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Unstatistik des Monats: Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als arm – und das wird so bleiben

Gelsenkirchen Foto: Roland W. Waniek

Weiterhin jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet, meldete das Redaktionsnetzwerk Deutschland am 13. März. Diese Meldung, die ähnliche Meldungen von vor anderthalb Jahren fast wörtlich dupliziert, wurde vielfach nachgedruckt (u.a. in WeltBildFAZ) und in den öffentlich-rechtlichen Medien verbreitet (u.a. tagesschau.deBR24ZDF). Sie ist aus verschiedenen Gründen unsere Unstatistik des Monats März. So hat etwa die hier allein am Einkommen der Eltern festgemachte Armut der Kinder noch eine Vielzahl weiterer hier nicht berücksichtigter bestimmender Faktoren, etwa das Konsumverhalten der Eltern. Was nutzt das beste Einkommen, wenn bei den Kindern nichts davon ankommt? Angreifbar ist auch das schematische Zurechnen von Extrabedarf bei wachsender Kinderzahl. Hier gibt es verschiedene sogenannte Äquivalenzskalen. Und die können dazu führen, dass bei der einen Äquivalenzskala eine Familie arm ist, bei der anderen aber nicht. Viel bedeutender ist jedoch, dass der Informationsgehalt dieser Meldung nahezu Null ist. Denn auch vergangenes Jahr war jedes fünfte Kind armutsgefährdet, das gleiche wird in einem, in zwei, in fünf und in zehn Jahren auch so sein. Warum? Weil die hier zugrundegelegten Armutsmaße so beschaffen sind, dass per Konstruktion jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet sein muss.

Kinder gelten als armutsgefährdet beziehungsweise arm (diese beiden Begriffe werden oft synonym verwendet), wenn ihre Eltern arm sind, und die sind arm, wenn das Familieneinkommen 60 Prozent des nationalen Durchschnitts unterschreitet. Bei einer gegebenen Einkommensverteilung (und die ändert sich nur langsam) ist der so berechnete Prozentsatz armer Menschen immer gleich, er liegt derzeit bei 16 Prozent für alle und bei 20 Prozent für Kinder. Letztere gehören überproportional oft „armen“ Familien an. Aber diese Prozentsätze bleiben auch bei wachsendem Einkommen immer gleich. Das heißt, wenn sich das reale Einkommen aller Familien verdoppelt oder verdreifacht, gelten nach der aktuellen Definition weiterhin 20 Prozent aller Kinder als arm.

Armutsquote sollte an Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe anknüpfen

Dieses Anbinden der Armutsquote an einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens ist die Kardinalsünde der medialen Armutsberichterstattung. Sie ist wissenschaftlich völlig unhaltbar. Wie etwa von Wirtschaftsnobelpreisträger A.K. Sen überzeugend dargelegt, muss Armut, wenn man dieses Phänomen wirklich ernst nimmt, an den Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe anknüpfen. Die gehen weit über das physische Existenzminimum hinaus, haben aber mit dem Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft allenfalls indirekt zu tun. So kann man durchaus darüber debattieren, ob ein funktionierender Zugang zum Internet für eine gesellschaftliche Teilhabe heute nötig ist. Wer den nicht hat, wäre damit arm. Der Punkt ist: ob jemand arm ist oder nicht, hängt alleine davon ab, was jemand selber kann und darf, nicht was andere können oder dürfen.

Beim Anbinden an den gesellschaftlichen Durchschnitt haben wir dagegen die perverse Situation, dass bei einem Umzug von Boris Becker oder Jürgen Klopp von England zurück nach Deutschland die Armut in Deutschland steigen würde. Der Durchschnitt der Einkommen würde wachsen (mal unterstellt, dass Boris Beckers aktuelles Einkommen immer noch den nationalen Durchschnitt übersteigt), und damit auch der Anteil derjenigen, die weniger als 60 Prozent dieses Durchschnitts verdienen. Dieser Perversion versucht man zwar, durch Verwendung des Medians statt des arithmetischen Mittels die Spitze zu nehmen (der Median ist das Einkommen, das in der Mitte liegt, also von der Hälfte unter- und von der Hälfte überschritten wird), aber es bleibt die völlig sachwidrige Option, dass die Armut durch das reicher werden gewisser Menschen zunimmt und dass man umgekehrt die „Armut“ dadurch senken kann, nicht indem man den Armen etwas gibt, sondern indem man den Reichen etwas nimmt.

Das korrekte Quantifizieren der Armut in einer Gesellschaft ist alles andere als einfach. Nicht ohne Grund hat es nach A.K Sen im Jahr 1998 vor kurzem drei weitere Nobelpreise für konstruktive Lösungsvorschläge gegeben: Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer 2019. Sicher ist nur eines: das bloße Anbinden der Armutsquote am gesellschaftlichen Durchschnittseinkommen ist der falsche Weg.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.

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Theo
Theo
2 Jahre zuvor

Der Artikel schreibt:

"Dieses Anbinden der Armutsquote an einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens ist die Kardinalsünde der medialen Armutsberichterstattung. Sie ist wissenschaftlich völlig unhaltbar. Wie etwa von Wirtschaftsnobelpreisträger A.K. Sen überzeugend dargelegt, muss Armut, wenn man dieses Phänomen wirklich ernst nimmt, an den Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe anknüpfen."

Gesellschaftliche Teilhabe ist zwar nicht nur eine Frage des Einkommens, es hat aber einen entscheidenden Einfluss. Und die benötigte Menge bemisst sich natürlich am durchschnittlichen Lebensstandard der Gesellschaft. A.K. Sen liefert also gerade die wissenschaftliche Begründung für die "Kardinalsünde" der relativen Armutsquote.

Da durch den Umzug Vermögender nach Deutschland auch der Lebensstandard steigt, ist es nur logisch, das nach dem Umzug mehr Menschen unter die Armutsdefinition fallen als vorher.

Zumindest wenn sich die Möglichkeiten der Teilhabe an dieser Lebensstandarderhöhung nicht ebenfalls durch den Umzug verbessern, wovon nicht auszugehen ist (der Artikel bezeichnet diese Möglichkeit sogar als "sachwidrige Option").

paule t.
paule t.
2 Jahre zuvor

Wie nicht ganz selten, ist auch diese angebliche Unstatistik eher für'n Fuß.

Das fängt damit an, dass fast durch den gesamten Text hindurch der Begriff "Durchschnittseinkommen" verwendet wird. Das ist aber falsch, die Armutsgefährdungsschwelle berechnet sich nicht nach dem Durchschnitts-, sondern nach dem Medianeinkommen. Das wird gegen Ende des Textes zwar auch kurz erwähnt – aber das direkt davor genannte Beispiel ist deswegen schlicht und einfach falsch: Der Zu- oder Wegzug extrem reicher Einzelpersonen ändert am Medianeinkommen (im Gegensatz zum Durchschnittseinkommen) praktisch nichts.
Es handelt sich also nicht nur um eine falsch Wortwahl (peinlich genug) – der falsche Begriff führt auch zu sachlich falscher Argumentation.
[Das ganze wirkt so, als hätte jemand ganz kurz vor – oder nach? – Veröffentlichung des Textes den krassen Fehler noch bemerkt und einen korrigierenden Satz eingefügt, der aber an der fehlerhaften Argumentation einzelner Stellen nichts ändert.]

Dann wird argumentiert, ein am mittleren Einkommen orientierter, also relativer, Armutsbegriff sei untauglich, weil (!) es eigentlich um die "Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe" gehen müsse. Nun heißt Teilhabe ja aber (oder so würde ich es verstehen), dass Menschen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können – und das hängt in unserer Gesellschaft nun mal zu einem erheblichen Teil vom verfügbaren Einkommen ab. (Natürlich nicht nur davon – öffentliche Einrichtungen, die jedem zur Verfügung stehen, mildern die Bedeutung des Einkommens natürlich ab. Das dürfte aber wohl kaum jemand, der sich mit dem das Thema Armut beschäftigt, bestreiten.)
Ein Armutsbegriff, der sich an der Entfernung von den finanziellen Möglichkeiten der "Mitte der Gesellschaft" (genau das beschriebt ja der Median) orientiert, ist also gerade dann sinnvoll, wenn es um Teilhabe geht.

Und dann wird noch behauptet, dass "die hier zugrundegelegten Armutsmaße so beschaffen sind, dass per Konstruktion jedes fünfte Kind in Deutschland armutsgefährdet sein muss". Auch das ist einfach sachlich falsch: Der Anteil derjenigen Menschen, die weniger als 60% des Medianeinkommens haben, kann natürlich sehr wohl ganz erheblich unterschiedliche Werte aufweisen. Das können 0% sein, wenn auch die niedrigsten Einkommen nicht sehr viel niedriger sind als das Medianeinkommen; wenn dagegen die Einkommenskurve nach der Mitte steil abfällt, können es auch sehr viel höhere Werte als die genannten 20% sein (ganz theoretisch bis <50%).
Genau das kommt ja in der im nächsten Absatz nachgeschobenen Bedingung "Bei einer gegebenen Einkommensverteilung" zum Ausdruck: Die Einkommensverteilung kann sich ja ändern, und dann kann sich eben auch die Armutsgefährdungsquote ändern. Das wäre z.B. möglich, wenn sich der Lohn unterer Lohngruppen überproportional (etwa durch höheren Mindestlohn) erhöhen würde, das Kindergeld oder andere Sozialleistungen erhöht würden o.Ä.
Mit dieser nebenbei eingeflochtenen Bedingung wird also eigentlich die ganze Argumentation drumherum widerlegt.

Wenn das einfach nur ein Kommentar in einer beliebigen (dann mutmsßlich wirtschaftsliberal-konservativen) Zeitung wäre, könnte man es leicht augenrollend beiseite legen. Wenn aber Leute mit einer derartig besserwisserischen Arroganz über andere herziehen und deren Aussagen als "Unstatistik" verunglimpfen und sich gleichzeitig derartige Patzer leisten, ist das einfach nur eine riesengroße Peinlichkeit.

abraxasrgb
abraxasrgb
2 Jahre zuvor

# Paule
Wenn man als Denkwerkzeug nur Hammer & Sichel im Kopf hat, dann ist die Antwort auf alle Fragen: Wirtschaftsliberal 😉 😉

paule t.
paule t.
2 Jahre zuvor

#3 Ja, dieses Wort "wirtschaftsliberal" ist natürlich der zentrale Punkt in meinem Kommentar; es belegt zweifelsohne, dass ich Kommunist bin, denn niemand sonst benutzt solche Wörter; und dann ist natürlich auch alles andere, was ich schrieb, völlig egal.

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