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„Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht zur Sozialleistungsfreizügigkeit werden“

Karin Welge Foto: Welge/Pascal Skwara


Die Armutszuwanderung aus Südosteuropa stellt Gelsenkirchen und Duisburg vor große Probleme. Die Oberbürgermeister fordern, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union nicht zur Sozialleistungsfreizügigkeit werden darf.

Die Sonne scheint in Hochfeld und eine erste Ahnung des nahenden Frühlings liegt in der Luft, als Jochen Ott sich gemeinsam mit Parteifreunden und Fraktionskollegen auf macht, den Duisburger Stadtteil zu erkunden. Ott ist seit Mai vergangenen Jahres Fraktionsvorsitzender der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag und hat sich zu Herzen genommen, was Sigmar Gabriel 2009 sagte, als ihn die SPD zum Vorsitzenden wählte: „Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist.“ Anstrengend ist es in Hochfeld: 18.000 Menschen leben in dem Stadtteil am Rheinufer, der früher einmal ein klassischer Arbeiterviertel war. Dann zog sich die Industrie zurück und es war vorbei mit den gutbezahlten Arbeitsplätzen. Heute liegt der Migrantenanteil bei 60 Prozent und viele bekommen Geld vom Staat. Über 20.000 Bulgaren und Rumänen leben in Duisburg, der Großteil sind Sinti und Roma. Marxloh und Hochfeld sind die Stadtteile, in denen sie sich niedergelassen haben. Hier sind die Wohnungen in den oft heruntergekommen Häusern billig. Die Stadt hat deswegen eine „Task-Force“ eingerichtet, die dafür sorgt, dass wohnen für die Menschen nicht lebensgefährlich wird. Besteht zum Beispiel Brandgefahr, werden die Häuser geräumt und versiegelt.  Aber die Stadt versucht auch auf anderem Weg den Menschen zu helfen. Zum Beispiel mit dem „Blauen Haus“, einem Kinder und Jugendzentrum. Ott trifft hier bei seinem Stadtteilrundgang Sören Link (SPD), den Oberbürgermeister Duisburgs.

Sören Link und Jochen Ott Foto: Laurin

Nikita Grojsman, der Leiter der Einrichtung sagt, dass über 90 Prozent der Kinder Roma seien. Hier könnten sie ihre Fahrräder reparieren, spielen und zusammen kochen. Gute Ernährung sein ein wichtiges Thema, Erziehung zur Demokratie ein anderes: „Die Kinder können bei uns alle paar Wochen einen Beirat wählen. Der verfügt über einen Etat von 500 Euro und bestimmt, wofür dieses Geld ausgegeben wird.“ Zum Beispiel für eine Besuch im Zoo, einen Nachmittag im Freibad oder eine Party. „Die Kinder lernen, dass es einen Unterschied macht, ob man seine Stimme dem besten Kumpel gibt oder einem Kind, dass man nicht so gut, aber gute Ideen hat.“  Die Hoffnung ist, dass die Kinder von der Demokratie so begeistert sind, dass sie ihre Eltern dazu bringen, auch zu wählen. Denn als EU-Bürger haben sie dazu bei den Europa- und Kommunalwahlen die Möglichkeit, nutzen sie aber nicht. Gut 500 Kinder gehören zu den regelmäßigen Besuchern des Blauen Haus. Sie alle haben einen Vertrag mit dem Jugendzentrum abgeschlossen, und sich mit den Regeln einverstanden erklärt: Konflikte werden friedlich geregelt, man nimmt Rücksicht aufeinander. Die Kinder werden hier ernst genommen und bekommen Verantwortung übertragen. Ott findet das gut. „Wichtig ist, dass sich alle an die Regeln halten. Aber es müssen auch für alle dieselben Regeln gelten.“  Gerechtigkeit ist dem Kölner wichtig.

Das gilt auch für Karin Welge. Die Gelsenkirchener Oberbürgermeisterin ist aus vollem Herzen Europäerin und Sozialdemokratin. Sie ist stolz darauf, dass es ihrer Stadt in den vergangenen über hundert Jahren gelungen ist, eine Heimat für Neubürger zu werden: „Polen, Türken und Italiener sind nach Gelsenkirchen gezogen, um hier ein besseres Leben zu finden und sie wurden Teil der starken Zivilgesellschaft dieser Stadt.“ Doch nun seien die Herausforderungen so groß, dass sie Gelsenkirchen, das hart von der Deindustrialisierung getroffen wurde und zu den ärmsten Städten Deutschland gehört, überfordern würde: „Mittlerweile leben 12.000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien in Gelsenkirchen.“ Viele seien Analphabeten, sie müssten mühsam davon überzeugt werden, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Für den Lebensunterhalt sorgen meist das Bürgergeld und andere Sozialleistungen. Die Stadt müht sich, sie zu integrieren, aber ihr fehlen die Mittel. Vor allem der preiswerte Wohnraum und die große, schon in der Stadt präsente Community sorgen dafür, weitere nachkommen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die für alle Bürger der Europäischen Union gilt, macht es möglich. Welge sieht da ein Problem: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht zur Sozialleistungsfreizügigkeit werden. Wer im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Gelsenkirchen kommt, muss hier auch so viel verdienen, dass er seinen Lebensunterhalt durch seine Arbeit finanzieren kann.“ Die Hälfte des städtischen Haushalts von 1,3 Milliarden Euro gibt Gelsenkirchen für Sozialleistungen aus. Das Geld fehlt für Investitionen. Dass die, richtig eingesetzt, etwas bringen, kann man in Ückendorf sehen: Dort wurden Häuser renoviert, Studenten zogen in das Quartier Kneipen, Restaurants und Galerien haben eröffnet. Die Entwicklung steht an ihrem Anfang, aber die ersten Erfolge machen Mut.  Welge hat ihre Vorschläge an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geschickt und deutlich gemacht, dass der Bund rechtlich neu festlegen muss, was es bedeutet, ein Arbeitnehmer zu sein und dass es nicht angeht, diesen Status durch eine Nebenbeschäftigung zu erreichen.

Duisburgs OB Sören Link sieht es genauso wie seine Gelsenkirchener Amtskollegin. Er ist schon lange dafür, dass die EU-Freizügigkeit nur dann gelten soll, wenn ein Arbeitnehmer ohne staatliche Leistungen auskömmlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist. „Alles andere geht zu Lasten der Sozialsysteme und bringt on top die Zugewanderten in prekäre Wohn- und Arbeitsverhältnisse.“

Link und Welge haben NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach auf ihrer Seite: „Arbeitsverhältnisse, die nur geschaffen oder aufrechterhalten werden, um unter dem unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff in andere Mitgliedstaaten zu ziehen,“ sagt sie der Welt am Sonntag“,  mit dem Ziel den Lebensunterhalt durch die sozialen Leistungen des Aufnahmestaates zu sichern, sind missbräuchliche Praktiken, die es zu beenden gilt.“ Scharrenbach fordert vom Bund eine rechtliche Klarstellung, damit das Arbeitnehmerfreizügigkeitsprivileg nicht mehr missbraucht werden kann. “  Ihr Ministerium arbeitet mit Kommunen, wie Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen und anderen seit Jahren eng in dem Themenfeld Südosteuropa zusammen und unterstützt sie dabei unerwünschte Armutszuwanderung aus EU-Staaten zu unterbinden. Was allerdings rechtlich bislang kaum möglich ist.

Ott ist sich nicht sicher, ob eine Verschärfung der Aufenthaltsregeln nicht gegeben geltendes Recht verstößt. Ihm ist vor allem wichtig, dass die Menschen in Arbeit kommen und so viel verdienen, dass sie davon leben können: „Bei Krupp oder auf der Zeche galt der schöne Satz: „Kumpel ist, wer mit anpackt. Für die Integration ist entscheidend, dass die Menschen eine vernünftige Arbeit bekommen.“

Ibrahim Yetim Foto: Laurin

Doch es geht nicht nur um vernünftig bezahlte Jobs, auch die Lebensverhältnisse, die Häuser und das Wohnumfeld müssen sich ändern, damit Integration gelingen kann.  In Duisburg will dafür vor allem das vom Initiativkreis Ruhr, dem Zusammenschluss der großen Revierkonzerne wie Thyssenkrupp, Vonovia und Eon, gestartete Projekt „Urbane Zukunft Ruhr“ sorgen. Häuser sollen renoviert und Parks verschönert werden. Für den Initiativkreis ist Hochfeld ein Reallabor. Hier will man zeigen, wie man Problemstadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit zu attraktiven Quartieren umwandeln kann, ohne die alten Bewohner zu verdrängen. Zumindest nicht alle, denn Ibrahim Yetim, einer von zwei Geschäftsführern von Urbane Zukunft Ruhr kennt das Viertel gut: „Wir haben hier die höchste Dichte an Barbieren im ganzen Ruhrgebiet“, erklärt er, während er Ott durch den Stadtteil führt. Und klar ist, dass es dabei auch um Geldwäsche und nicht um Nassrasuren geht. Yetim saß bis 2023 für die SPD im Landtag in Düsseldorf. Nun packt er mit an, um Hochfeld nach vorne zu bringen. Zum Beispiel durch den Umbau eines alten Bürogebäudes, das von Krupp nach dem Krieg gebaut wurde, dann von Siemens genutzt wurde, bevor es jahrelang leer stand. Yetim steht vor dem Zaun hinter dem das Haus liegt. Die Türen sind zugemauert, auf dem Vorhof liegt Schutt. Doch das scheint der Geschäftsführer nicht zu sehen, er sieht die Zukunft: „Die Stadt hat das Haus gekauft, die Bausubstanz ist gut. Wir wollen im Untergeschoss eine Kindertagesstätte aufbauen und Beratungsangebote für Mütter schaffen.“ Im Rest des Hauses soll etwas „Kreatives“ untergebracht werden. Was weiß selbst Yetim nicht, aber er strahlt Begeisterung und Optimismus aus. Beides kann Hochfeld gut gebrauchen.

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag

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