Russische Geschichtsklitterung und der 9. Mai

Sergei Lawrow  Foto: 15th BRICS SUMMIT Lizenz: Gemeinfrei

Auf die Frage eines Reporters des russischen Propagandasenders Rossija 1, wie es möglich sei, dass die Europäische Union den einzelnen Führern der europäischen Länder verbieten könne, an den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau teilzunehmen, antwortete der russische Außenminister Sergei Lawrow unter anderem: „Die Europäische Union ist ganz offen bestrebt, die Ideologie des europäischen Nazismus wiederzubeleben.“ Es handele sich um eine Ideologie, die Europa zerstört habe, die von Russland bekämpft worden sei und die vom Nürnberger Tribunal verurteilt und verboten worden sei. Diese Ideologie dürfe nicht wieder ihr Haupt erheben, sie müsse vernichtet werden. Und Russland müsse dafür sorgen, dass Europa zu seinen Werten zurückkehre.

Diese absurde Behauptung über die „Wiederbelebung des europäischen Nazismus“ in der EU dient dem Zweck, die russische Bevölkerung zu verunsichern und historische Ängste zu schüren. Auch Putins Rhetorik und die Propaganda in den russischen Massenmedien über die Nazis in der Ukraine sowie die „Wiedergeburt des Nazismus“ in den baltischen Staaten und in Europa dienen dazu, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu rechtfertigen.

Auch in diesem Jahr wird die Europäische Union keine offizielle Delegation am 9. Mai nach Moskau zu den Siegesfeierlichkeiten über Nazideutschland vor 80 Jahren entsenden. Die EU hat seit der Krim-Besetzung im Jahr 2014 mehrfach ihre Teilnahme an den jährlich am 9. Mai in Moskau stattfindenden Feiern mit einer Militärparade verweigert. Nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine 2022 und den bekannt gewordenen russischen Kriegsverbrechen haben die EU-Länder beschlossen, ihre Teilnahme bis zum Friedensschluss auszusetzen.

In diesem Jahr hat die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder und die Beitrittskandidaten der EU ausdrücklich gebeten, angesichts des andauernden russischen Angriffskriegs in der Ukraine nicht an den Feierlichkeiten in Moskau teilzunehmen. Eine Teilnahme würde nicht als Bagatelle betrachtet. Frau Kallas empfahl, Solidarität zu zeigen und am 9. Mai nach Kiew zu reisen. Möglicherweise war diese Empfehlung an die EU-Regierungschefs der Anlass für Lawrows Tiraden über das „Wiederbeleben des europäischen Nazismus“.

Moskau hat etwa zwanzig Staats- und Regierungschefs zu den Feierlichkeiten am 9. Mai eingeladen, darunter den seit knapp einem Jahr regierenden slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico. Auch der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der serbische Präsident Aleksandar Vučić (er bringt sogar eine kleine Militärabordnung für die Parade mit) nehmen teil. Beide Länder streben in die EU.

Aus der Europäischen Union wird wohl nur der rechtspopulistische slowakische Ministerpräsident Robert Fico teilnehmen. Seine Reise nach Moskau ist in der Slowakei mehr als umstritten und unerwünscht. Viele Menschen erinnern sich immer noch sehr genau an die sowjetische Okkupation der damaligen Tschechoslowakei im August 1968. Nicht nur den Zeitzeugen, sondern auch der jüngeren Generation sind die damaligen Ereignisse sehr wohl bewusst.

Viele Beobachter hat überrascht, dass der ungarische Russlandfreund Viktor Orbán nicht nach Moskau eingeladen wurde. Eine offizielle Erklärung dafür gibt es nicht. Es wird vermutet, der einzige Grund liege darin, dass Ungarn während des Zweiten Weltkriegs an der Seite Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft hatte. Pikanterweise hat man in Moskau anscheinend „übersehen“, dass auch der klerofaschistische Slowakische Staat während des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit Deutschland gegen die UdSSR gekämpft hat.

 

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