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Alles außer Pop – Sun Ra Arkestra live in Mainz

Es gibt nur wenige Bands, deren Leader so charismatisch sind, dass die Band nach dessen Tod einfach weiter existiert. Die Big Bands von Duke Ellington oder Charles Mingus sind Beispiele. Und natürlich das Sun Ra Arkestra. Die Legende, fast schon so etwas wie eine Religionsgemeinschaft zu sein, ist sicher auch ein Image-Trick gewesen. Aber angeblich haben die Mitglieder des Arkestras zeitweise wirklich wie in einer Kommune gelebt. Nach Sun Ras Tod führte zunächst John Gilmore die Band weiter. 1995 ging der Fackelstab weiter an Marshall Allen.

Dieser Vorreiter des Avantgarde-Saxofons und langjährige Mitreisende auf dem interstellaren Raumschiff wird in wenigen Tagen 95. Die aktuelle Tour feiert dieses Jubiläum. Mit 43 Konzerten innerhalb von 3 Monaten. Ein Pensum, dass selbst junge Musiker an ihre Grenzen bringen könnte. Aber Marshall Allen sprüht vor Energie. Neben dem Bassisten und dem Perkussionisten, die naturgemäß im Stehen spielen, war er gemeinsam mit der Sängerin Tara Middleton der einzige der zehn Musiker auf der Bühne, der sich fast überhaupt nicht hinsetzte. Allen tanzte und ging umher, sang und spielte ohne irgendein Anzeichen von Müdigkeit. Dafür aber mit vielen Anzeichen von Freude.

Und das ganze Arkestra spielte mit Begeisterung. Ich hatte etwas Sorge, dass so eine Band nach so vielen Jahrzehnten vielleicht nur noch eine Routine abspult. Aber das Gegenteil war der Fall. Endgültig sprang der Funke über, als einige der Bläser wie eine Marching Band die Bühne verließen und einmal durch den Saal wanderten. Auf einmal wurden Blicke ausgetauscht, Töne direkt auf dem Schoß der Zuhörer platziert, wurde man eine Gemeinschaft. Und es war kein Zufall, dass dies zu den hypnotisch wiederholten Zeilen geschah: „It doesn’t matter who you are, it doesn’t matter who you’ll be, we’re living in a space land“. Jeder ist willkommen, in diesem Land.
Und in der Pause mischten sich die Musiker tatsächlich unter das Publikum. Sie verkauften CDs und zwar selber, nicht über einen Roadie oder Manager. Aber sie standen auch mit den Zuschauern beim Rauchen oder unterhielten sich. Hinterher kam ich mit dem Bassisten Tyler Mitchell ins Gespräch, der Poster verkaufte. Das Bild hat sein Vater Caton Mitchell für das Cover des Albums „Night of the purple moon“ gemalt. Sein Vater war ein Künstler in Chicago. Da war Tyler noch gar kein Musiker. Jetzt spielt er selbst im Sun Ra Arkestra.
Knoel Scott war einer der beiden Bariton-Saxofonisten. Auch er hat schon Ende der 70er bei Sun Ra gespielt. Irgendwann stand Scott auf, richtete umständlich seine Hose, verschwand von der Bühne und tauchte plötzlich im Zuschauerraum davor auf. Und dann führte er einen expressiven Tanz vor, der mich an Capoeira erinnerte, vermutlich eher in Afrika verortet werden muss und der immer wieder Radschläge beinhaltete. Scott schoss durch den schmalen Raum vor der Bühne so geschmeidig wie ein Breakdancer. Der Mann ist zwar nicht 95, aber auch schon 63. Es kostete ihn auch sichtlich Kraft, er musste eine Weile nach Atem ringen, als er zurück auf der Bühne war.

Das Arkestra spielte eine durchaus gefällige Mischung aus Blues, Bebop, Hardbop, Spiritual Jazz und gelegentlichen Freejazz-Einsprengseln. Nie wurde es so abstrakt oder schrill, dass das Publikum verstört sein musste. (Ich hätte freilich bis zur Verstörung noch etwas mehr Krach vertragen.) Aber genau diese Mischung war eben auch geeignet, eine sehr dichte Stimmung heraufzubeschwören. Nicht wenige Leute tanzten und es gab auch kein Lied, das nicht zum Tanzen geeignet gewesen wäre. Oft gab es Gesangseinlagen der Sängerin Tara Middleton, manchmal auch mit Marshall Allen zusammen oder wieder mit Knoel Scott, der eine unbeschreiblich einnehmende Stimme hat.

Marshall Allen hat die Rolle des Bandleaders mit ganzer Seele übernommen. Er peitscht die Musik mit seinem Saxofon an, auf dem er sehr avantgardistisch spielt und dabei, ähnlich wie der von mir verehrte David Murray, das quietschende Chaos in rhythmische Sinneinheiten packt, die einfach nur grooven. Mit Gesten und Blicken steuerte er die Band, wobei die drei anderen Saxofonisten vorne auf ihren Hockern saßen wie träge Löwen, denen keiner etwas sagen kann oder muss. Allen ging statt dessen immer wieder nach hinten rechts, wo Waldhorn, Trompete und Posaune saßen, alle drei Spieler deutlich jünger als die Veteranen an den Saxofonen. Fast hatte man den Eindruck, sie wären noch Schüler, die Allen anleitet, antreibt und anlernt. Von Zeit zu Zeit übernahm auch Knoel Scott diese Rolle, wie ein erster Maat. Tara Middleton blieb wie eine ehrwürdige Erscheinung am Rande, immer in Bewegung, immer tanzend, in der Musik versunken und doch sofort präsent, wenn ihr Part kam. Von Zeit zu Zeit setzte sie mit Klangstäben oder Handclaps kleine, aber effiziente Akzente, die niemals Verlegenheitsgesten waren, sondern immer ein wichtige Funktion im Sound hatten. Diese ganze Gruppe wirkte auf mich wie ein Organismus. Oder, etwas pathetisch: wie eine Familie.

Bei so einem Konzert, wo die Musiker herumlaufen und Poster verkaufen, wird einem wieder klar, dass das Musikbusiness kaputt ist und dass eine legendäre Band wie das Arkestra niemals reich sein wird. Aber genauso klar war, dass die das nicht für Geld machen. Sondern für die Musik. Und dass das Publikum dabei gebraucht und geschätzt wird. Die Geste mit dem kleinen Marsch durch die Sitzreihen, die war nicht nur ein Show-Element. Da entstand eine echte Verbindung. Der Tanz, der so viel Kraft gekostet hat, den hätte keiner eingefordert, den muss ein über 60-jähriger nicht machen. Der ist Teil der Kunst. Und die Liebe zu dieser Kunst, die hat die Legende Sun Ra über den Tod hinaus in sein Orchester gebracht und die hält der 95-jährige Marshall Allen am Leben. Das Sun Ra Arkestra ist kein Projekt, um aus einem berühmten Namen Kapital zu schlagen. Das Sun Ra Arkestra ist ein Kollektiv. Eine Familie.

Der Autor schreibt hier regelmäßig Wochen über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.

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Martin Hoeren
Martin Hoeren
4 Jahre zuvor

Du schreibst falsche Dinge.
Der Tänzer war der Musiker mit dem israelischen Namen, er ist über 70 Jahre.
Der Waldhornspieler ist Jahrgang 1950
Bitte informiere dich auf der SUN RA ARKESTRA website über die aktuelle Band und auch über WIKI.

Martin Hoeren
Martin Hoeren
4 Jahre zuvor

Robert, ich meine es nicht besserwisserisch.
Ich glaube der Sax Mann heißt Abraham Ben Schlomo.
Der Waldhornspieler ist Vincent Chencey oÄ, Jahrgang 1950, der war schon in der Lester Bowie Brass Fantasy dabei und bei Carla Bley.
In dem Sinne, Gruß in den Pott
Martin

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