Jetzt auf DVD: „The Tribe“ ist der beste ukrainische Film in Gebärdensprache ohne Untertitel aller Zeiten

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Das Wort „unfassbar“ wird heutzutage ja geradezu inflationär benutzt, jedes zweite Twitter- und Facebook-Posting postuliert eine angebliche „Fassungslosigkeit“ gegenüber diesem oder jenem Zustand bzw. Missstand, über irgendein blödes Verhalten, über irgendeine dumme Äußerung in den unendlichen Weiten des Internets. Glaubwürdig ist diese ungläubige „Fassungslosigkeit“ der Dauerempörten meist nicht wirklich, am nächsten Tag gibt’s dann halt (mal wieder) was Anderes, was man (mal wieder) „einfach nicht fassen“ kann.

Es gibt aber Fälle, da ist das Wort „unfassbar“ tatsächlich mal angebracht: Jeder, der vor ein paar Jahren in den unendlichen Weiten des Internets beispielsweise das Video jener drei ukrainischen Jugendlichen, die als „Dnepropetrovsk Maniacs“ bezeichnet wurden, gesehen hat, war danach wohl ein anderer Mensch – die absolute Sinnlosigkeit der Tat, die absolute Kaltblütigkeit des Tuns ließen einen wahrhaft „fassungslos“, das heißt in diesem Fall: vollkommen verstört und nahezu traumatisiert, zurück.

Ich weiß nicht, ob der ukrainische Regisseur Myroslav Slaboshpytskyi auch die jugendlichen „Dnepropetrovsk Maniacs“ seines Heimatlandes vor Augen hatte, als er mit seinen jugendlichen Laiendarstellern seinen Spielfilm drehte, aber von absoluter Verständnislosigkeit und Gnadenlosigkeit ist auch „The Tribe“ geprägt.

Die Tatsache, dass der Film komplett in Gebärdensprache gedreht wurde und dem Zuschauer keinerlei Untertitel zum besseren Verständnis anbietet (weder im Kino noch jetzt auf DVD), wurde von verschiedenen Rezensenten als interessantes Alleinstellungsmerkmal sehr hoch gehängt – mal gelobt, mal kritisiert –, ist für mich aber gar nicht so sehr der Hauptaspekt des Films. Meiner Meinung nach unterstützt dieses (ja, tatsächlich einzigartige und eigenartige) „Gimmick“ nur das Gefühl der „Fassungslosigkeit“ und der Fremdheit, die man hier angesichts der in kühlen Bildern gezeigten Welt dieses jugendlichen „Stammes“ empfindet.

Mit nur wenigen Schnitten innerhalb des ganzen Gut-Zwei-Stunden-Films folgt die Kamera in überlangen Plansequenzen dem jungen Protagonisten durch die schrecklich langen Korridore dieser heruntergekommenen Gehörlosenschule, die eher einem Gefängnis ähnelt und in die er sich als unwissender Neuling zu integrieren hat. Und Integration heißt hier zum Beispiel, gemeinsam mit den andern Schülern wehrlose Passanten tot zu prügeln, um ihnen ein paar Einkaufstüten zu stehlen, und in der Nacht die jungen Klassenkameradinnen zum Truckerparkplatz zu bringen, wo diese dann den LKW-Fahrern ihre Dienste anbieten.

Der Film folgt allen Geschehnissen immer in gebührendem Abstand, es gibt keine Detail- und Großaufnahmen, die Kamera (und mit ihr der Zuschauer) beobachtet mit fast dokumentarischem Blick das Geschehen aus der Distanz, es gibt keine Musik, man erfährt noch nicht mal die Namen der Protagonisten, geht zusammen immer wieder Gänge entlang und Treppen rauf und runter, und auf solch minutenlange Szenen der Ereignislosigkeit folgt übergangslos, und genauso sachlich observiert, beispielsweise eine ebenso minutenlange Abtreibungsszene, die fast so unerträglich ist wie jene in Lars von Triers „Nymphomaniac“ – und grade durch ihre ultrasachliche Schilderung umso schmerzhafter nachwirkt.

Das ist das faszinierende Paradoxon eines solchen Films, der manchen Zuschauer wohl an Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ erinnert hat, in vielerlei Hinsicht aber eher an Gaspar Noés „Irréversible“ gemahnt: Prostitution, Vergewaltigung, Raub, Überfall, Mord, dazwischen Leere und Langeweile – grade durch die fast dokumentarische Darbietung des sinnentleerten Nihilismus’ dieser gefühlsmäßig verrohten Jugendlichen gerät man mit soghafter Wirkung in einen erbarmungslosen Strudel, der einen emotional auch nach Ende des Films nicht mehr loslässt.

Die Sachlichkeit der Schilderung, die um größtmöglichen Realismus bemüht scheint, steht dabei nicht nur im krassen Kontrast zur seltsamen Abwesenheit von fast jedwedem erwachsenen Lehr- und Aufsichtspersonal an dieser verwahrlosten Schule, das einem mitunter fast surreal, ja abstrakt, vorkommt, sondern eben vor allem zur Gewalttätigkeit und Grausamkeit, die man in ihrer Realität meist eben möglichst „nicht wahr haben will.“

„The Tribe“ ist ein Film der Gegensätze, doch grade dadurch, dass er rein formal immer nur an der Oberfläche und zurückhaltend emotionslos bleibt, auf jedweden Pathos verzichtet, auf jede gesprochene Sprache, auf schnelle Schnitte, auf Musik, ist der Film genauso gnadenlos wie seine gehörlosen Hauptfiguren, trifft einen der nüchterne Blick in diese fremde, unmenschlich kalte, aber irgendwie eben auch als „total normal“ präsentierte Welt umso tiefer.

„The Tribe“ trifft wie ein Hammerschlag. Womit wir am Ende doch wieder bei den ukrainischen „Dnepropetrovsk Maniacs“ wären. Man versteht es nicht und bleibt am Ende verstört zurück. Man kann es einfach nicht fassen: „The Tribe“ ist buchstäblich „unfassbar“.

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