Mein Vater kämpfte als Wehrmachtssoldat und -offizier im Zweiten Weltkrieg an vielen Fronten. Seine unbewältigte NS-Vergangenheit hat auch mein Leben geprägt. Wie das viele Nachkriegskinder und -enkel der Mittäter und Opfer.
Ich bin nicht nur ein Kriegskind, ich bin auch ein Kriegsenkel. Aufgewachsen im Rheinland Ende der restaurativen Fünfzigerjahre und in der Auf- und Umbruchzeit der Sechziger- und Siebzigerjahre, als die Aufarbeitung der NS-Geschichte und die gesellschaftliche wie persönliche Auseinandersetzung mit der Täter- und Mitläufergeneration begann, kämpfe ich bis heute mit der deutschen Kriegsvergangenheit, die ein wichtiger Teil auch meiner Familiengeschichte ist.
Mein Großvater, 1875 geboren, war preußischer Offizier. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg für den letzten deutschen Kaiser. Danach wurde er in seiner Heimatstadt Köln Beigeordneter unter Konrad Adenauer, dem späteren Gründungskanzler der Bundesrepublik. Als Adenauer kurz nach Hitlers Machtergreifung 1933 als Oberbürgermeister abgesetzt wurde, sollte mein Opa die Stadt an den NS-Gauleiter übergeben. Als Nazigegner weigerte er sich, sie dem „braunen Pöbel“ auszuliefern und wurde daraufhin ebenfalls entlassen. Er starb verbittert im April 1939, fünf Monate bevor der neue Krieg begann.
Mein Vater, Hermann Greven, schlug einen ähnlichen und doch gänzlich anderen Weg ein. Er wurde im April 1915 geboren, neun Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs, also unmittelbar vorher gezeugt. Bei uns zu Hause stand eine Schwarte eines Nazi-Heimatdichters, der an einer Textstelle eine Anekdote aus dem Leben meines Vaters aufgegriffen hatte. An Festtagen zog mein Vater dieses Buch heraus, das an einer Stelle bereits von selbst aufklappte.
Immer wieder las er die gleiche schwülstige Passage vor: Meine Oma hatte erfahren, dass ihr Mann an diesem Tag mit seiner Einheit von der Ost- an die Westfront verlegt wurde. Darum stand sie nächtens an der Kölner Hohenzollernbrücke und präsentierte ihm im vorbeifahrenden Truppenzug meinen Vater, das gerade geborene jüngste von acht Kindern – Futter für den nächsten Krieg.
Sechs Jahre Grauen in 20 Zeilen
1933, „im Jahr des Heils“, wie mein Vater Jahrzehnte später in autobiografischen Aufzeichnungen notierte, machte er Abitur und absolvierte den Freiwilligen NS-Arbeitsdienst. Nach einer Banklehre meldete er sich zum Wehrdienst, erst für ein Jahr freiwillig, ein weiteres Jahr zwangsrekrutiert, und studierte anschließend in Berlin BWL.
Am 26. August 1939, wenige Tage vor Kriegsbeginn, wurde er eingezogen. „Zuerst in Köln bei der Luftabwehr des Flugplatzes Butzweilerhof“, hielt er in einer Notiz fest, „später beim Vormarsch im Westen bei einer Baueinheit.“ In Belgien und Nordfrankreich errichteten sie Feldflugplätze. „Danach wieder Flak im belgischen Kohlerevier bei Mons, in Dünkirchen, am Cap Gris Nez, in Dieppe, Beauvais und Antwerpen“, vermerkte er knapp. Und: „Versetzung zur Ostfront, neue Einheit zusammengestellt in der Senne, im letzten Augenblick neues Kommando: Nicht an die Ostfront, sondern in den hohen Norden, nach Norwegen.“ Schließlich sei er 1944 im Norden abgelöst und an die Südfront nach Italien geschickt worden, „dann doch noch an die Ostfront – jetzt schon in Polen, Memel, Ostpreußen, Verwundung, Lazarett, im April 1945 wieder an die Front bis zum Kriegsende, seit 1943 als Oberleutnant.“
In nur 20 Schreibmaschinenzeilen hielt mein Vater in dieser Notiz knapp sechs Jahre fest, die er als Soldat, Offizier und NSDAP-Mitglied in einem verbrecherischen Eroberungskrieg erlebt hatte. Er hatte es aufgeschrieben als Teil einer launigen Selbstdarstellung zu seinem 70. Geburtstag – für einen Stammtisch seines Männerheimatvereins.
Er schrieb darin über sich in der dritten Person, als „Hermann“. Als wäre er es nicht selbst gewesen. Was er an all den Kriegsfronten und als Besatzer in Norwegen erlebt und erlitten, wie viele Menschen er getötet hat, ob er womöglich in Polen 1944 an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands und an Judenerschießungen beteiligt war, ob er überzeugter Nazi war und aus dieser Überzeugung für den „Führer“ und den „Endsieg“ kämpfte: kein Wort.
Rassistische Ausbrüche
Mit mir und meinen Geschwistern hat er nie über seine Kriegszeit gesprochen, so wie die allermeisten seiner Tätergeneration geschwiegen haben. Er erzählte nur immer wieder, wie er 1945 nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft nach Köln zurückkehrte und dort nichts als Trümmer vorfand. „Ich konnte vom Ring aus den Dom sehen!“, sagte er jedes Mal voll Entsetzen. „Da stand kein einziges Haus mehr, alles von den Briten zerbombt.“
Die Trümmer seiner Heimatstadt und des gesamten „Dritten Reichs“ waren auch die Trümmer seines jungen Lebens. Damals stand er wie das ganze Land und die Überlebenden vor dem Nichts – und der Mitschuld an diesem Krieg. Einem Krieg, der über die ganze Welt Unheil, Verderben und Tod gebracht und auch ihn verwundet und im Innersten zerstört hatte. Und in dem die Nazis sechs Millionen europäische Juden sowie weitere Millionen Menschen in den von Deutschland besetzten Gebieten ermordeten.
Aber er begrub das alles in sich. Denn nun galt es, eine neue Existenz aufzubauen. Er schrieb in der dritten Person über sich: „Er beendet sein Studium als Diplomkaufmann, hungert wie alle anderen und fängt dann seine Berufstätigkeit in Bad Ems als Rechnungsführer des dortigen Blei- und Silberbergwerks der Stolberger Zink an.“ Dort lernte er meine spätere Mutter kennen, heiratete sie 1947. Fünf Kinder zeugte er mit ihr und wurde als braver Katholik CDU-Mitglied und Wirtschaftsprüfer in einem Genossenschaftsverband. Er schaffte es, sich in der jungen Bundesrepublik bescheidenen Wohlstand aufzubauen, mit Doppelhaushälfte, Auto, sonntäglichem Kirch- und Familienspaziergang.
Ab und zu brach es noch immer aus ihm heraus. Dann schimpft er über die „Tommys“, die „Besatzer“ in der benachbarten britischen Offizierssiedlung. Über „Japsen und Itaka … , diese Versager und Verräter“, über „die Franzmänner“, den „Erzfeind“, über die „Bolschewisten, diese Untermenschen“. Die „Sozis“ waren ihm ebenso feind. Über die DDR sprach er nur als „SBZ“ und „Mitteldeutschland“. „Dreigeteilt – niemals“: diese revanchistische Losung der adenauerschen CDU war auch seine. Schließlich hatte er ja im nun „von den Sowjets besetzten“ Ostpreußen und im heutigen Polen gegen die Rote Armee gekämpft.
Erbe einer düsteren Vergangenheit
Gelegentlich kam ein Jugendfreund meines Vaters zu Besuch. Wenn der genug getrunken hatte, baute er auf dem Abendbrottisch mit Gläsern, Tassen, Tellern und Salz aus dem Salzstreuer die Front und Schützengräben nach. Dann erzählte er uns Kindern, wie er als Leitoffizier der Artillerie hinter der Front den Beschuss des Feindes ins Ziel lenkte. „Rudi, hör auf!“, rief dann mein Vater.
Hat er mit seinem Freund und anderen über den Krieg gesprochen? Hat er unter seiner Mitschuld, den Gräueln, die er erlebt haben muss, und seiner verlorenen Jugend gelitten? Hat er bereut, was er getan hat, und es vor seinem Gott gebeichtet? Ich weiß es nicht, ich ahnte es allenfalls.
Mein Vater war ein aufbrausender, herrischer Mann, der Nähe nicht zuließ und uns Kindern und meiner Mutter gegenüber selten freundliche Gefühle zeigen konnte, geschweige denn Liebe und Zärtlichkeit. Mich und meinen älteren Bruder brüllte er bei dem kleinsten Vergehen zusammen. „Hart wie Kruppstahl!“, „Ein Junge weint nicht!“, bläute er uns ein. Er versuchte, seinen großbürgerlichen autoritären Vater nachzuahmen und schaute auch sonst zu Autoritäten auf. Wohl weil er gelernt hatte, erst seinem Vater und dann Führern zu folgen. Und sein Selbstbewusstsein entsprechend klein war.
Unser Verhältnis blieb schwierig, auch als ich längst erwachsen war. Als er 1992 mit 77 Jahren plötzlich starb, stand ich lange vor seinem aufgebahrten Leichnam, weinte, trauerte und schimpfte mit ihm, weil ich noch über so vieles mit ihm hatte reden wollen, was nun für immer unausgesprochen blieb.
1995, kurz nach dem 50. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung durch die Alliierten, hat sich mein Bruder das Leben genommen. Zufall? Ich glaube nicht. Er litt wie wir übrigen Geschwister und wohl auch meine Eltern an Depressionen: Es ist das Erbe einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit, die von Generation zu Generation weitergegeben wird – solange wir uns ihr nicht stellen.
Zuerst erschienen 2019 zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf spiegel-online