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„Nur wir haben überlebt“ – Boris Zabarkos ukrainische Zeugen

Synagoge Bochum. Foto (Detail) Frank Vincentz CC BY-SA 3.0


Morgen jährt sich der Tag, an dem das Vernichtungslager Auschwitz befreit worden ist. Ein offizieller Gedenktag in Deutschland seit 1996, seit 2005 weltweit, Titel: „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ oder, dies die internationale Variante, „des Holocaust“. Beide Titel gehen hinweg über die, um die es gehen sollte  –  alle, die von den Nazis zum „Opfer“ designiert worden sind, die sich aber gewehrt habn gegen diese Bestimmung.
Einige haben überlebt, unter ihnen Kinder. Boris Zabarko, ukrainischer Historiker, hat Zeugenberichte zusammengetragen, sie sind erschütternd.

Der Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Ukraine begann Herbst 1939 mit dem deutschen Krieg gegen Polen und radikalisierte sich zwei Jahre später mit dem Angriff auf die Sowjetunion. Ende 1942 waren fast alle Juden in der Ukraine  –  1,5 bis 1,6 Millionen Menschen  –  ermordet. Wie alle Historiker versucht Boris Zabarko, international hoch geachtet, das, was geschehen ist zu begreifen, indem er es beschreibt. Wie kein Historiker vor ihm, ausgenommen Saul Friedländer, beschreibt er dies mit der Erfahrung derer, die hätten ermordet werden sollen. Und die gesehen haben, wie gemordet wurde, es ist seine eigene Erfahrung: Als Kind hat Zabarko, der vor einem Jahr vor Putins Armee nach Stuttgart entkam, das Ghetto in Scharhorod überlebt. Und hat, als die Sowjetunion zerfiel und ihm dies überhaupt erst möglich wurde, nach weiteren Zeugen gesucht, die entkommen sind. Hat sie befragt, die damals Kinder waren oder Jugendliche und ihre Erinnerungen aufgeschrieben, 86 Zeugenberichte in Zabarkos ersten Werk, 216 in seinem zweiten.

Übersetzt, bearbeitet und herausgegeben haben die Werke Margret und Werner Müller, das Kölner Ehepaar hatte Zabarko 1996 kennen gelernt und sich dieser editorischen Großleistung verschrieben: Ihr gemeinsam herausgegebenes Werk ist historiographisch grundlegend, aber ebenso literarisch. Wolfgang Benz hat es seiner „Monumentalität“ wegen mit Shoah verglichen, dem 9 ½ stündigem Dokumentar-Film von Claude Lanzmann. Der Vergleich ist angemessen, Vergleichspunkt allerdings ist weniger „Monumentalität“ als Ästhetik: Lanzmanns Shoah gilt als eines der größten Werke sowohl der Historiographie wie der filmischen Kunst, weil er nicht vorgibt zu erklären und nicht suggeriert, man könne verstehen. Shoah ist ein visuelles Werk über das, was sich nicht sehen lässt in einer Sprache, die radikal entsakralisiert: „Der Film bringt Menschen zum Sprechen, die nicht sprechen konnten“, sagte Lanzmann über seinen Film, es ist ein Satz, den Boris Zabarko über seine Bücher sagen kann. Beide haben sie Erinnerung nicht gesammelt, sondern ermöglicht, weil sie eine ästhetische Form gefunden haben: keine Anekdoten, keine Ausschmückung, keine Bilder aus dem Archiv. Ein paar Erklärungen, ein paar Zahlen, nirgends ein allwissender Erzähler, der einen an die Hand nähme und durch die Schrecken begleitete. Beide haben sie die Zeugen in Szene gesetzt und deren Zeugnis ins Recht, mündliche Reden, Dramen ohne Dramaturgie. Unsagbares, das gesagt wird und gehört.

Und dabei legen sich  –  auch dies ist in Zabarkos Büchern wie in Lanzmanns Film  –  Bilder der Gegenwart über die Berichte, die von dem handeln, was acht Jahrzehnte früher geschah. Zabarko selber ist, dies als Beispiel, in Kalyniwske geboren in der Nähe von Cherson, man liest den Namen der Stadt, und im selben Moment ist klar, dass wir sie kennen und die Dörfer rundherum und die Landschaft, die sie formen, Putins Armee hat sie zerschossen und überrollt, die Ukrainer haben sie im November befreit, hier verläuft die Front zwischen Freiheit und Tyrannei. An welcher Stelle auch immer man eines der Bücher aufschlägt: Die Namen der Orte, aus denen die Erinnerung erreicht, stellen konkrete Bilder vor Augen, vergangen ist diese Vergangenheit nicht.

Und spätestens jetzt werden einem, wenn man Zabarko liest, einige Dinge klar, ein Erstes:

An allen diesen Orten, an denen gemordet wurde, gab es keine Fabriken, in denen gemordet worden wäre. Kein industrielles Massenmorden, es waren Hunderttausende einzelner Entscheidungen, getroffen von „ganz normalen Männern“, unfassbar kleinteilig, ortsgenau, präzise. Es war, darüber können sich linksgelernte Theoretiker den Kopf zerbrechen, ein Zurück in die vorindustrielle Zeit, eine Reanimation der heute wieder hoch geschätzten Manufaktur. Keine Chance, seiner eigenen Hände Arbeit an einen anonymen Produktionsprozess zu überstellen.

Ein Zweites: An diesen Hunderten Orten in der Ukraine ist der jüdische Widerstand entstanden. Der 5jährige Boris Zabarko, in das Ghetto von Scharhorod gezwungen, einem Städtchen, das in Gänze zum Ghetto geworden war  –   der 5Jährige war 8, als er frei kam, er hat die schwere Arbeit, die er als Kind leisten musste, überlebt, hat den Hunger überlebt, den Typhus, die Kälte. Der 12jährige Jakow, der ewige Monate durch eine Landschaft irrte, die keinen Schutz geboten hat, weil kaum bewaldet. Die 9jährige Nelli, die sich aus dem Massengrab, in das sie und ihre Familie geschossen worden waren, herausarbeitet … sie und die vielen anderen Kinder haben nicht „überlebt“, wie man es von Opfern eines Verkehrsunfalls sagt, sie haben überlebt, weil sie dem Terror widerstanden haben.

Kriegskinderheim der Bochumer Ukrainehilfe am 8. Januar, dem Tag seiner Evakuierung. Foto: Ivan Stuckert

Daraus folgt ein Drittes: Der „Tag des Gedenkens an die Opfer“ ist ein Tag, an dem es darum gehen muss, diesen Widerstand zu ehren. Als Gedenktag wurde der 27. Januar in Deutschland just in dem historischen Moment eingeführt, als Tausende Juden nach Deutschland einwanderten aus eben jenen Ländern, in denen sie dem Nazi-Morden widerstanden haben. Eine irritierende Unmöglichkeit, dass ausgerechnet sie, die sich nach langen Jahren im Land ihrer Mörder niederlassen, erneut als „Opfer“ designiert werden, sie sind unsere Befreier. Dies öffentlich deutlich zu machen, ist keine Bagatelle, es wäre Tagespolitik: Der sog. sekundäre Antisemitismus  –  auch Antisemitismus nach oder wegen Auschwitz genannt  –  lebt von der Täter-Opfer-Umkehr, baut also auf dem Opfer-Status auf, den die Nazis den Juden verliehen haben und den Juden heute  –  so denkt es im antisemitischen Kopf  –  ausnutzen würden, um alle Welt moralisch zu erpressen usw. Man könnte diese Denke den Paulskirchen-Impuls nennen oder das Günter-Grass-Syndrom, man könnte denken, es hätte sich generationell erledigt. Umso weniger erklärlich, warum diese Designation der Juden als Opfer demokratisch verlängert wird. Die Opfer des Holocaust sind keine, ohne Befreier zu sein, mit den Worten von Boris Zabarko: „Wir retteten uns aus dem Tod ins Leben.“ Wir. Uns.

Ein Viertes: In der Ukraine gab es viele, die geholfen haben. Es gab ukrainische Nazis, auch sie nicht wenige, aber eben –  anders als in Deutschland  –  haben viele Nichtjuden Juden geholfen einfach deshalb, weil sie Nachbarn waren. Weil sie nebenan gewohnt haben oder ein paar Herzschläge weiter und nun ihre Nachbarskinder versteckt und ernährt haben und, wenn es gut ausging, gerettet. „Das ganze Dorf versteckte unsere Mutter“, berichtet die damals 4jährige Ewgenija aus dem Dorf Orepy in der nördlichen Ukraine, „wir Kinder versteckten uns überall … die Menschen halfen uns, wie sie nur konnten“. In der Familie Murachowskaja wird das Dorf Cholodowka als „das Dorf der Gerechten“ erinnert: „Fast alle seine Einwohner versteckten oder unterstützten Juden …“ Zabarko ist auf „Hunderte und Tausende“ solcher Erinnerungen gestoßen an „edle Menschen“, die  –  man muss es sich klar machen  –  „ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Kinder“ riskierten, um das Leben jüdischer Kinder zu retten. Es gibt eine Dankbarkeit in der Welt, die nicht weiß, an wen sie sich wenden soll, weil diese Menschen allzu oft unbekannt und namenlos geblieben sind: „Ich verneige mich“, sagt Tamara, die 5 Jahre alt war, als das Morden vorbei war und das Leben weiterhin schwer, „ich verneige mich vor unseren Nachbarn, die mit uns eine Scheibe Brot und eine Schüssel Suppe teilten“.

Genau so, dies der fünfte Punkt, ist Europa entstanden, es muss so gewesen sein. So vereinzelt, so verirrt, so verlassen wie diese Kinder es waren, von denen Zabarko berichtet. So vereinzelt, so verirrt, so verlässlich wie die Solidarität von Menschen, die sich als Nachbarn verstehen, genau so ist Europa gegründet worden. Keine Römischen Verträge, von Staatspräsidenten unterschrieben, sondern Zeugnisse von Überlebenden, von Boris Zabarko dokumentiert.

Ein Letztes: Diese Bücher lassen sich nicht lesen, wie man ein Buch liest, eher wie ein Kalendarium. Täte man es  –  jeden Tag ein Zeugenbericht, am 7. Tage sollst du ruhen  –  ergäbe sich ziemlich genau ein Jahr, die Frage ist: Blickten wir anders in die Welt, wenn wir diese Erinnerung nicht an bestimmte Tage delegierten und an bestimmte Stunden, sondern sie zu unserem Alltag machten, zum täglichen Begleiter? Es würde zum Selbstversuch: Wie erinnerten wir, wenn wir erinnern wollten?

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Heute ab 16:30 Uhr lädt der Klub Stern zur Gedenkstunde in die Synagoge Bochum ein.

Im Klub Stern haben sich Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen organisiert, die als Kinder ihrer Ermordung entkommen sind. Ab 16:30 Uhr werden die Namen der Bochumer Bürger gelesen, die aus Bochum in den Tod deportiert worden sind. Im Anschluss erinnert Felix Lipski an den Holocaust in der Ukraine.

Die Teilnahme an dem Gedenken ist frei. Es findet heute, am Vortag statt, weil der 27. Januar in diesem Jahr auf den Schabbath fällt.

Synagoge Bochum
Erich-Mendel-Platz 1 | 44791 Bochum

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Cover Dittrich-Verlag

 

Boris Zabarko: Nur wir haben überlebt. Holocaust in der Ukraine, Zeugnisse und Dokumente. 2. Auflage 2016, 580 Seiten, ISBN 9783943941647

Margret Müller/Werner Müller/Boris Zabarko (Hrsg.): Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse von Überlebenden. 1. Auflage 2019, 1152 Seiten, ISBN: 978-3-86331-475-0

 

 

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