100 Tage Krieg: „Es ist an uns, die Ukrainer zu bitten, unsere Hilfe anzunehmen“

Zivilsten bereiten auf den Kampf gegen den russische Armee vor Foto: Yan Boechat/VOA Lizenz: Gemeinfrei


Vor 100 Tagen überfiel Russland die Ukraine. Ein Krieg begann, der vieles veränderte.

Als russische Truppen am 24. Februar die Ukraine überfielen, hat kaum jemand dem Land zugetraut, sich länger als ein paar Tage zu halten. Der Präsident war ein ehemaliger Lustigmann aus dem Fernsehen, über die Armee las man wenig Gutes und der Gegner war imposant: Russland, 160 Millionen Einwohner und wer an dessen Militär dachte, hatte die Rote Armee im Hinterkopf: Feldmarschälle wie Schukow, Rokossowski, die legendären Stoßdivisionen und natürlich die Rotarmisten, an deren Kampfgeist die Wehrmacht zerbrach.

Es kam anders: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi überraschte mit seinem Mut und seiner Entschlossenheit die Welt. Ein neuer Churchill, der charakterliche Führer der freien Welt. Und die russische Armee? Hatte außer der Verachtung gegenüber dem Leben der eigenen Soldaten nicht mehr viel mit der Roten Armee gemein. Sie scheiterten an den gut ausgebildeten ukrainischen Truppen, die mit Mut, Klugheit und Entschlossenheit für ihre Freiheit kämpften und es bis zum heutigen Tag tun.

Die Ziele der ersten Tage, die Eroberung Kiews, die Absetzung der frei gewählten ukrainischen Regierung und die großräumige Einkesselung der ukrainischen Truppen im Osten verfehlte Russland alle. Unter großen Verlusten kämpft sie Putins Armee im Donbass vor.

Der Westen reagierte, lieferte der Ukraine die Waffen, die es ihr ermöglichten, gegen die Russen zu bestehen. In den vergangenen sechs Wochen erkämpften sich die Ukraine während der russischen Offensive mehr Gelände zurück, als sie in derselben Zeit verlor. Die Männer und Frauen unter Selenskyis Kommendo schreiben gerade Militärgeschichte.

Und sie erteilen uns eine Lektion: Sie zeigen uns, welchen Wert Freiheit hat. Sie wollen, was wir für selbstverständlich halten: Ein Leben in einer Demokratie, die Chancen, die der Kapitalismus bietet, Teil der Europäischen Union und der NATO sein. Zu uns, dem Westen zu gehören.

Es ist beschämend, dass EU und NATO sie nicht aufnehmen. Ohne die Mitgliedschaften wird es die Ukraine schwer haben, ihren Weg Richtung Demokratie weiterzugehen. Jeder weiß das. Ihnen die Aufnahme zu verweigern bedeutet nicht weniger, als den Ukrainern schnell oder in Zeitlupe beim Scheitern zuzusehen.

Die Arroganz, die ihnen vor allem von deutschen Intellektuellen und Künstlern entgegenschlägt, ist schäbig. Die Ukrainer, ihr Kampf um die Freiheit scheinen viel zu stören. Er zieht Aufmerksamkeit von eigenen Projekten und Büchern ab und verursacht so einen wirtschaftlich messbaren schaden. Ohne Putins Angriff hätte das Land im März über Alice Schwarzers Buch über Transsexualität gestritten. Die Debatte ist verschoben und ihr Buch schon alt, wenn sie beginnt. Das verletzt die Eitelkeit und schmerzt.

In westlichen Staaten, in denen sich die Menschen in der Vergangenheit weniger mit Diktaturen arrangierten, als es die Deutschen taten, ist das anders. Und in Osteuropa, wo die Erinnerung an das sozialistische Unterdrückungssystem noch frisch ist, auch.

Der Krieg verdrängt die postmodernen Prediger. Gegen Putins Panzer helfen Drohnen und Raketen, keine Narrative. Die Wirklichkeit meldet sich zurück. Sie ist blutig und nichts, was sich dekonstruieren lässt.

Die politischen Lager formieren sich an der Frage, die wirklich zählt: Wie hältst Du es mit der Freiheit? Die Linkspartei verurteilt den Krieg mit kaltem Formalismus und predigen Verrat an den Ukrainern als Friedenspolitik. Frieden ist auf einmal auch der größte Wert für die AfD. Freiheit, Demokratie, das zählt für beide nicht. Die Menschen, die für die von ihnen verachtete Gesellschaftsform ihr Leben riskieren, ja zu Tausenden sterben, sind ihnen lästig und egal. Der Feind ist der Westen, es kann und darf nicht Putin sein, nicht ein autoritärer Herrscher, denn so herrschen würde man auch gerne. Die roten und braunen deutschen Zwerge träumen davon, es ihm gleich zu tun.

Wir lernen gerade viel über den Wert der Freiheit und über den Mut den Menschen aufbringen, die für sie kämpfen. Und wir wissen, dass es die Ukrainer und nicht wir es sind, die in diesem Augenblick unsere Freiheit verteidigen. Und so hat ihr Kampf etwas Beschämendes für uns, denn wir wissen nicht, ob wir ihre Stärke hätten, wenn es darauf ankäme. Die Ukrainer sollten uns nicht um Hilfe bitten müssen. Es ist an uns, die Ukrainer zu bitten, unsere Hilfe anzunehmen. Wir sind es, die tief in ihrer Schuld stehen.

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Reginald
Reginald
1 Jahr zuvor

Ja es ist wirklich erbärmlich wie der Westen sich verhält.Wir sollten den Ukrainer mit allem was wir haben beistehen.Das ist auch eine Bringschuld aus der Nazizeit.Wir können nicht wieder zusehen wie bei der Niederschlagung der Aufstände in der DDR,Ungarn oder der Tschechoslowakei in den 50er und 60er Jahren.Die Menschen und Volker haben es verdient in Ruhe gelassen zu werden und Ihre eigenen Demokratien aufzubauen.

thomas weigle
thomas weigle
1 Jahr zuvor

Ja, der Kampf der UkrainerInnen ist vielen hierzulande lästig. Und man braucht keine Glaskugel,um zu sehen,dass die Zahl der „Belästigten“ im kalten Winter 227/23 stark steigen wird. Leider.

Thomas
Thomas
1 Jahr zuvor

Und heute hat die Linke zusammen mit AfD gegen das Sondervermögen gestimmt. Warum wird das von den Linken nicht kritisiert? Wenn die CDU in Thüringen zusammen mit der AfD abstimmen will ist die Empörung groß. Dort heißt es niemals mit der AfD. Warum gilt das bei dem Sondervermögen nicht auch?

nussknacker56
nussknacker56
1 Jahr zuvor

Auf welch abgründigem Niveau sich manche Menschen bewegen, ist schon atemberaubend. In der WELT online gab es heute ein Interview im Studio mit dem ukrainischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk.

https://www.welt.de/politik/ausland/video239168913/Ukrainischer-Parlamentspraesident-Stefantschuk-zieht-bei-WELT-Bilanz-zu-100-Tagen-Krieg.html
– – –
Auszug aus den Kommentaren:

Rolf H. meint:

„Ehrlich gesagt hätte ich Beklemmungen, wenn mir dieser Typ nachts in einer dunklen Straße entgegen käme (im Grunde genommen sogar schon am Tage). Nach Demokratie sieht der so garnicht aus. Eher wie ein Geldeintreiber der Russen-Mafia, der schon etliche Wodka intus hat.
Die Ukraine ist von einem demokratischen Staat soweit weg wie die Erde von der Milchstraße!!!“

60(!) Likes (20:25 Uhr)
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Celestine meint:
„Er ist Jura-Professor.“

6 Likes
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Perlentaucher Max meint:
„Klar doch. Und selbst wenn, in der Ukraine. Was heißt das denn schon.“

18 Likes
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Der einzig vernunftbegabte Kommentar von Celestine erhält die wenigste Zustimmung. Aus Gründen der Selbsterhaltung muss man hier den Impuls zum Fremdschämen gewaltsam unterdrücken. Wäre das wirklich ein repräsentatives Bild der Deutschen, müsste ich das Auswandern doch noch ernsthaft erwägen. 😉

Don Giovanni
Don Giovanni
1 Jahr zuvor

#4 Derartiges kann man auch in den Kommentarspalten z. B. der FR lesen – und anderswo.
Hin und wieder meint man, die Wehrhaftigkweit der Ukraine dadurch deligitimieren zu können, indem man auf den ehemaligen Beruf Selenskys und den der Gebrüder Klitschko hinweist.
Die Klitschkos waren immerhin Boxweltmeister, während z. B. unsere Kulturstaatsministerin nur ein abgebrochenes Studium der Theaterwissenschaft hinter sich hat (zu meiner Zeit [in den Siebzigern] galt dieser damals neu eingeführte Studiengang als Kita für Höhere Töchter).
Auf diese Kommentatorgestalten kann man übrigens Jandls Kurzgedicht sehr gut anwenden.

DEWFan
DEWFan
1 Jahr zuvor

Bei diesem Kommentar musste ich wirklich schmunzeln:
„Die Ukraine ist von einem demokratischen Staat soweit weg wie die Erde von der Milchstraße!!!“
Die Erde befindet sich in der Milchstraße. Noch besser ist nur, wenn Leute die Einheit Lichtjahr als Zeiteinheit verwenden.

Bülent Zünbüldere
Bülent Zünbüldere
1 Jahr zuvor

Tut mir leid.Ich habe null Kommanull Verständnis für irgendwelche Putin Versteher und Diktaturen Arschlecker.Die sollen sich zum Teufel scheren.Ich habe auch Nullkommanull Verständnis warum die EU Russland nicht den Krieg erklärt.Das Angreifen und besetzen eines souveränen Staates folgenlos zu lassen,das ist eine Wiederholung der Geschichte aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.Ich dachte bisher in meinem Leben dass es quasi eine automatische Weiterentwicklung in der Geschichte der Menschheit durch Lerneffekte gibt.Was ich jedoch weltweit beobachte ist grauenerregend.So wird es nicht weitergehen.Sonst ist Feierabend.

Bert Führmann
Bert Führmann
1 Jahr zuvor

@Don Giovanni #5,
hast wirklich recht, – auch die anderen.
Grad für die FR — dieses unbürgerliche, weil nichtrepublikanische Linksreste-Abschussrampe-Blatt auch für das
antizionistisch-antiimperialistische Weltbild — und Anverwandte ist das typisch.

Aber wie geht denn das JANDL- KURZGEDICHT ??

@Nussknacker #4,
ich kann Dich gut verstehen.
Allerdings kann ich mich des FREMDSCHÄMENs kaum erwehren; und echt ü b e l ist es mir oft nach Genuss von ähnlich Linkem in doppeltem Sinne, wie Wagenknecht’s ( zu der ich, wie übrigens auch viele Rechte dank ihrer finanzpolitischen und identitätspolitischen Kritiken Sympathie hatte) oder der Ergüsse auf divs. rechts-demokratischen Blogs, bis hin zu echten Kotzgefühlen . . . .
— wie übrigens heute wieder/ noch immer auf WDR-5-TAGESGESPRÄCH in Sachen TAIWAN-politisch angeregtem „Antiimperialismus“.

@Bülent Zün(d ?)büldere
In einem Punkt gehst Du leider einen kleinen, aber entscheidenden Schritt zu weit, – wie es auch Deniz Yücel ( der „@Besser_Deniz“ !) provokativ mit der Forderung nach anti-russischen Flugverbotszonen tat.
Denn während wir/ lernen die sich mit dem der ( Großraum-Jurist-)Schmitt’schen Ideologie der „links“-totalitären Imperien almagierende
( „Unser-Gas-geht-vor-) Verrat und Feigheit zurückzuweisen, dürfen wir den Herren des weiß-blau-/roten Totalitarismus und der kürzlich weiter ausufern lassenden Antiamerikanismus k e i n e n „verständlichen“ Vorwand geben für die innerhalb Russlands schon im Volk heißgemachte ATOMARE Abrechnung.

LASST UNS lieber gemeinsam unsere Regierung dazu drängen, auch ohne IRIS-T der Ukraine Luftabwehrsysteme zu schicken, und — genauso dringend — vielfach verfügbare Schützenpanzerwagen –Fuchs und Marder – zu liefern, und WIESEL für das mobile Gefecht. Zudem zumindest die alten LEOPARDs I.

Nur weil sich Selenskij und Botschafter Malnyk für die gelieferten SCHAUFENSTER-Waffensysteme bedanken, heißt das nicht, daß
das kanzler-deutsche Doppelspiel nicht weiterginge !
Lasst uns gemeinsam das Bundeskanzleramt unter Druck setzen !

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