder vielleicht ins Frauenhaus fahren. Ja, mache ich.
Irgendwann fällt die Entscheidung fürs Frauenhaus. Ich recherchiere dessen Telefonnummer auf dem iPhone, rufe aber nicht an, weil es nun wirklich keinen guten Eindruck machen dürfte, wenn ein Mann berichtet, dass da eine soeben geschlagene Frau neben ihm stünde, die ins Frauenhaus wolle und er fragt naiv nach der Adresse, um sie vorbeizubringen.
Also telefoniert die Vermieterin, von Frau zu Frauenhaus. Die Frauenhäuslerinnen wollen aber nicht, dass die Geschlagene vorbeigebracht wird, auch nicht von einer Frau. Wir sollen die Polizei rufen, die würden sie dann bringen. Also ruft der zweite, mittlerweile hinzugekommene Nachbar von oben bei der Polizei an.

Schräge Geschichte, schiefe Bahn
Während wir auf die Polizei warten, erzählt die junge Frau, dass sie eigentlich den Nachbarn nebenan habe besuchen wollen, als sie von ihrem Freund abgefangen worden sei. Ob sie denn wisse, dass just bei diesem Nachbarn, einem schon etwas wackligen älteren Herren, unlängst am Vormittag eingebrochen worden sei. Ja, das wisse sie, und, fügt sie erregt hinzu, das sei er gewesen, ihr Freund, der sie eben vermöbelt habe.
Wir schauen uns an und beginnen uns Gedanken darüber zu machen, was dran ist an der Geschichte und welche Rolle dabei die junge Frau gespielt haben könnte. Informantin, Gehilfin, ausgepresstes Opfer, jetzt rachedurstig? Unsere mitleidigen Blicke kühlen etwas ab. Warum sie denn bei dem Freund bleibe, der sie schon öfters geschlagen habe, wie sie berichtete? Schweigen, dann: Man hoffe doch immer, dass das aufhöre. Die letzten Wochen habe sie bei Bekannten und im Hotel geschlafen, Arbeit habe sie nicht. Die junge Frau spricht gutes Deutsch, erzählt ungefragt, sie sei Deutsch-Marokkanerin.

Korrekt
Als die Polizei kommt, ist die zwar korrekt, aber der jungen Frau gegenüber nicht eben besonders höflich. Personalien werden aufgenommen, die junge Frau gibt jetzt an, sie sei Deutsch-Türkin, sei in Gladbeck gemeldet, nein, Papiere habe sie nicht, die seien in der Handtasche, die ihr Freund ihr zuvor auch entrissen habe. Der sei sowieso vorbestraft wegen Körperverletzung und Diebstahl. Auch wir müssen unsere Versionen der Geschichte berichten. Die Beamten bekommen etwas abseits auch den Hinweis auf den Einbruch nebenan und den möglichen Einbrecher, denn, so wie es aussieht, könnte er den betagten Herrn durchaus noch einmal unangemeldet besuchen.
Seltsamerweise wird kein Arzt gerufen, obwohl davon die Rede ist, dass der Schläger seine Freundin getreten habe und diese schwanger sei. Mit dem gewaschenen Gesicht sieht man allerdings im Moment auch kaum Blessuren an ihr, immerhin hält sie sich aber den schmerzenden rechten Arm. Akribisch wird die junge Frau mehrmals belehrt, wie unachtsam es sei, in der Handtasche nicht nur die EC-Card, sondern auch die PIN-Nummer aufzubewahren, da könne der Freund sich ja jetzt bedienen … Ihr Handy hat die Frau übrigens noch, das trägt sie in der Manteltasche. Während des ganzen Gesprächs versucht der sogenannte Freund sie ausdauernd auf dem Handy zu erreichen. Die Vermieterin erzählt mir später, dass die junge Frau hier in ihrer Wohnung ganz zu Beginn des Geschehens am Handy sogar kurz einmal mit dem Prügler gestritten habe.
Zum guten Schluss bricht die Polizei auf, nimmt die Frau mit, wird sie ins Frauenhaus bringen. Beim Hinausgehen bedanken sich die Beamten für die Hilfeleistung und auch die junge Frau schaut jedem von uns offen in die Augen und bedankt sich für Zuflucht und Hilfe. Dass wir gegebenenfalls als Zeugen auftreten müssen, wird uns noch von den Beamten erläutert.
Die Vermieterin erzählt mir zwei Tage später, sie habe die junge Frau bereits wieder im Viertel gesehen, sie wirke gesund und munter. Einige Male, in den Tagen nach dem Vorfall, schaue ich mich noch aufmerksam um, wenn ich das Haus verlasse, suche kurz Hauseinfahrt und Straße nach einem jungen Typen mit Baseballcap ab. Man scheint ja wirklich nirgends mehr sicher.

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