„KI kann die Zufriedenheit mit dem demokratischen Staat erhöhen“

NRW Finanzminister Marcus Optendrenk auf der Baustelle des neuen Rechenzentrums in Kaarst Foto: Laurin


Bald gehen die Boomer in Rente. Auch im öffentlichen Dienst werden Mitarbeiter fehlen. Kann Künstliche Intelligenz helfen, die Lücken zu schließen?

Baufahrzeuge pflügen durch den modrigen Boden, Lieferwagen laden Material ab, und überall sind Handwerker zu sehen. Das, was im kommenden Jahr das neue Landesrechenzentrum der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung in Kaarst werden soll, ist noch eine große Baustelle. Auf dieser entstehen nicht nur Arbeitsplätze für 1000 Menschen, sondern auch ein Stück Zukunft: Das Rechenzentrum wird bei seiner Fertigstellung auch das mit Künstlicher Intelligenz betriebene Gehirn der nordrhein-westfälischen Finanzverwaltung sein. „Künstliche Intelligenz hilft uns, die Steuerverwaltung bürgerfreundlicher zu gestalten“, sagte Landesfinanzminister Marcus Optendrenk bei der Besichtigung der Baustelle in einem der künftigen Serverräume des Rechenzentrums. „Wenn klar nachvollziehbare und unproblematische Steuererklärungen automatisch bearbeitet werden, erhalten die Menschen ihren Bescheid schneller. Gleichzeitig haben unsere Kolleginnen und Kollegen mehr Zeit für die komplexeren Fälle.“

Doch noch ist es nicht so weit. Heute werden nur nichtsteuerliche Aufgaben mithilfe Künstlicher Intelligenz bearbeitet: Texterstellung, Recherche oder Bildgenerierung. „Unsere Mitarbeiter üben damit, ohne echte Steuerdaten zu verwenden“, erklärt er. Die Finanzverwaltung wolle zunächst Erfahrungen sammeln, bevor sie den nächsten Schritt gehe. Aber auch damit ist NRW im Ländervergleich weit vorne: Es setzt als erstes Bundesland testweise auf Künstliche Intelligenz bei der Steuerveranlagung. Ein Pilotversuch beginnt im Mai 2025 in den Finanzämtern Brühl, Bielefeld-Außenstadt, Hamm und Lübbecke. Gestartet wird mit klassischen Arbeitnehmerfällen – also Steuererklärungen mit Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit, Kapitalerträgen, Vorsorgeaufwendungen, Sonderausgaben, haushaltsnahen Dienstleistungen und ähnlichen Bereichen.

Und damit KI-Anwendungen auch laufen, braucht es leistungsfähige Computer, denn KI ist rechenintensiv – nicht für den normalen Benutzer, der auf ChatGPT, Gemini oder Claude mit dem Smartphone oder Laptop zugreift, sondern für alle, die KI zur Verfügung stellen.

Für Optendrenk geht es aber um mehr als fluffigere Steuerbescheide. „Wir müssen uns darauf einrichten, dass auch die Finanzverwaltung Probleme bekommen wird, gute Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten.“ KI sei eine Möglichkeit, die Effizienz zu steigern. „Bei uns sind die Probleme, die entstehen, wenn bald viel mehr Mitarbeiter in Pension gehen als neue kommen, noch nicht so groß wie im Osten. Aber wir bereiten uns auf diesen Zeitpunkt vor. Und die in NRW entwickelte KI-Software würde am Ende allen Ländern zur Verfügung stehen.“

„Auch über die Finanzverwaltung hinaus setzt NRW zunehmend auf KI-basierte Lösungen – etwa bei der Polizei. Das Innenministerium setzt auf Palantir. Die Software unterstützt Ermittler durch KI-gestützte Analyse und Mustererkennung, ersetzt aber keine menschliche Entscheidung. Auch bei der Einführung von Palantir beschritt NRW eigenständig neue Wege: „Nordrhein-Westfalen hat das Projekt eigenständig eingeführt, weil der Bund das Projekt nicht ausrollen wollte“, teilt das Ministerium auf Anfrage mit. Es erlaube eine effektivere Bekämpfung organisierter Kriminalität und eine bessere Reaktionsfähigkeit in Krisensituationen. Bei Bedrohungslagen wie Terroranschlägen oder Amokläufen könne Palantir wichtige Informationen schneller liefern. Palantir steht in der Kritik, vor allem weil sein größter Anteilseigner Peter Thiel ist, einer der wichtigsten Unterstützer von US-Präsident Donald Trump und seinem Vize J.D. Vance. Doch es gibt nach Angaben des Ministeriums keinen Grund für Misstrauen: „Bei Betrieb und Nutzung der Anwendung in NRW ist sichergestellt, dass kein Datenabfluss erfolgen kann. Die Server für die Anwendung werden autark in den eigenen Rechenzentren der Polizei Nordrhein-Westfalen betrieben.“ Es besteht keine Möglichkeit für einen Zugriff auf Polizeidaten durch die Firma Palantir.

Mitte vergangenen Jahres begann der Landesbetrieb Information und Technik Nordrhein-Westfalen mit der Entwicklung von „NRW.Genius“. NRW.Genius ist eine KI-Plattform, die unterschiedliche Anwendungen zentral bereitstellt und damit theoretisch das Potenzial hat, auch in der Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern eingesetzt werden zu können. NRW.Genius ist modellagnostisch aufgebaut. Das bedeutet, dass theoretisch jedes Large Language Model genutzt werden kann.

Im Fokus stehen derzeit und in den kommenden Monaten die Mixtral-Serie von Mistral AI, die ChatGPT-Serie von OpenAI sowie die Teuken-Serie des Fraunhofer-Instituts. Für die öffentliche Verwaltung ist es wichtig, dass Sprachmodelle in souveränen und hochsicheren Umgebungen betrieben werden können. Daher liegt der Fokus bei der Modellauswahl auf LLMs, die „on-premises“ betrieben werden können.

NRW.Genius wird seit dem 28. Oktober 2024 auf Ebene der Mehrzahl der Ministerien des Landes Nordrhein-Westfalen getestet. Der Kreis der an der Testphase teilnehmenden Behörden wird in den kommenden Monaten sukzessive erweitert. NRW.Genius hat – im Vergleich zu Insellösungen, die Kommunen oder andere Ministerien selbst entwickeln könnten – nach Ansicht des verantwortlichen Heimatministeriums mehrere Vorteile. „Entwicklungen im KI-Kontext erfordern einerseits hochspezialisierte Fachkräfte und andererseits erhebliche finanzielle Ressourcen. Für beide Herausforderungen bietet eine zentrale Entwicklung Vorteile, da knappe Ressourcen nicht mehrfach beansprucht werden. Zudem stehen neue Funktionen sofort allen zur Verfügung. Unabhängig davon können Kommunen und Ressorts über standardisierte Schnittstellen individuelle Bedarfe decken, ohne selbst komplexe KI-Systeme betreiben zu müssen.“

Das Ministerium sieht zahlreiche Möglichkeiten für den Einsatz von KI in der öffentlichen Verwaltung: „KI kann Routinearbeiten effektiv und effizient unterstützen. Zu diesem Zweck wird mit der Verwaltungsassistenz NRW.Genius ein Tool entwickelt, das die Beschäftigten der Landesverwaltung zum Beispiel durch die Zusammenfassung großer Dokumente oder die automatische Textgenerierung im Verwaltungsalltag unterstützt. Gleichzeitig entsteht mit der zugrunde liegenden KI-Plattform eine strategische Infrastruktur, über die KI-Funktionen modular in Fachverfahren eingebunden werden können. KI wird damit perspektivisch zur Ressource. Viele Kommunen setzen im Land Nordrhein-Westfalen bereits KI-unterstützte Systeme ein.“

Zuletzt habe das Ministerium eine „Kommunallizenz“ mit dem Gov-Start-up „GovRadar“ abgeschlossen: KI-gestützt kann der Zeitaufwand für Ausschreibungen um bis zu 90 Prozent verringert werden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich damit auf das Wesentliche einer Ausschreibung konzentrieren, statt viel Zeit auf Routinen zu verwenden.

Beim Blick in die Zukunft ist man indes vor dem Hintergrund der überaus dynamischen Entwicklung im KI-Bereich zurückhaltend: „Fest steht, dass KI das Potenzial besitzt, in zahlreichen Bereichen – so auch in der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern – für alle Beteiligten Verbesserungen herbeizuführen. Wichtig ist dabei, dass der Mensch stets in den Mittelpunkt aller Entwicklungen gestellt wird.“

Künstliche Intelligenz, da ist sich auch Nicolai Krüger sicher, kann helfen, die Verwaltungen leistungsfähig zu halten. Krüger ist Wirtschaftsinformatiker, forscht zur Verwaltungsdigitalisierung und ist Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen in Münster: „Wir stecken in einer demografischen Falle: Die Generation der Babyboomer wird bald in Rente gehen, und es ist nahezu unmöglich, alle Stellen zu ersetzen, die frei werden.“ KI-Systeme könnten beispielsweise Gesetzestexte oder Verwaltungsanordnungen analysieren und zusammenfassen. Ein weiterer Vorteil sei, dass durch KI auch Personal eingespart werden könne. Für Krüger ein entscheidender Punkt angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels. Aber KI könne auch helfen, das Verhältnis der Bürger zum Staat zu verbessern. „Wenn jemand beispielsweise im Chat einer Stadt schreibt: ‚Ich habe einen Hund‘, könnte der Bot direkt vorschlagen, die Hundesteuer anzumelden und den entsprechenden Link bereitstellen. Solche Systeme fördern eine effizientere Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltung.“ Doch leisten nach Ansicht Krügers KI-Systeme noch etwas wesentlich Wichtigeres: „Eine flächendeckende Nutzung künstlicher Intelligenz würde nicht nur die Servicequalität verbessern, sondern auch die wahrgenommene Leistungsfähigkeit des Staates steigern. Das stärkt am Ende auch die Zufriedenheit mit der Demokratie.“ Ein weiterer Vorteil angesichts einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen leben, die ihre Wurzeln im Ausland haben: „Modelle wie ChatGPT können über 100 Sprachen verarbeiten – das wäre früher undenkbar gewesen.“

Doch KI sei weitaus mehr als nur eine Dialogmaschine: „Sie kann über Sensoren die Luftqualität in einer Stadt überwachen oder frühzeitig vor Hochwasser warnen.“

Trotz der Vorteile gebe es Städte und Gemeinden, die infrastrukturell noch nicht dazu in der Lage seien, solche Technologien einzusetzen. „Wichtig wäre hier ein Wissensmanagement, das auf bestehenden Daten aufbauen kann. Kommunen und staatliche Akteure könnten dadurch ihre IT sinnvoller nutzen, um die Infrastruktur weiter auszubauen.“ Gerade bei Verwaltungslösungen sollte zudem sichergestellt werden, dass KI-Entscheidungen nachvollziehbar bleiben. Außerdem müssen KI-Systeme so gestaltet werden, dass sie Verzerrungen minimieren und faire Entscheidungen ermöglichen – insbesondere im öffentlichen Sektor, wo Neutralität essenziell ist.

Beides ist auch Oliver Kazmierski wichtig. Kazmierski und sein Team sind für die digitalen Dienste der Stadt Gelsenkirchen zuständig. Diese gehört zu den innovativsten des Landes: Die Stadt zählt zu den Kommunen, die vom Bund im Rahmen des Modellprojekts Smart City gefördert werden. Ein Teil davon nennt sich URBAN.KI. Dabei geht es darum, Künstliche Intelligenz gezielt im urbanen Raum einzusetzen – für bessere städtische Dienstleistungen, smartere Infrastruktur und mehr Bürgerfreundlichkeit. Was in Gelsenkirchen entwickelt wird, könnte später von Kiel bis München eingesetzt werden. Emma zum Beispiel, eine digitale Assistentin, soll Bürgern beim Umgang mit der Stadtverwaltung helfen. Und damit sie das kann, muss Emma erst einmal viel lernen: „Wir trainieren die KI mit den verfügbaren, frei zugänglichen und datenschutzkonformen Informationen der Stadtverwaltung“, erklärt Kazmierski. „Die KI muss lernen, wie Bürgerinnen und Bürger tatsächlich fragen. In Gelsenkirchen kann man zum Beispiel keinen ‚Angelschein‘ beantragen – korrekt wäre ‚Fischereischein‘. Im Volksmund sagt jedoch kaum jemand ‚Fischereischein‘. Die KI muss solche Alltagssprache erkennen und richtig interpretieren können.“ Gelsenkirchen will eine echte KI, die im Bürgerservice Bürgeranfragen unterstützt – etwa über ein Chatfenster auf der Website der Stadt Gelsenkirchen und per Telefon. Transparenz sei dabei wichtig: „Die KI wird sich zukünftig immer eindeutig als solche zu erkennen geben. Bürgerinnen und Bürger werden außerdem jederzeit die Möglichkeit haben, zu einem menschlichen Sachbearbeiter weitergeleitet zu werden, falls sie das möchten.“

EMMA ist noch nicht produktiv, sie befindet sich noch in der Entwicklungsphase. In Gelsenkirchen rechnen sie damit, dass Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres ein erster produktiver Prototyp mit einer ausreichenden Zahl an Informationen zur Verfügung steht.

Schon aktiv hingegen ist die KI-gestützte Überwachung von Kinderspielplätzen in der Stadt. Nachdem sich Eltern beschwert hatten, dass Spielplätze für Partys genutzt wurden, hat die Stadt im Umfeld der Problemsandkästen Kameras installiert. „Bei der Kontrolle der Spielplätze werden keine Gesichter aufgenommen, sondern es wird nur erkannt, ob es sich um ein Kind, einen Erwachsenen oder ein Tier handelt“, sagt Kazmierski. Es gebe keine klassischen Videoaufnahmen, sondern lediglich eine anonyme Erfassung von Bewegungsmustern. Und diese meldet die KI dann automatisch dem Ordnungsdienst der Stadt, der anschließend aktiv wird.

KI boomt, nicht nur viele Städte sind von den neuen Möglichkeiten begeistert: „Die Menschen verstehen nicht nur die Technologie immer besser, sondern wünschen sich diese Veränderungen aktiv, weil sie deren Nutzen im Alltag sehen“, sagt Nicolai Krüger. „Ich könnte mir vorstellen, dass in fünf bis sieben Jahren eine breitere Nutzung von KI in der Fläche zu beobachten sein wird.“

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag

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