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Der lange Schatten der Revolution: Juden und Antisemiten in Hitlers München

Ministerpräsident Kurt Eisner während der Fahrt zur Reichskanzlei anläßlich der Reichskonferenz der Bundesdeutschen Regierung in Berlin, 22. November 1918 Foto: Robert Sennecke Lizenz: Gemeinfrei

 

Eine Buchbesprechung von unserer Gastautorin Sabine Beppler-Spahl.

Am 7. November 1918, dem ersten Jahrestag der russischen Revolution, versammelte sich eine Menschenmenge auf den Straßen Münchens. Die Demonstranten forderten Demokratie und ein Ende der Herrschaft des alten Establishments, das das Land in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt hatte. Innerhalb weniger Stunden schlossen sich Soldaten, die ihre Garnisonen unter Missachtung der Befehle ihrer Vorgesetzten verlassen hatten, den Demonstranten an und der Protest schwoll zu einer Volksbewegung an.

„Die Demonstration wurde zu einer Revolution“, schrieb Erich Mühsam, einer der anwesenden Aktivisten. Bevor der Morgen graute, waren die bayerische Königsfamilie aus der Stadt geflüchtet und wichtige staatliche Gebäude von den Demonstranten besetzt worden. Die Gunst der Stunde nutzend, rief der charismatische sozialdemokratische Politiker und Schriftsteller Kurt Eisner den Freistaat Bayern aus.

Die Ereignisse dieser denkwürdigen Herbstnacht bilden den Ausgangspunkt der tragischen Entwicklungen, die der Historiker Michael Brenners in seinem Buch, „Der lange Schatten der Revolution: Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918-1923“ beschreibt. Auf die Revolution folgte eine blutige Gegenrevolution, deren ideologischer Kern der Antisemitismus war. Dass Brenner, ein deutsch-jüdischer Historiker, die Rolle des Antisemitismus hervorhebt ist umso wichtiger, da dieser Aspekt in den meisten Werken über diese Zeit zu wenig berücksichtigt wird.

Schon Jahre vor der Veröffentlichung seines Buchs sei ihm aufgefallen, was viele seiner Historiker-Kollegen entweder ignorierten oder herunterspielten, schreibt Brenner: Dass ein überdurchschnittlicher Anteil der Persönlichkeiten, die diese Zeit des Aufbruchs in Deutschland prägten, jüdische Wurzeln hatte. Zu den prominentesten dieser Revolutionäre gehörten, neben Kurt Eisner, Gustav Landauer, Eugen Leviné, Rosa Luxemburg, Erich Mühsam und Ernst Toller. In seinem Buch beschreibt Brenner aber auch die mörderische Dynamik des Antisemitismus der Gegenrevolution, der den Weg für die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 ebnete.

Kurt Eisner wurde weniger als vier Monate nach seiner Wahl zum ersten jüdischen Ministerpräsidenten Bayerns durch den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat getötet. Er starb auf dem Weg zum Parlament – niedergeschossen von einem jungen Studenten aus einer aristokratischen Familie, der der rechtsgerichteten Thule-Gesellschaft angehörte. Schon in den Wochen vor seiner Ermordung war Eisner Ziel zahlreicher antisemitischer Hetzkampagnen geworden.

Gustav Landauer, Eisners Freund und Mitrevolutionär, sagte bei seinem Begräbnis: „Kurt Eisner, der Jude, war ein Prophet, der unbarmherzig mit den kleinmütigen, erbärmlichen Menschen gerungen hat, weil er die Menschheit liebte und an sie glaubte. Er war ein Prophet, weil er mit den Armen und Getretenen fühlte und die Möglichkeit, die Notwendigkeit, schaute der Not und Knechtung ein Ende zu machen. Er war ein Prophet, weil er ein Erkennender war, dieser Dichter, der zugleich von der Schönheit, die kommen sollte, träumte und den harten, bösen Tatsachen unerschrocken ins Gesicht sah.“

Tragischerweise lebte auch Landauer nur noch wenige Wochen, bevor er in einem Münchner Gefängnis von Mitgliedern der rechtsgerichteten Freikorps ermordet wurde.

Der Fokus auf München ergibt Sinn. Hier war das Trauma der gescheiterten Revolution besonders stark. Aber auch in anderen Teilen Deutschlands gab es ähnliche Dynamiken (Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden im Januar 1919 von den Freikorps in Berlin brutal ermordet). Bis Mitte 1919 waren Tausende von Revolutionären entweder getötet oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Bayern wurde de-facto ein Polizeistaat, regiert von Gustav von Kahr, einem Erzreaktionär und notorischen Antisemiten. Es war kein Zufall, dass Hitler seine Karriere als öffentlicher Redner in dieser Stadt begann. Drei Tage nach dem Mord an Eisner wurde die Nazipartei gegründet. Am 8. November 1923 – dem fünften Jahrestag der Revolution von 1918 – unternahm Hitler seinen berüchtigten Münchner Putschversuch. Das Klima in der Stadt war so, dass er offenbar glaubte, damit durchkommen zu können. Als er nach wenigen Monaten das Gefängnis verließ, hatte er das Manuskript seiner Autobiographie, „Mein Kampf“, in der Tasche. Bereits 1923 bezeichnete Thomas Mann, der wohl größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, das einst kulturell pulsierende und liberale München als „Stadt Hitlers“.

Brenner geht es jedoch nicht darum, die schon so oft erzählte Geschichte vom Aufstieg Hitlers noch einmal darzulegen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Juden in Bayern, die sich plötzlich und rasend schnell einem zunehmend aggressiven Klima ausgesetzt sahen. In der Propaganda der reaktionären Kräfte verschmolzen Antisemitismus und der Hass auf die Revolution von 1918 schnell zu einer Einheit. „Der Jud‘ sitz bei allem oben drauf“ war eine Parole, die in der unruhigen Zeit nach Krieg und Revolution die Runde machte.

Martin Buber, der berühmte österreichisch-jüdische Philosoph, bezeichnete die Vorgänge in München, die zur Ermordung Eisners führten, als „eine namenlose jüdische Tragödie“. Und das, obwohl die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde Münchens, wie Brenner zeigt, der Revolution zutiefst skeptisch – und oft sogar feindlich – gegenüberstanden. Ihre Haltung unterschied sich nicht wesentlich von der ihrer konservativen Mitbürger im überwiegend katholischen Bayern. Bevor München zur Hauptstadt der NS-Bewegung wurde, war die Stadt zur Hauptstadt des Antisemitismus in Deutschland geworden.

Brenners Geschichte stellt auch die großen Versäumnisse der respektablen, liberalen bürgerlichen Gesellschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bloß. Die meisten Liberalen hatten ein zwiespältiges Verhältnis zur Demokratie und misstrauten den Massen. Sie fürchteten sich vor den Forderungen der Revolutionäre und der Radikaldemokraten. Deshalb schlugen sie sich- offen oder im Stillen – auf die Seite der Konterrevolutionäre. Den wachsenden Antisemitismus nahmen sie dafür in Kauf.

Viel zu wenige von ihnen protestierten, als von Kahr gegen Ostjuden vorging und sie nach Polen oder in andere Länder abschob. Betroffen waren Menschen, die oft seit Jahrzehnten in Bayern lebten. Auch griffen sie nicht ein, als rechtsextreme Terrorgruppen Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Wohnungen verübten.

Selbst als der jüdische Außenministers Walter Rathenau 1922 in Berlin auf offener Straße niedergeschossen wurde, reagierten viele Vertreter des Bürgertums auffallend zurückhaltend. Es gab keine – oder nur sehr vereinzelte- konzertierte Aktionen, die sich gezielt gegen den Antisemitismus richteten. Stattdessen verabschiedete die Regierung das Republikschutzgesetz, das ihr die Möglichkeit gab, extremistische Organisationen zu verbieten. In den nächsten Jahren durchzog eine Reihe von Zensurmaßnahmen, die Weimarer Republik. Den Aufstieg der Nazis verhinderten diese Maßnahmen nicht.

Den wenigsten dürfte, 2018, am 100. Jahrestag der Ereignisse, die Brenner beschreibt, der Zusammenhang zwischen der Revolution, dem Antisemitismus und dem Aufstieg Hitlers bewusst geworden sein – auch wenn es zahlreiche Denkschriften gab. Der Tenor der meisten Publikationen war, dass die Revolutionäre unrealistische Hoffnungen hegten. Ein Beispiel ist das viel rezensierte und durchaus interessante Buch des Journalisten Volker Weidermann, mit dem Titel „Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen“. Weidermann beschreibt, wie schon der Titel nahelegt, die Hauptakteure der Revolution von 1918/19 als Träumer und Spinner. Den Antisemitismus erwähnt er kaum.

In seinem Vorwort erklärt Brenner diese Zurückhaltung. Er weist darauf hin, dass die Verbindung von Juden und Sozialismus in der Vergangenheit oft als Erklärung oder sogar als Rechtfertigung für Antisemitismus herangezogen wurde. Doch wer den Aufstieg der Nazis verstehen will, tut gut daran, sein Buch zu lesen. Es hat, in diesen Zeiten, da der Antisemitismus wieder sein hässliches Gesicht zeigt, eine neue Relevanz erlangt.

Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, erschienen 2019. Jüdischer Verlag im  Suhrkamp Verlag. 399 Seiten, € 28,00

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