Einzelzimmer mit Mehrblick – Philosophien des Alleinreisens

Was bedeutet Alleinreisen im Gegensatz zum Gemeinsamreisen? Das ist die Grundfrage des neuen Travel Episodes-Bandes „Über die Lust am Alleinreisen“, in dem knapp 20 Autoren über ihre besonderen Alleinreiseerlebnisse weltweit schreiben, vom Nahen Osten über Australien, Indien, Korea, indonesien, Portugal, Spanien, Kosovo, Italien Kambodscha, Namibia, Kenia querbeet um den Äquator. Ein paar Leseeindrücke ausgewählter Artikel.

Nur alleine bin ich frei
Den Opener macht die Düsseldorfer Reisebuchautorin Nadine Pungs: Sie geht von der Hypothese aus „Wer alleine reist, sieht mehr von der Welt.“ Und sie beschreibt das Brüllen der Welt seit ihrer Rückkehr aus der Wüste, nach dem Schweigen des Wadi Rum, durch dass sie zwei Tage lang mit einem Beduinen ritt. Jordanien bewegt sie und sie spürt den Wachstumsschmerz, weil das Herz sich weitet. Das passiert nur beim Alleinreisen, die Wannabe-Weltenbummler in der Gruppe bleiben davon ausgeschlossen.
„Also lass dich ein! Gib die Kontrolle ab, bewege dich raus aus der Komfortzone, mach’s im Alleingang. Scheitere. Dann erlebst du Intensität.“
Natürlich sieht die Autorin auch die Nachteile:
„Und schließlich ist da noch die Einsamkeit, die jedem Alleinreisenden nachläuft, wie ein räudiger Hund. Zuweilen wünsche auch ich mir einen Gefährten. Jemand, der meine Unruhe glattstreichelt und verspricht, dass alles gut wird. Doch da ist niemand. Weil ich es so wollte.“
Alleinreisen ist ambivalent, es ist überhaupt nicht einfach und es erfordert sehr viel Mut, das gilt für Frauen wie Männer gleichermaßen. Was gewinnt der oder die Alleinreisende durch die spezielle Form des Alleinreisens? „Diese Vollkommenheit des Augenblicks gehört nur mir. Deshalb reise ich allein. Nur alleine bin ich frei.“
Subjektiv betrachtet der Artikel, der sich am intensivsten mit der Philosophie des Alleinreisens auseinandersetzt. Grandios.

Höllenritt auf dem Vulkan
Martin Zinggl will es echt wissen, der Wahnsinn treibt ihn auf den Vulkan Rinjani, der auf der indonesischen Insel Lombok knapp 4000 Meter in den Himmel ragt:
„Ich bin weder sportlich, noch bergaffin, außerdem nicht religiös und schon gar kein Hindu. Aber das Wort ‚Höllenritt‘ reizt mich: an meine Grenzen gehen.“
Bei Zinggl ist es eine andere Art der Einsamkeit, die ihn zum Alleinreisen drängt, er schleppt Liebeskummer mit sich herum, von dem er sich durch die Bergbesteigung zu befreien erhofft. Der Bergführer Katot, soll ihm dabei helfen. Das Frühstück, Mittag- und Abendessen während der Tour ist gleichbleibend Mie Goreng, Instantnudeln mit Ei, Zwiebeln, Kohl und Karotten. Erste Verunsicherung „denn einige Wanderer kommen uns entgegen. Manche von ihnen sehen aus, als wären sie dem Teufel persönlich begegnet“. Abend am Kraterrand 2650 Meter über dem Meeresspiegel:
„Zelte und Menschen so weit das Auge reicht. Im Minutentakt treffen Leute ein, als gäben hier oben die Rolling Stones ihr Abschiedskonzert. Wieder Lärm, Toilettengestank und Müllberge.“

Die touristische Müllproblematik spielt in dem Artikel eine wichtige Rolle; der Anbieter Green Rinjani hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Vulkan ein bisschen Leben zu spenden, Bäume zu pflanzen und Müll einzusammeln.

Mit zunehmenden Höhenmetern der Tour steigt der Höllenrittfaktor im Sinne einer steil ansteigenden Kurve:
„Ich verfluche die Idee, zum Gipfel aufgebrochen zu sein. Am liebsten möchte ich umkehren, doch einem inneren Drang folgend mobilisiere ich die letzten Kraftreserven und gehe weiter.“
Weitergehen, über die eigenen Grenzen hinausgehen, sich im Bergsteigen entgrenzen, über sich hinauswachsen, um nichts anderes geht es:

„Meine physische Grenze ist erreicht, wie bei vielen meiner Mitstreiter. Um mich herum kauern in sich versunkene und bewegungsunfähige Männer und Frauen. Sie brabbeln Unverständliches, wimmern vor sich hin. Mehr und mehr Wanderer drehen um, um kehren zum Zeltlager zurück.“
Auf dem Gipfel angekommen, die Erkenntnis der Vergeblichkeit, Sichtweite keine zehn Meter, nichts als eine weiße Wand. Der Bergführer Katot hat ein schlechtes Gewissen, weil die Strapaze nicht belohnt wurde: „Du hast wirklich Pech. Diesen Monat ist das der erste bewölkte Morgen. Die Götter sind nicht auf deiner Seite.“
Erinnerungsfoto am Gipfelschild, Abstieg zum Lager am Kraterrand, Mie Goreng. Während der Rückkehr ein Fieber, 40,1 °C., der Bergführer bringt Zinggl noch in ein Hotel:
„Schweißüberströmt erwache ich siebzehn Stunden später aus meinem Fieberschlaf und fühle mich wie vom Vulkan ausgespuckt. Erschöpft öffne ich die Zimmertüre und blicke von der Terrasse auf den Gipfel des Rinjani, der sich bei klarer Sicht im Sonnenschein präsentiert. ‚Biest‘, murmle ich.“

Martin Zinggls Artikel „Im Schoss der Götter“ beweist, wozu richtig gute Reisereportagen in der Lage sind: Durch sein Wissen, seine persönliche Erfahrung und seine brillante und drastische Sprache nimmt er den Leser mit auf den Vulkan Rinjani, so dass der die Strapazen beim Lesen förmlich mitspüren und die Motivation, warum sich Menschen das freiwillig antun, nachvollziehen kann.

Dieser Moment gehört nur mir allein
Ariane Kovac macht den Topos des Alleinreisens an einer Situation in Lissabon fest, in der sie nach langer Hitzewelle in einen Regenguss gerät:
„Man sieht den Menschen die Freude an. Als hätte sie der Regen von einer zehnjährigen Dürreperiode erlöst. Der Moment ist einzigartig, besonders schön. Mir fehlen die Worte und gleichzeitig habe ich so viel im Kopf. Ich kann das nicht erzählen, nicht erklären, und alles, was mir fehlt, ist jemand, um diesen Augenblick zu teilen. Ob zum gemeinsamen Unterstellen oder zum Im-Regen-Tanzen, ganz egal.
Ich weiß, ich kann die Stimmung, die ich gerade empfinde, das Herzklopfen, die überschwängliche Melancholie, dieses schwere Glück nicht in Worte fassen. Dieser Moment ist jetzt, er wird niemals wiederkehren und er gehört nur mir allein. Wie schön das ist, und wie traurig.“

Trauer- und Spendenreise
Eine Sonderstellung nimmt die Geschichte von Karin Lochner ein; die Autorin macht sich mit mehreren Tausend Euro Bargeld auf die Reise, um diese Spenden nach Kenia zu bringen.
„Als ich Nettis Wohnung ausräume, stoße ich auf einige Ordner mit säuberlich abgehefteten afrikanischen Patenschaften darin, die sie seit Jahren vermittelt hat. Dutzende Kinder lachen mich von den Fotos an. Ich wusste nicht, dass es so viele sind.“
Die sechs Jahre jüngere Schwester der Autorin ist verunglückt. Von den Trauergästen wünschen siech Schwester und Eltern keine Kränze, sondern Spenden für Afrika. Nun macht sie sich nach der Beerdigung als Überbringerin auf die Reise zu den Kindern. Das bedeutet, dass die Autorin einerseits in einer sehr einsamen Situation ihre Reise antritt, denn diese steht unter dem Stern ihrer verlorenen Schwester, gleichzeitig ist sie aber vor Ort in Gesellschaft von Brother Florence, einem Mönch der Ordensgemeinschaft Christian Brothers. Er nimmt sie mit zu seiner Arbeit in den Mukuru-kwa-Njenga-Slum, einem der größten Slums von Nairobi, in dem 100.000 Menschen leben.
Die Beschreibung der Autorin ist sehr packend, weil der Leser das Gefühl bekommt, dass die verstorbene Schwester Netti die ganze Reise über anwesend ist.
„Als ich in Nairobi nur mit Handgepäck in das Flugzeug steige, begleitet mich das tröstliche Gefühl, meiner Schwester noch einmal ganz nahe gewesen zu sein. Ich habe ihre Patenschaften verlängert und die Orte gesehen, die ihr viel bedeutet haben.“
Keine normale Reise, eher eine sehr intensive Trauer- und Abschiedsreise.

Adriane Lochner beschreibt in ihrem Artikel „Bei den Nashornmännern“ ihre Reise durch den Nairobi-Nationalpark, wo sie die Ranger kennenlernt, die täglich ihr Leben riskieren, um bedrohte Nashörner vor Wilderern zu schützen.

Anna Zirner überquert zu Fuß und nur mit einem Rucksack bepackt von Ost nach West die Alpen, vom slowenischen Ljubiljana über Österreich, Italien und die Schweiz bis ins französische Grenoble. Ihr Bericht ist sehr körperbetont.
„Mein Körper entfaltet ganz neue, ganz eigene Kräfte. Voller Staunen spüre ich, wie sich alle Fasern verändert haben.“
In den Alpen lauert die Gefahr im Fels; Zirner rutscht mehrmals ab, der Fels zerbröckelt zwischen ihren Fingern, sie rutscht einen Hang hinunter, kann sich reflexartig abfangen und den Absturz verhindern. Eine sehr physisch-köerperliche Beschreibung der Alpenüberquerung und eine mögliche Antwort auf die Frage, was es mit dem Körper macht, wenn das Herz sich anschickt, reale Gipfel zu überwinden.

Fazit
Die Autoren legen mit ihren ausnahmslos hochkarätigen Beiträgen „Über die Lust am Alleinreisen“ allesamt ein kleines Organon über die Philosophien des Alleinreisens vor, die in ihrer Sprache von der tiefen Herzensliebe der Autoren zum Reisen zeugen. Und so unterschiedlich die verschiedenen Artikel in dem Band zum Thema Alleinreisen sind, so unterschiedlich funkeln sie als kleine reiseliterarische Diamanten und es ergibt sich ein ganz großartiges Kaleidoskop zum Thema Alleinreisen. Das abschließende Verzeichnis listet die Autoren mit Kurzbiografien und – sofern vorhanden – ihren Reiseblogs auf, was sehr hilfreich für diejenigen Leser ist, die durch die Lektüre Lust bekommen haben, sich mit den einzelnen Reiseprofis auseinanderzusetzen und von ihren Erfahrungen, Reiseempfehlungen und praktischen Tipps zu profitieren. Ein Vademecum für angehende Alleinreisende und solche, die es werden wollen.

Uneingeschränkte Leseempfehlung.

Johannes Klaus (Hg.): The Travel Episodes. Über die Lust am Alleinreisen.
München 2019
256 Seiten, NG Taschenbuch
ISBN-13: 978-3492405003
Taschenbuch € 15,00 / Kindle 12,99 €

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Arnold Voss
Arnold Voss
5 Jahre zuvor

Man kann sich auch in einer nahe gelegenen Shopping Mal herrlich allein fühlen und zugleich an seine Grenzen kommen. Aber eine solche Geschichte ließe sich wohl nur gewinnbringend als Reiselektüre verkaufen, wenn Greta das Vorwort schreiben würde. 🙂

Helmut Junge
5 Jahre zuvor

Mit einem Vorwort von Greta bekommt man sowieso die Absolution auf Erden.

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