Die EstNische (10): Kaltes Wasser*

Wenn Tallinn Kulturhauptstadt wird, kann ich leider nicht kommen. Auch die Einführung des Euro heute Nacht verpasse ich. Andererseits, kenne ich das Gefühl mit Euro zu bezahlen. Und ich muss auch nicht auf jede Eröffnungsfeier einer europäischen Kulturhauptstadt. Was ich wirklich bedaure: Ich verpasse die Schwimmwettkämpfe von Pirita. Am kommenden Samstag werden sich Menschen in die eiskalte Ostsee stürzen. Der erste Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahres. Und so etwas wie ein symbolischer Akt.

Die Ergebnisse der Meinungsumfragen zum Euro fallen uneinheitlich aus. Doch eine Mehrheit der Esten ist wohl für den Sortentausch – auch das ein symbolischer Akt. Nach der Unabhängigkeit hat sich die estnische Krone erst an die D-Mark gekettet, dann an den Euro, mit festem Umtauschkurs. Letztlich sind die kompakten Kronenscheine und Münzen eine ziemlich überflüssige, umständliche Ausgabe des Euros, die jetzt vom Markt genommen wird, bereinigt. Keine große Sache.

Der Sprung ins kalte Wasser der Eurowelt wird in der Neujahrsnacht also wenig spektakulär ausfallen. Es wird kaum Freudentänze geben um die neue Leitwährung, keine johlenden Verbrennungen alter Kronenbestände, keine enthemmten Glückstränen. Es ist überhaupt schwer zu sagen, ob die Esten stolz darauf sind, endlich zur angeknockten Eurozone zu gehören. Vermutlich sehen sie es umgekehrt: Finanzpolitisch ist Estland ein Vorzeigeland mit Sparkurs, liberalster Wirtschafts- und Steuerpolitik, einem abgewickelten Sozialstaat. Ich weiß nicht einmal, ob es in Estland noch Gewerkschaften gibt. Oder ob sie als sowjetische Okkupationsidee einfach abgeschafft wurden.

Vermutlich wird auch der Start in die Kulturhauptstadt ohne viel Überschwang begangen werden. Auch das hat seine Gründe. Etwa die Personalrochade im Organisationsbüro – der ehemalige Leiter der Kampagne wurde aus dem Amt geekelt, weil er als Deutscher mit dem schönen Namen Fritze wie ein deutscher Lehrer bezahlt wurde. Die Auswirkungen der Finanzkrise haben die geplante städtebauliche Hinwendung der Stadt zur Küste gehemmt. Doch der größte Hemmschuh der Kulturhauptstadt Tallinn sind die im März anstehenden Parlamentswahlen.

Tallinn, die größte Stadt und einzige Großstadt Estlands, wird von der Zentrumspartei unter Oberbürgermeister Edgar Savisaar regiert. In der Riigikogu, dem estnischen Parlament, stellen die Zentristen jedoch die Opposition. Programmatisch ist das kein Problem. Estlands Parteien tun sich inhaltlich nicht viel, außer das sie versuchen, sich in Nationalismus zu übertreffen und den Kontrahenten das Gegenteil vorzuwerfen. Der neuste Vorstoß auf dem patriotischen Spielfeld richtet sich nun gegen das Zentrum und Tallinns Bürgermeister.

Savisaar soll von russischer Seite Geld bekommen haben zur Finanzierung der anstehenden Zentrums-Wahlkampagne. Der Bürgermeister und ehemalige Ministerpräsident Estlands bestreitet den Geldeingang aus Russland nicht. Er behauptet aber, das Geld sei für den Bau einer orthodoxen Kirche in einem überwiegend russisch, weißrussisch und ukrainisch bewohnten Stadtteil.

Savisaars Gegnern geht es um den Platz auf der Nationalismus-Hitparade, Savisaar um Klientelpolitik, so oder so. Es lässt sich kaum sagen, ob ihm die Vorwürfe eher nützen oder schaden.

Das Zentrum ist in Tallinn nur deshalb stärkste politische Kraft, weil die russischstämmige Bevölkerung an  Kommunalwahlen teilnehmen darf. In der Hauptstadt leben rund 40 Prozent Russen, zwei Drittel sind staatenlos oder russische Staatsbürger aber sie haben kommunales Stimmrecht. Gute Beziehungen zu Russland zu haben, schadet der Tallinner Zentrumspartei also nicht, im Gegenteil.

Für die Kulturhauptstadt ist der Streit um Savisaar und das Verhältnis zur einstigen Besatzungsmacht kontraproduktiv. Viele estnisch eingestellte Spitzenkünstler, Estlands staatlicher Rundfunk und die staatliche Kulturpolitik sind nicht besonders an einem großartigen Erfolg der Kulturhauptstadt Tallinn interessiert – mindestens bis zum 6. März, den anstehenden Parlamentswahlen.

* 2010, Ruhrgebiet ist vorbei. Jetzt heißt es Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Die EstNische: Geschichten vom Meer

* 2010, Ruhrgebiet ist vorbei. Jetzt heißt es Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten von der See, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Folge Zehn: Kaltes Wasser

Folge Neun: Schnee-Fall

Folge Acht: Fußball mit B-Note

Folge Sieben: Schneekarte

Folge Sechs: Lauter Gefahren

Folge Fünf: Kranke Holzhäuser

Folge Vier: Ein Umrechnungskursus

Folge Drei: Bärentöter

Folge Zwei: Stahlhausen plus See

Folge Eins: 2:1 gegen Faröer

Waldorf Schools: Rudolf Steiner’s books are “an incitement to racial hatred”, says BPjM

In the UK a discussion is going on about Rudolf Steiner’s racism, see: “Steiner Waldorf Schools Part 3. The problem of racism“. Therefore Ruhrbarone publish a short English summary of the BPjM’s decision on Rudolf Steiner. By Andreas Lichte.

The “Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien” (BPjM) (”Federal Department for Media Harmful to Young Persons”) examined 2 books by Rudolf Steiner for “racist content” and decided that the content of the books is racist.

To understand the BPjM´s importance and function here’s its self-portrayal, quote:

“General information about the BPjM (Federal Department for Media Harmful to Young Persons) We are an official administrative authority of the German government called “Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien” (BPjM) (”Federal Department for Media Harmful to Young Persons”). Our task is to protect children and adolescents in Germany from any media that might contain harmful or dangerous contents. This work is authorized by the “Youth Protection Law” (Jugendschutzgesetz – JuSchG). Media monitored by us are, among others: videos, DVDs, computer games, audio records and CDs, print media and internet sites. Objects are considered harmful or dangerous to minors if they tend to endanger their process of developing a socially responsible and self-reliant personality. In general, this applies to objects that contain indecent, extremely violent, crime-inducing, anti-Semitic or otherwise racist material. (…)” see the BPjM-homepage for the rest.

The 2 books examined by the BPjM are:

– „Geisteswissenschaftliche Menschenkunde“

English title: „Spiritual-Scientific Knowledge of the Human Being“

– „Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie“

English title: „The Mission of Individual Volk-Souls in Connection with Germanic-Nordic Mythology“

The 2 decisions differ from one another only with regard to which particular statements by Rudolf Steiner the BPjM considered to be racist. As stated in the respective decisions on i) „Geisteswissenschaftliche Menschenkunde“ and ii) „Die Mission einzelner Volksseelen“, decisions page 6:

„Der Inhalt des Buches ist nach Ansicht des 12er-Gremiums in Teilen als zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen.”

„The content of the book [by Rudolf Steiner] is, in the opinion of the board of 12 representatives, considered in part as an incitement to racial hatred, respectively as discriminating on grounds of race.“

This is followed by a definition. I only translate the most important part:

„Ein Medium reizt mithin zum Rassenhass an, d.h. stellt Rassenhass als nachahmenswert dar, wenn darin Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Rasse, Nation, Glaubensgemeinschaft o.ä. als minderwertig und verächtlich dargestellt oder diskriminiert werden (Ukrow, Jugendschutzrecht, Rn. 284).”

“A medium incites racial hatred, that is, depicts racial hatred as worthy of imitation, if human beings are represented as being inferior or contemptible or are discriminated against, due to their affiliation to another race, nation, religious community or the like.”

This definition is followed by those of Rudolf Steiner’s statements that were considered by the BPjM as racist. I translate only statements concerning BLACK PEOPLE directly.

from “Geisteswissenschaftliche Menschenkunde” page 6f: „Die Menschen, welche ihr Ich-Gefühl zu gering ausgebildet hatten, wanderten nach dem Osten, und die übriggebliebenen Reste von diesen Menschen sind die nachherige Negerbevölkerung Afrikas geworden.” “The people who had underdeveloped their sense of »I« [that is: the »ego«], migrated to the east, and the surviving remnants of these people later became the negro population of Africa.”

page 7: „Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu schwach entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: sie setzten unter ihrer Haut zuviel kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.” “But the people, who underdeveloped their »I«-being [that is: their »ego«], who were exposed too much to the effects of the sun, they were like plants: they deposited under their skin too many carbon-like elements and became black. This is why the negro is black.”

„…, von der ganz passiven Negerseele angefangen, die völlig der Umgebung, der äußeren Physis hingegeben ist, …” “…, beginning with the completely passive soul of the negro, which is in complete abandon to [that is: devoted to] the environment, to the exterior physique, …”

page 8: „Aber das sind die, welche so ihr Ich verleugnet haben, dass sie schwarz davon wurden, weil die äußeren Kräfte, die von der Sonne auf die Erde kommen, sie eben schwarz machten.” “But they are the ones, who so denied their »I« that it turned them black, because the exterior forces that come from the sun to the earth simply turned them black.”

from „Die Mission einzelner Volksseelen” page 6: „Der afrikanische Punkt entspricht denjenigen Kräften der Erde, welche den Menschen die ersten Kindheitsmerkmale aufdrücken, …” „The African Point corresponds to those forces of the Earth, which imprint on people the first features of childhood…”

These are examples of racist statements made in only 2 of Steiner’s books. Be aware of the fact that Steiner wrote 354 books. To what do they add up? To an esoteric evolutionary theory, in which there is no place for people who aren’t white. Coloured people will become extinct – Steiner’s program in short, quote Rudolf Steiner:

„Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse”

“The white race is the race of the future, the race that works creatively on the spirit.”

Articles at Ruhrbarone directly related to the topic:

3 Jahre Rudolf Steiner ist „zum Rassenhass anreizend bzw. als Rassen diskriminierend anzusehen“, by Andreas Lichte

Rudolf Steiners Rassenlehre, by Ansgar Martins

Other Waldorf-articles by Andreas Lichte at Ruhrbarone:

„Waldorfschule: Vorsicht Steiner“ Interview with Andreas Lichte

„Kampf bis zur Erleuchtung – Lorenzo Ravagli und der Glaubenskrieg der Anthroposophie gegen Helmut Zander“

„Die Waldorfschulen informieren“

„Drei Gründe für die Waldorfschule“

Waldorfschule: „Detlef Hardorp, der Berlin-Brandenburgische Bullterrier der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeit“

„Waldorfschule: Lehrer gesucht!“

„Waldorfschule Schloss Hamborn, das anthroposophische Zentrum in Ostwestfalen“

Image: Rudolf Steiner, „Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis”, page 245

Bundestag: Gute Gründe gegen Benedikt

Der Papst im Internet

Alle sind ganz wuschig, weil der Papst vor dem Bundestag reden wird. Nur die Grünen sind skeptisch. Zu Recht. Denn es gibt gute Gründe, den Mann nicht ans Mikrofon zu lassen.

Sicher, Benedikt ist ein Staatsoberhaupt, und immer wieder haben Staatsoberhäupter vor dem Bundestag gesprochen. Dass er Oberhaupt eines lächerlich kleinen Staates ist, spielt keine Rolle. Wichtiger ist, was für einem Staat er vorsteht. Der Vatikan ist eine Autokratie, kein demokratischer Staat. Eine kleine Gruppe von Männern kungelt das Staatsoberhaupt aus, der Rest hat zu spuren. Ich habe kein Problem, wenn die Chefs demokratischer Staaten vor dem Bundestag reden. Aber Benedikt steht keinem demokratischen Staat vor. Das reicht eigentlich.

Aber es gibt noch ein paar andere Gründe, denn der Mann ist ja auch Anführer einer recht großen Organisation: Der katholischen Kirche. Die ist Marktführer im Segment Christentum – sowas wie das Coca-Cola unter den Kirchen.

Die katholische Kirche ist keine angenehme Organisation: Wäre sie eine Partei, sie wäre in Deutschland verboten. Frauen und Schwule werden aufs Übelste diskriminiert. Verbrecher in den eigenen Reihen solange geschützt wie es geht – ob Mafia-Kontakte oder Kinderschänder – man pocht erst einmal auf die eigene Gerichtsbarkeit. Das tut jede Räuberbande auch – bis die Polizei ihr rüde erklärt, was ein Rechtsstaat ist. Allein die Positionen zu Aids und Verhütung zeugen von einer tiefsitzenden Menschenverachtung.

Über die Geschichte wollen wir hier mal nicht reden: Die Verbrechen der katholischen Kirche sind ohne Zahl. Sie war gegen jeden Fortschritt. Wäre es nach ihrer Führung gegangen, wir würden heute noch im Mittelalter leben.

Nein, es gibt gute Gründe, Benedikt nicht vor dem Bundestag sprechen zu lassen. Und die Anführer anderer Religionsgemeinschaften auch nicht. Ich will im Bundestag Demokraten sehen. Benedikt ist keiner.

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Pottblog & Ruhrbarone: JMStV-Party im Freibeuter

Auch wenn mit dem Aus für den JSMtV nicht alle Probleme gelöst sind – heute darf gefeiert werden.

In Absprache mit Jens vom Pottblog, der gerade in Düsseldorf ein wahrscheinlich ziemlich spektakuläres Interview führt, möchten wir, die Blogs Ruhrbarone und Pottblog, heute Abend zu einer kleinen JMStV-Party in den Freibeuter in Bochum einladen. Los geht es um 21.00 Uhr – dann wird Jens auch aus Düsseldorf zurück sein.

Bei aller Euphorie sei auf einen interessanten Text bei Netzpolitik verwiesen. Dort wird aufgezeigt, dass Nach dem Vergnügen die Arbeit kommt. Aber das ist morgen. Heute ist erst einmal vergnügen angesagt.

Freibeuter
Kortumstr.2-4
44787 Bochum

Pressefreiheit in Europa im Abwärtstrend

Als Berlusconi gestern (wieder mal) eine Vertrauensabstimmung im italienischen Parlament gewonnen hatte, erinnerte man sich daran, dass der Ministerpräsident nicht nur über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, den einen oder die andere Abgeordnete zu kaufen, sondern dass er die drei größten Fernsehstationen schon vor langer Zeit gekauft hatte. Da der Regierungschef zudem über einen erheblichen Einfluss auf die drei staatlichen TV-Sender verfügt, hören und sehen die Italiener auf allen Kanälen Tag für Tag, was für ein toller Hecht ihr Berlusconi ist. Und die Italiener sehen nun einmal lieber fern, als Zeitung zu lesen. Auf einer Werbeseite für Italien heißt es ganz unbefangen: „Generell wird in Italien aber weniger Zeitung gelesen als im europäischen Vergleich, Fernsehen und Radio spielen dagegen eine größere Rolle.“

Dass es um die Pressefreiheit in Italien nicht zum Besten bestellt ist, hat keinen großen Neuigkeitswert. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ jedes Jahr erstellt, belegt Italien gegenwärtig den 49. Platz – gemeinsam mit Burkina Faso. Wer annimmt, bei Italien handele es sich um einen bedauerlichen Sonderfall, übersieht, dass zwar 13 der 27 EU-Mitgliedsstaaten unter den Top 20 vertreten sind, die anderen 14 aber deutlich weiter unten rangieren. Wer sich damit tröstet, dass es sich bei diesen 14 Staaten vorwiegend um osteuropäische Länder handelt, hat den Charakter der „Wertegemeinschaft“ Europäische Union nicht ganz verstanden – aber auch nicht ganz Unrecht.

Denn tatsächlich ist es um die Pressefreiheit in den nord- und westeuropäischen Ländern deutlich besser bestellt als in den süd- und osteuropäischen. Die skandinavischen Staaten Finnland, Island, Norwegen und Schweden stehen auf Platz Eins der Liste, ebenso wie die Niederlande und die Schweiz. Auch Österreich rangiert nur knapp hinter dieser Spitzengruppe. Deutschland ist auf dem 17. Platz schon ziemlich abgeschlagen; aber es ist noch ein recht ordentliches Ergebnis. 4,25 Punkte auf der Skala von 0 (die Spitzengruppe), Österreich hat 0,5 Punkte usw.: je mehr Punkte, desto weniger Pressefreiheit. Bis hin zu Nordkorea (104,75 Punkte), nur noch übertroffen von Eritrea (105 Punkte).

Verglichen damit sieht es freilich mit der Pressefreiheit gut aus in Europa. Aber will man sich damit vergleichen? Italien belegt – wie gesagt – den 49. Platz – von 178 Staaten, mit 15 Punkten. Und richtig: eine Reihe von südosteuropäischen Ländern ist noch schlechter platziert. Allein schon deshalb lassen sich die Defizite bei der Pressefreiheit nicht als italienischer „Sonderfall“ abtun. Überall in Europa geht es gegenwärtig abwärts. „Reporter ohne Grenzen“ warnt, dass die Europäische Union Gefahr laufe, ihre Führungsposition bei der Wahrung der Pressefreiheit einzubüßen. Bei der Präsentation des diesjährigen Berichts im Oktober erklärte ROG-Generalsekretär Jean-François Julliard gar: „Wenn die EU-Staaten keine Anstrengungen unternehmen, setzen sie ihre weltweit führende Position bei der Einhaltung von Menschenrechten aufs Spiel. Die europäischen Staaten müssen dringend ihre Vorbildfunktion wiedererlangen.“

Besonders besorgniserregend dabei: „Mehr denn je sehen wir, dass die wirtschaftliche Entwicklung, institutionelle Reformen und die Achtung der Grundrechte nicht unbedingt zusammen gehen „, so Julliard weiter. In einem Land zum Beispiel wird regelmäßig der übliche Genehmigungsweg außer Kraft gesetzt, wenn sich Geheimdienst und Polizei die Telefonrechnungen von Journalisten schicken lassen. Dabei berufen sich die Staatsorgane auf den gesetzlich geregelten Fall, dass „nationale Interessen“ berührt sind, womit sie eine „unabhängige Kommission“ ausschalten, die eigentlich jeden Zugriff genehmigen müsste. Stattdessen bespitzelt der Geheimdienst die Journalisten einfach so, erstellt anhand von GPS-Daten Bewegungsprofile, überwacht Handytelefonate und organisiert Einbrüche in Redaktionsbüros. Die wichtigen Posten in Medienunternehmen sind an persönliche Freunde des Staatspräsidenten vergeben, die wenigen unabhängigen Journalisten werden mit allen Mitteln in ihrer Arbeit behindert, nicht zuletzt auch deshalb, um die persönlichen Machenschaften des Präsidenten zu kaschieren.

Dabei handelt es sich bei diesem Land um eine der ältesten Demokratien Europas. Es liegt in Westeuropa, gehört zur EU, sogar zum Euroraum. Doch seit der gegenwärtige Präsident an der Macht ist, haben sich die Arbeitsbedingungen für Journalisten dramatisch verschlechtert. Jetzt rangiert das Land auf dem Index für Pressefreiheit hinter Ghana, Namibia und Papua Neuguinea. Es handelt sich um unseren großen Nachbarn im Westen. Auch das ARD-Magazin „ttt“ hatte kürzlich über die erschreckenden Bedingungen für Journalisten in Frankreich berichtet.

JMStV: Problembär Beck droht mit Sperrverfügungen

Kurt Becks rheinland-pfälzische Landesregierung hat den JMStV entworfen. Auf sein drohendes Aus reagiert der einstieg SPD-Vorsitzende mit Drohungen.

In einem  Text auf der Internetseite des Landes Rheinland-Pfalz zeigt sich Problembär Beck wütend über das Aus für den Jugendmedienschutzstaatsvertrag:

„Denn mit der Verweigerung der Zustimmung würde eine einmalige Chance vertan, mit freiwilligen Alterskennzeichnungen und den Einsatz von Jugendschutzprogrammen Kinder und Jugendliche vor verstörenden Inhalten im Netz zu schützen und gleichzeitig die Kommunikationsfreiheit der erwachsenen Nutzer zu erhalten.“

Und weil Beck es auch nicht mit der Selbstkritik hat, beginnt er zu drohen:

„Falls die Novellierung scheitert, wird der Weg der koregulierten Selbstregulierung nicht weiter beschritten, so dass die staatliche Regulierung von oben Platz greifen wird. Basierend auf den derzeitigen rechtlichen Grundlagen werden die Jugendschutzbehörden Sperrverfügungen erlassen.“

Beck ist ein alter Mann, der in der Gegenwart noch nicht angekommen ist. Er hält am Bild eines paternalistischen Staates fest, der so wie er ihn kannte, heute nicht mehr funktionieren kann. Und er sieht nicht, dass sein Kurs die SPD ins netzpolitische Abseits führte. Die SPD tut gut daran, Leute wie ihn und Eumann nichts mehr zum Thema Medien sagen zu lassen. Weinbau und Subventionsverschwendung beim Nürburgring sind doch auch sehr schöne Themen.

JMStV-Aus: Die rot-grünen Verlierer

So sehen Verlierer aus_ Marc Jan Eumann, Staatssekretär im Ministerium für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien Foto: Landtag NRW

Der JMStV ist Geschichte. Morgen wird der NRW-Landtag seine Zustimmung zu dem Vertrag nicht erteilen. Alle Fraktionen sind gegen seine Ratifizierung. Es hätte eine große Stunde für die Netzpolitiker von Grünen und SPD sein können. Es wurde die große Stunde der Union. Bleibt das ohne Konsequenzen?

Es war das erste große Projekt von Marc Jan Eumann (SPD). Der NRW-Medienstaatsekretär wollte den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in der letzten Sitzung des Landtages im Jahr 2010 durchbekommen. Eumann stand hinter dem Vertrag und es sah lange Zeit so aus, als ob er Erfolg haben würde. Der Ober-Netzpolitiker der NRW-Grünen, der Landtagsabgeordnete Matthias Bolte war bereit zuzustimmen – aus staatspolitischer Verantwortung.

Nun sind beide gescheitert: Eumann ist als Staatsekretär für die Niederlage verantwortlich. Er hätte die Chance gehabt, die rot-grüne Landesregierung im Bereich der Netzpolitik modern aufzustellen. Die Grundlage dazu hatten Menschen wie Jens Matheuszik vom Pottblog durch ihre Mitarbeit am Landtagswahlprogramm gelegt. Eumann verpasste die Chance, gab der Union ohne Not die Möglichkeit sich politisch zu profilieren und hat sich damit selbst disqualifiziert.

Dass er, als Vorsitzender der SPD-Medienkommission auch noch den Netzsperren-Befürworter , Musik-Lobbyisten und CDU-Sachverständigen  Dieter Gorny als Berater in die Kommission holte, zeigt, das Eumann im Moment der größte Ballast der Medien- und Netzpolitik der SPD ist. Ein Ballast, den die Sozialdemokraten möglichst schnell abwerfen sollten.

Als heillos überfordert erwies sich auch der Grüne Matthias Bolte. Früh ging er auf den Kurs von Eumann  ein. Seine Erklärung, man müsse dem Gesetz aus staatspolitischer Verantwortung zustimmen, war zu keinem Zeitpunkt mehr als aufgeblasenes Geschwätz, um die eigene Schwäche zu verdecken. Das ausgerechnet die Union und die FDP, deren Landesregierung ja an der Entstehung der Vertrages beteiligt waren, gemeinsam mir der Linkspartei Bolte eine Lektion zum Thema „Unabhängigkeit des Parlaments“ erteilen mussten ist  peinlich. Das spürt man im Magen die Bedeutung des Wortes Fremdschämen.

Bolte und Eumann haben ihren Parteien geschadet. Der eine, Eumann, aus Überzeugung, der andere, Bolte, aus purem Opportunismus.

Versager auf ihren Politikfeldern sind sie beide.

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Die EstNische (9): Schnee-Fall

Irgendwann wird Schnee zum logistischen Problem. Das Zeug will einfach nicht in der Erde verschwinden, sich ins Grundwasser verflüssigen, bleibt liegen. Es stapeln sich Haufen auf Straßenlaternen oder Zaunpfosten, abenteuerliche Konstruktionen, für die der Este nicht so das Auge hat.

Er schippt. Und schippt. Und schippt. Es schneit noch, er schippt. Es wird gleich wieder schneien, er schippt. Richtiger müsste ich schreiben, sie schippt. Bei meinen Spaziergängen durch die Schneewelt (->hier das Video) sehe ich Frauen, alte und jüngere, die zwischen den Haus- und Schneewänden dafür sorgen, dass wenigstens etwas Platz bleibt.

Gestern Nacht um drei waren es dann Männer, die ihren Transporter parkten, Werkzeug heraus holten, feixten und im Nachbarhof Eisplatten zertrümmerten, Schnee und Eis mit Schubwannen wegschoben oder auf einen zwei Meter hohen, zehn Meter, vier Meter langen Berg warfen. Heute sah ich Lastwagen, mit dem Schnee verbracht wird, sogar einen geschlossenen Lieferwagen, den Männer mit Schnee füllten. Ich weiß nicht, wohin sie ihn bringen, den Schnee, was sie damit machen. Lagern sie Wildbrett? Machen sie Bier? Wird der Schnee in einem Hangar mit Heizstrahlern einfach vernichtet? Ich habe etwas Angst. Aber letztlich heißt es: Wir oder der Schnee. Wer macht sich breiter?

Die Wege auf denen Menschen laufen können und Wagen fahren, werden enger, die Schneemauern dicker. Es ist ein Überlebenskampf. Und Monika war erst der Anfang. Es ist Mitte Dezember. In Estland nennt man den Sommer auch: zwei lausige Monate fürs Skifahren. Zwei! Meine Angst wird größer.

Andererseits, Tallinn leuchtet, das Eis glitzert, der Schnee weckt Schauma-Erinnerungen, als Schäume noch Träume waren und kein Nitrat, saure Böden, Weichmacher. Ich bin auf Zigaretten mit weißem Filter umgestiegen, um den Gesamteindruck nicht zu stören. Nur beim Rauchen aus dem Fenster unserer Nichtraucherwohnung, beuge ich mich nicht zu weit vor, schaue nicht nach oben, zu den mörderischen Eiszapfen, Damokles‘ Schwerter.

Ich sehe mich schon gepfählt, wie ich nach dem Schlag überkippe, das eisige Metall der Fensterbank greife, abrutsche, noch am Band eines Meisenknödels hänge, dann falle und verzweifelt versuche, in einem Schneeberg zu landen … Ich kann mir das gut vorstellen, weil ich es sah. Vor dem Schnee.

Nebenan stürzte einer vom Dach, als er die Dachrinne von Herbstlaub reinigen wollten, der Wasserstrahler blieb oben liegen, er stürzte sieben Meter auf das Pflaster. Ich hörte den Aufprall, sah wie der Dacharbeiter aufstand, die Farbe aus seinem Gesicht wich. Er saß im Kofferraum seines Kombis mit einer Decke umwickelt, von einer Nonne umsorgt und wartete auf den Krankenwagen, wimmerte, zitterte. Mein Fenster zum Hof.

Auf dem Platz vor dem Rathaus steht ein großer Weihnachtsbaum. Ein Typ aus Bremen verkauft deutsche Bratwurst (aus Tartu) und deutschen Glühwein (aus spanischem Rotwein). Abends stinkt er nach Wurst und ist trotzdem sauglücklich, weil die Geschäfte gut laufen. Auf dem Weihnachtsmarkt, mühsam frei geräumt von den Schneemassen, spielen sie wie zuhause „I’m dreaming of a white christmas“. Dann doch lustig.

* 2010, Ruhrgebiet ist Geschichte. Das kommmende Ding heißt Tallinn 2011, Geschichten von der Küste. Und ich bin dabei. Mit Geschichten vom Meer, der Stadt und diesem überhaupt ziemlich seltsamen Land am nordöstlichen Rande Europas.

Richard Holbrooke ist tot

Richard Holbrooke ist tot. Er starb gestern während einer Operation an seiner Halsschlagader im Alter von 69 Jahren. Barack Obama bezeichnete ihn als einen „wahren Giganten der US-Außenpolitik“, David Petraeus würdigte ihn als einen „Titanen“, Joe Biden nannte ihn den „talentiertesten Diplomaten seiner Generation“ und Hillary Clinton – vergleichsweise nüchtern – den „entschiedensten Verteidiger und treuesten Diener Amerikas“. Jetzt, nach seinem Tod, werden sich die anerkennenden Worte häufen. Dabei kann man über Holbrooke vieles sagen, nur eines nicht. Richard Holbrooke war nicht sonderlich umgänglich. 

Holbrooke war nicht der Typ von Kumpel, den man ständig um sich haben möchte. Und ob er, wie Biden formulierte, ein talentierter Diplomat war, ist letztlich eine Definitionsfrage. Obama hatte Holbrooke, dessen Beauftragter für Afghanistan und Pakistan er war, engmaschig kontrolliert, da Holbrooke ständig mit dem außenpolitischen Apparat im Weißen Haus aneinander geraten ist. Petraeus waren Holbrookes Bemühungen um eine Einbindung der Taliban in einen Aussöhnungsprozess ohnehin äußerst suspekt. Holbrookes tiefe Verachtung für Karzai war allgemein bekannt. 

Einzig Hillary Clinton stand in letzter Zeit voll auf seiner Seite; Holbrooke war ein enger persönlicher Freund der Clintons. Als er letzten Freitag im Büro der Außenministerin Bericht erstattete, platzte ihm die Halsschlagader. Holbrooke soll seine Beschwerden zunächst heruntergespielt haben, bevor er auf dem Weg zum Arzt zusammengebrochen ist. Der Riss an der Aorta wurde letzte Nacht 20 Stunden lang operiert. Richard Charles Albert Holbrooke, so sein vollständiger Name, überlebte die Operation nicht. 

In den Vereinigten Staaten ist es üblich, den Vornamen Richard auf die Kurzform „Dick“ zu reduzieren. Holbrooke mochte das nicht. Weniger wegen der obszönen Verwendung des Wortes für das männliche Geschlechtsteil, was ja dann alle Richards stören müsste. Vielmehr deshalb, weil unter einem „Dick“ ebenfalls ein unangenehmer Mensch verstanden wird. Man denke an den deutschen „Dickkopf“. Die „Naturgewalt der US-Diplomatie“ wollte nicht mit „Dick“ angesprochen werden; dabei konnte Holbrooke verdammt unangenehm werden. 

Unvergessen ist Holbrookes Rolle beim Zustandekommen des Dayton-Abkommens, das die Gräuel des Bosnienkrieges beendete. „Diese Soldaten“, stellte Holbrooke US-Militärs in Belgrad Slobodan Milošević vor, „befehligen die amerikanischen Luftstreitkräfte, die bereit stehen, Sie zu bombardieren, wenn wir nicht zu einer Einigung gelangen“. In Dayton (Ohio) pflegte er den serbischen Diktator anzuschreien und übte auch auf die anderen Konfliktparteien einen solch enormen Druck aus, dass ihnen ein Friedensabkommen als das kleinere Übel erscheinen musste – kleiner jedenfalls, als länger ihn ertragen zu müssen. 

Mit Richard Holbrooke verlieren die USA einen einmaligen Außenpolitiker – einmalig, aber doch ein Mann der „alten Schule“, insofern, als dass sein Denken und Handeln vornehmlich von der Zeit geprägt war, in der die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht meinten, der Welt ihren Willen aufdrücken zu können. Es zählt zu den bleibenden Verdiensten Holbrookes, nach dem dramatischen Versagen Europas das Gemetzel in Bosnien beendet und damit seinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass der Balkan (jedenfalls bislang noch) nicht in einem mörderischen Chaos versunken ist. Jahrzehntelang war Holbrooke für den Auswärtigen Dienst tätig, u.a. war er 1993 für neun Monate Botschafter der USA in Bonn. 

Holbrookes Mutter Trudi Moos war 1933 nach der Machtergreifung der Nazis mit ihrer Familie von Hamburg nach Buenos Aires emigriert. 1939 wanderte sie dann in die USA ein, wo sie Holbrookes Vater kennenlernte, der Ende der 30er Jahre aus Weißrussland in die USA ausgewandert war. Holbrooke hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Söhne.