LIEBER NULL BOCK ALS ‚NE BUDE VOLL SCHAFE – jesus freaks @ freakstock2010

Du bist nichts, Jesus ist alles. Glaube uns, glaube an Gott. Gottes Spross ist der neue Lifestyle. Jesus ist hip. Jesus ist crazy. Jesus ist ein Freak. Entdecke den Glauben neu. Entdecke die Jesus Freaks, die Subkultur der christlichen Glaubenswelt. Punks, Kreative, Freigeister – ohne die Angst vor der Zwangsjacke klerikaler Dogmen. Verbrenne auch Deine Angst im Feuer ihrer Gemeinde. Vergesse Dich selbst und steige mit ihnen in höhere Sphären. Jesus ist Dein Ticket zur Erlösung. Nie wieder allein, ohne Führung oder Schutz. Glaube uns. Wir haben uns auf die Suche nach Gott begeben – auf dem Freakstock in Borgentreich, dem Jahresevent der Jesus Freaks. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

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Ein Freak (aus dem Englischen freak: „Krüppel, Verrückter, Unnormaler“) ist umgangssprachlich eine Person, die eine bestimme Sache, zum Beispiel ihr Hobby, über ein „normales“ Maß hinaus betreibt, diese Sache zum Lebensinhalt macht oder sich zumindest mehr als andere darin auskennt, z. B. ein Computerfreak. Ein Freak kann auch eine bestimmte, zumeist unangepasste oder „flippige“ Lebensweise verkörpern.

„Die Jesus Freaks sind mir zu dumm, da hab ich keinen Bock mehr drauf.“ Otto steht auf dem frisch gemähten Weizenfeld vor dem Freakstock. Trotzig und steif wie ein kleiner Junge. „Echt nicht. Ich will hier nur mein Bierchen trinken und Festival machen. Punkt.“
Schlange betrachtet den kauzigen Kerl. Alter, was machst du dann hier? Ottos Gesicht bleibt hölzern, kein Anzeichen von Ironie, kein konspiratives Zwinkern. Breitbeinig verharrt er vor Joswigs Kombi und prostet den beiden Neuankömmlingen zu. Die Reporter heben ihre PET-Biere – irritiert und fasziniert zugleich. Warum ist der erste Typ, dem sie auf dem Jesus-Freaks-Festival begegnen gleich ein Zweifler? Plastikflaschen platschen zusammen.
Otto ist kein Styler – nicht so wie die übrigen Typen hier. Bierplauze, stabile Statur, Sesamstraßen-Shirt. Ein dicker Samson mit spärlichem Haar und traurigen Augen hinter der Lesebrille. Mitte dreißig vielleicht: ein Pendel zwischen Schuljunge und alterndem Computer-Geek.
Es ist Freitag kurz nach drei. Mit trockener Miene nuckelt Otto an seinem Bierchen wie ein verlorenes Kind an einem Lolly. Ein Meer aus goldenen Ähren zeichnet in seinem Rücken den Horizont. Darüber zarte Wölkchen wie blasse Deckweiß-Tupfer auf azurfarbener Leinwand. Ein Bild aus Gottes Malkasten.
Vor fünf Minuten sind Schlange und Joswig auf dem Festivalgelände angekommen. Zwei Stunden von Wattenscheid nach Borgentreich, einem 9000-Einwohner-Dörfchen in der Nähe von Kassel. Winziges Kaff, altes Auto, nervenaufreibende Fahrt. Zur Belohnung jetzt zwei Biere auf der Ladefläche ihres Opel Astras.
Schlange beugt sich aus dem Schatten des Kofferraums: „Und, wie ist das Festival?“
„Keine Ahnung,“ nuschelt Otto gleichgültig. „Ich bin zwar seit gestern da, war aber noch nicht auf dem Gelände.“ Er ignoriert die fragenden Gesichter vor ihm.
Das Stoppelfeld ist der Parkplatz zum Festivalgelände. Zwischen den Autos zelten die ersten Freaks. Zwei Skaterboys, vielleicht 17 oder 18, marschieren an den Bierjüngern vorbei Richtung Feldrand.
Joswig grüßt: „Wohin geht’s, Jungs? Aufs Gelände?“
Bevor der Jüngere von den beiden antworten kann, packt ihn sein Freund an der Schulter und zerrt ihn weiter. „Komm mit. Lass die in Ruhe.“
Joswig dreht sich zu Otto. „Sag mal, kamst du nicht grad von denen?“
Otto zuckt mit den Schultern. „Die saßen da schon, als ich gestern gekommen bin. Hatte aber Stress mit denen, weil ich gern wichse und zu Nutten gehe. Das kommt hier nicht so gut.“ Sein schlaffer Mund hebt sich fast unmerklich zu einem Lächeln. „Ich treff mich nachher noch mit ein paar Leuten, die ich von früher kenne.“
Otto hatte eine schwere Zeit, wie er sagt, hat viel auf der Jesus-Freaks-Seite gechattet, ist so in die Szene gerutscht. Heute wäre er so gut wie raus. „Denken und die Freaks vertragen sich nicht besonders. Ab und zu bin ich noch Frustbeter – wie die meisten Menschen. Aber in erster Linie Frusttrinker.“ Dieses Mal ziehen sich seine Mundwinkel einen halben Zentimeter höher. „Und – wie gesagt – ich hab halt noch die Freunde von früher.“
Schlange und Joswig leeren ihre Flaschen, packen neues Bier in die Tasche und verabschieden sich von Otto. Ein komischer Auftakt für ein Festival. Glaubenskriege auf dem Parkplatz. In der Heckscheibe eines weißen Bullis prangt in großen Buchstaben: „Jesus, sonst nichts.“ Otto bleibt allein auf dem Feld zurück.

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit – es kommt der Freak der Herrlichkeit.“
aus der Pressemitteilung zum Freakstock

Erste Erkundungstour: Vom Feld runter geht es zum Festivalgelände. Rechts und Links hängen an den steinernen Mauern zur Eingangspforte Banner. „Welcome home – Freakstock loves you.“ Eine scharfe Rothaarige in Hotpants und zerschlissenen Netzstrümpfen tippelt vor Schlange und Joswig durchs Tor. Zwei heiße Emo-Mädchen mit dunklen Retro-Brillen lungern auf Bänken neben dem Infoschalter. Die beiden Neuankömmlinge lächeln – welcome to paradise.
Wie echte Teufelskerle betreten sie den heiligen Boden und steuern zum Infoschalter. 80 Euro – der Preis eines Tickets. Ein gnädiger Ablass für echte Freaks. Arbeitslose zahlen 50 Euro. Schlange und Joswig lassen sich akkreditieren. Mit ihren Bändchen am Handgelenk erkunden sie das Gelände.
Großartige Location für ein Festival: ehemalige Kaserne, leicht verwildert, viel Grün. Die Gebäude sind gekennzeichnet vom Charme abbröckelnder Fassaden und leerstehender Ruinen. Der militärische Schmiss ist der Kraft der Subkultur gewichen. Kleine Kinder mit Afros und Iros rennen zwischen Emos und Ethnos, Punks und Proleten, Rockabillys und Metallern hindurch. Mütter mit Bullenringen in der Nase stillen ihre Babys, greise Rock-Veteranen laufen Patrouille, Grüppchen hocken zusammen und machen Musik. The Spirit of Woodstock.
Als sich die Jesus Freaks vor knapp zwei Jahrzehnten zu einer christlichen Bewegung zusammen schlossen, nahmen sie die Jesus People zum Vorbild, ein klerikales Überbleibsel der amerikanischen Hippiekultur der 60er und 70er Jahre. Jung, christlich und verrückt, wollte man damals sein. Die Freaks sind die Kinder der Flower Power-Ära. Frei im Geist, ohne Konventionen und Schranken. Einzig die Ergebenheit und grenzenlose Liebe zum Heiland ist wichtig.
Zwischen den Zelten sind Girlanden aus alten Stoffresten gespannt, der Asphalt ist bunt von Malkreide und vor den Eingängen zu den verschiedenen Bühnen und Clubs für Punk, Metal und Electro-Musik, die sich teilweise in den Kasernen-Kellnern verlieren, stehen selbstgemalte Schilder aus Schwarzlichtfarben.
Schlange und Joswig kommen in Festivalstimmung. Frauen in natürlicher Schönheit. Typen mit Schnäuzern und faustgroßen Tunneln in den Ohrläppchen. Junge Familien mit Bollerwagen und Skateboard. Style, Kreativität und viel Liebe fürs Detail. Hier marschiert der Individualismus in Gottes Gleichschritt. Goa-Party im Christen-Mantel. Piercings, Tattoos, Dreads, Batikhosen und riesige Hornbrillen. Lifestyle pur. Die beiden Reporter arbeiten sich immer tiefer hinein. Jeder lächelt sie an, die meisten grüßen freundlich.
Auf der Hauptbühne erzählt ein junges Mädchen von ihren Pilgererfahrungen, vom Jakobsweg, von den Muschelsymbolen, die in ganz Europa den Pfad zur Pilgerstätte in Santiago de Compostela säumen. Ein Meer von jungen Menschen, Freaks in den unterschiedlichsten Farben und Formen, hat sich um die Bühne versammelt und hört andächtig zu.
Schlange bleibt stehen: „Abgefahren, Alter. Lass uns die Klamotten aus der Karre holen. Ich will hier endlich ankommen.“

Zurück am Parkplatz: Komische Szenen. Otto ist weg, dafür stehen drei Frauen und rund zehn Metalleimer am Ende des Feldes. Kleine Grüppchen wandern auf sie zu, schmeißen Steine in die Tonnen und bekommen etwas von den Mädels in die Hand gedrückt. Joswig betrachtet das Schauspiel.
„Was in Herrgotts Namen tun die da?“
Schlange zuckt mit den Schultern und konzentriert sich darauf Wodka, Soda und Apfelsaft in einer Wasserflasche zu mixen. Er grinst und hält die Pulle hoch: „Saft vom Baum der Erkenntnis!“ Schlanges Erbsünde im 1,5 Liter-Format.

Genesis, Kapitel 3, Vers 12: „Das Weib, das du mir zugestellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.“

Die beiden Teufelskerle latschen mit zwei Steinen zu den Metalleimern und pfeffern sie hinein. Eine süße Brünette reicht jedem eine Leckmuschel, diesen gegossenen Zucker im Plastikförmchen.
„Auspacken, schlecken und über Erlösung nachdenken“, haucht sie sanft. Schlange packt die Muschel in die Tasche. Joswig hat seine bereits aufgerissen und beginnt fleißig zu lecken. Wortlos folgen sie den übrigen Gruppen zu einem Feldweg. Mit Kreide sind Muscheln auf den Boden gezeichnet. Ein Mini-Pilgerweg.
Eine Gruppe junger Dinger wandert vor den beiden Reportern her. Enge Leggings und kurze Röcke. Joswig nimmt seine Muschel vom Mund. „Oh, Mann. Wie soll man denn bei so vielen geilen Perlen und ner Leckmuschel im Maul über Erlösung nachdenken? Das ist doch völliger Irrsinn.“
Schlange grinst. „Umdrehen, Zelt aufbauen und weiter trinken?“
Joswig nickt und schmeißt die Muschel weg.
Die zwei machen Kehrt und laufen gegen den Strom der Pilgerer zum Wagen zurück. Böse Blicke und stumme Flüche. Sind Gottes Wege Einbahnstraßen?

Erster Brief an Thimoteus, Kapitel 5, Vers 15: „Denn es sind schon etliche umgewandt dem Satan nach.“

Mit Zelt, Schlaf- und Rucksäcken beladen stehen Schlange und Joswig am Eingang zum Gelände. Eine kleine Blondine ohne BH, dafür aber mit Piercings in den Grübchen kontrolliert die Bänder.
Schlange: „Sag ma, können wir hier überall, wo Platz ist, unser Zelt hinpacken?“
Das Blondchen lächelt. „Ja, klar. Auf allen Wiesen. Nur nicht auf den Straßen.“
Joswig prustet. „Äh, schon klar. Man bekommt ja auch so schlecht die Heringe in den Asphalt.“
Die Maus schreckt auf. „Nein, nein, nein, das ist doch verboten. Nur auf den Wiesen.“
Schlange und Joswig wechseln wortlos einen Blick. Jesus liebt alle Menschen.

Die Sonne brennt unbarmherzig vom Firmament. Schattenplätze sind ausnahmslos belegt, Zeltstädte haben sich dicht gedrängt um die Bäume zum kühlen Sit-in versammelt. Kaum Alternativen. Schlange und Joswig schleppen sich über den Platz. Schweißgetränkt, stöhnend und erschöpft.
„Boar, lass uns hier bleiben.“ Direkt in der Mitte des Festivalgeländes auf einer kleinen Landzunge neben dem Hauptverkehrsweg bleibt Joswig stehen. Zum Toilettenhaus, zu den Fressbuden, den Bühnen, zu dem Info- und Seelsorgezelt keine zwanzig Meter. Die dröhnenden Lautsprecherboxen, die gröhlende Menge, die kotzenden Teenies – ab 23 Uhr für die beiden Teufelskerle kein Schlafhindernis. Erfahrungswert.
„Und da campen Schweizer direkt neben uns. Die Schweiz ist immer neutral.“ Joswig lässt seine Brocken fallen. Zeltaufbau.

„Scheiße, ist das heiß.“ Schlange wischt sich die Stirn trocken. Schwarzes T-Shirt, Jeans, Turnschuhe – nicht das ideale Outfit für diese Hitze.
„Dann zieh dir ne kurze Buchse und nen paar Flip Flops an.“
„Hab ich nicht dabei. Nur die Klamotten, die ich trage, und zwei T-Shirts zum Wechseln.“
„Schlechte Vorbereitung.“
„Ach, Scheiße“, knurrt Schlange. „Schlechte Vorbereitung. Im Wetterbericht stand kühl und bewölkt. Son Scheiß. Ich hab noch nicht mal Flip Flops dabei.“
Joswig schaut auf seine Flip Flops, grinst. „Mal wieder.“
„Ja, mal wieder.“ Schlange schmeißt seinen Rucksack ins Zelt und schnappt sich die Flasche Wodka. „Warte nur ab, Gott lässt niemanden ungestraft davonkommen. Du kleiner Ginger wirst hier auch noch dein Fett weg kriegen.“ Er nimmt einen Schluck Wodka. „Kennst doch den Spruch: Rote Haare Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen.“

Später Nachmittag. Joswig sitzt mit nackten Füßen und einer Kippe im Mundwinkel vor dem Iglu, trinkt Bier und wartet auf Schlange. Sein Kompagnon ist auf Feinripp und barfuß umgestiegen und mit dem einzigen Paar Flip Flops zum Klo verschwunden.
„Bibelstellen für einen Euro! Ich lese Bibelstellen für einen Euro!“ Melodisch skandierend läuft ein kleiner Bursche über die Straße: Mittelscheitel, lange Haare, eingefallene Wangen. Höchstens 1,65 Meter. Bei jedem federnden Schritt wippen seine Haare auf und ab. „Ich lese für euch aus der Bibel. Nur einen Euro.“ Seine Stimme hat einen nervigen Helium-Ton.
„Ey, komma her.“ Joswig, der rotgelockte Beelzebub, winkt den Burschen herbei.
„Ja, was kann ich dir vorlesen?“ Nervös zappelnd wie ein Junkie auf Entzug hockt sich der Typ vor das Iglu-Zelt und rollt wild die blassen Augen.
„Was gefällt dir denn am besten aus der Bibel?“, nöhlt Joswig mäßig interessiert.
„Was mir am besten gefällt? Ähm, lass mal überlegen.“ Die kleine Speed-Birne hibbelt auf und ab. Hektisch und rastlos, von der Frage überfordert. „Ähm, vielleicht die zehn Gebote? Die find ich echt saugeil.“
„Dann lass mal hören.“ Der rothaarige Teufel lehnt sich zurück.
Weil der fahrige Vorleser nicht die passende Bibelstelle findet, rezitiert er aus dem Gedächtnis. Nach den ersten Geboten kommt der Freak ins Straucheln. „Ähm, Du sollst keine anderen Götter neben ihm haben.“
Ein ermutigendes „Ja“ von Joswig.
„Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Pause. Nervöses Wippen. „Joa, jetzt weiß ich schon nicht mehr.“
„Das waren aber nicht viele.“
„Nee, nee, warte. Du sollst das Weib deines Nächsten nicht begehren.“
Joswigs Blick schweift ab. „Okay, fünf.“
„Ich war schon bei fünf“, kontert der Zappelphilipp schnippisch.
„Ah so. Also sechs.“
„Ja.“
„Nicht schlecht. Dann lies was vor.“
„Oh, Mann. Ich und lesen … Aber ist eigentlich ganz gut, dann lerne ich das auch mal.“ Er stammelt los. Irgendeine beliebige Stelle. Joswig lässt sich nach hinten fallen. Ein Euro – müssten sechs Gebote nicht nur 60 Cent kosten?

Bis zum Treffen mit dem Pressesprecher des Freakstocks, Martin C. Hünerhoff, um halb acht streunen die beiden Teufelskerle über den Platz. Joswig hält sich eisern am Bier fest, Schlange bleibt beim Saft der Erkenntnis. Süffiger Sündenfall.
Von der großen Herzstück-Bühne, dem Mittelpunkt des ganzen Musikgeschehens, dröhnt Crustcore-Geknüppel, im souterrain gelegenen Raketenklub wummert Electro, auf der Openstage im Keller der Kasernenkapelle hat sich irgendeine Punkband breit gemacht und schrammelt fromm vor sich hin. Hinter den Punks ein gekreuzigter Jesus in Schwarzlichtfarben auf einem Bettlaken an die rohe Kellerwand genagelt. Typen mit krassen Christen-Shirts laufen über den Platz – mit „Jesus Demon Hunter“ oder „Jesus Terror Force“ auf der Brust. Tätowierte Glatzen und Schnauzbärte in ungewöhnlich hoher Anzahl. Schlange streicht sich über die Mundwinkel. Die ganze Kaserne ein einziger freaky Laufsteg voller Hipster.
Hünerhoff hat sein Büro im Gebäude des Informationsschalters am Festivaleingang – zusammen mit den Helferräumen und dem Arbeitsamt des Freakstocks. Schlange klopft an die trübe Milchglastür und wankt ins Büro. Joswig hinterher. Hünerhoff sitzt in einem karg eingerichteten Büro vor einem kleinen Fenster und telefoniert. Der Schreibtisch, die Möbel noch immer im spartanischen Kasernenlook der 70er Jahre. Schlange streift seine Wodkaflasche ab, die er mit einer rotweißen Schlaufe aus Absperrband über der Schulter trägt, und lässt sie dumpf zu Boden fallen.
„So, ihr seid also die Jungs von der Presse.“
„Jipp.“
Hünerhoff legt sein Iphone beiseite und beugt sich über den Tisch. Ein weicher Typ, vielleicht Anfang dreißig, mit schelmischem Gesicht und Emo-Scheitel. Seine schwarze Kunstlederjacke glänzt in der einfallenden Abendsonne. Der Michael Knight der Jesus Freaks.
„So, was kann ich euch zum Festival erzählen?“
„Ich weiß nicht, hasse erstma sowas wie ne Pressemappe zum Freakstock?“ Schlange lallt. Buchstaben bleiben auf dem Weg nach draußen unter seinem Gaumen kleben. Er dreht sich zu Joswig, der prompt die Konversation und das Notieren der relevanten Informationen übernimmt.
Das erste Freakstock fand 1995 in Wiesbaden statt, seit vergangenem Jahr wird nach Borgentreich in die Kaserne geladen. Das Gelände gehört der koptischen Kirche und wird den Freaks frei zur Verfügung gestellt. Einige Kopten-Familien wohnen fest auf dem Kasernenhof. Neben den Konzerten werden auch viele Workshops angeboten – von Kunstkursen über Bibelarbeit bis hin zur Reparatur von alten Autos. Nach eigenen Angaben sind 4000 Besucher vor Ort.
„Und kannst du uns auch noch was zu den Jesus Freaks an sich erzählen?“, hakt Joswig nach.
„Ach, da kenn ich jemanden, der euch das viel besser erzählen kann.“ Hünerhoff schaut auf seine Uhr. „Martin Dreyer, einer der Gründer der Freaks, liest gerade aus der Volxbibel im Artland.“
„Volxbibel?“
„Ja, ja, eine freie Bibelübersetzung von ihm in Jugendsprache. Bei manchen umstritten, aber ganz interessant. Könnten wir noch schaffen.“
Schlange schnappt seine Flasche und steht wankend auf. „Dann nichts wie hin.“

Das Artland ist ein kleines, grün überwuchertes Haus am Rande des Geländes. Biergartentische und Bänke laden unter einem Dach aus Kletterpflanzen zum abendlichen Plausch. Schrebergarten-Ambiente auf dem Freak-Festival. Die beiden betrunkenen Teufelskerle torkeln an den Bänken vorbei hinter Hünerhoff ins Gebäude.
Keine zehn Zuhörer hocken um eine kleine Bühne, auf der ein Bursche mit Basecap und ärmellosem Shirt sitzt – Martin Dreyer, der Gründer der Jesus Freaks. Die drei Neuankömmlinge stellen sich abseits in den Eingang zum Saal, den Blick zum Podium gewandt.
Dreyer, Baujahr 65, spricht mit weicher, eindringlicher Stimme. Ein großer Mensch, hünenhaft, mit kräftigen Armen und sanftem Blick. Sympathisch erzählt er seinem Publikum von der Geschichte Jesu Christi.
„Boar, ich glaub, ich geh jetzt erstma pissen.“ Schlange haut Joswig in den Rücken. „Gib ma die Flip Flops.“

Als er vom Klo zurückkommt, schießt er Joswig die Schlappen vor die Füße. Der Beelzebub verschwindet. Bei seiner Rückkehr sieht er Schlange hinter Hünerhoff am Boden krauchen und Geldmünzen aufsammeln.
„Alter, was machst du da?“
Schlange steckt Geld in sein Portemonnaie. „Ist schon gut. Ich mach das schon. Alles unter Kontrolle. Aus dem bekackten Ding fällt immer alles raus.“
Dreyer ist mittlerweile mit seiner Lesung durch. Die zwei Festival-Reporter haben außer ein paar Satzfragmenten (Jesus, Volxbibel, Jesus, Jesus, Tschüss) nichts mitbekommen. Hünerhoff dreht sich zu Joswig. „So, der Martin kommt gleich raus zu den Tischen. Dann stell ich euch vor und ihr könnt noch ein bisschen reden. Kommt ihr mit?“
„Alles klar.“ Joswig lächelt. Schlange ruft unter einem Tisch hervor. „Kleinen Moment, bin sofort da.“

Dreyer sitzt an einem der Biergartentische vor dem Artland, Schlange und Joswig ihm gegenüber. Joswig fragt und notiert, Schlange lächelt schief.
„Wie kam es genau zur Gründung der Freaks?“
Dreyer hat dunkle Frauenaugen. Geschwungen, als seien sie mit Kajal umrandet. Wässrig und ein bisschen traurig. Er schaut Joswig freundlich an. Die Jesus Freaks wurden 1991 in seinem Wohnzimmer im Hamburger Schanzenviertel gegründet. „Weil wir in den Pfarrheimen nicht rauchen durften“, sagt er. „Gott hat dafür gesorgt, dass man sich gefunden hat.“ Mittlerweile gäbe es über hundert Freak-Gemeinden in ganz Europa.
Er nimmt einen Schluck Wasser. Dreyer ist freikirchlicher Pastor, Drogenberater, Ex-Junkie und Charismat. „Die Volxbibel habe ich geschrieben, weil ich eine Bibel haben wollte, die jeder versteht. Auch die unteren Bildungsschichten, auch der Mehmet bei mir im Jugendzentrum.“ Die Volxbibel sei eine sehr freie Übersetzung. „Ich sag immer Übersetzung, weil Übertragung zu missverständlich ist. Der Mehmet denkt dann an Fußball-Übertragung.“ Immer dieser Mehmet.
„Hast du die Original-Texte als Grundlage genommen?“
„Irgendwie schon. Ich habe ein Word-Dokument mit vier Spalten aufgezogen. In die ersten drei kamen die Luther-, die Elberfelder- und die Gute-Nachricht-Bibel. Die vierte Spalte habe ich dann selber gefüllt.“ Mittlerweile sei die Volxbibel, die bei ihrer vierten Auflage liegt (Volxbibel 1.0, 2.0, 3.0, 3.0 reloaded), zu einem Opensource-Projekt nach dem Wiki-Prinzip gewachsen. Von fast tausend Usern seien die Wiki-Seiten 1,2 Millionen Mal aufgerufen worden. Buchauflage 150.000. (Anmerkung: Jeder kann mitschreiben. Einer der Wikiuser zur Volxbibel 3.0 reloaded arbeitete unter dem prophetischen Pseudonym „Esgibtkeinengott“. Auch ihm wurde herzlichst gedankt.)
Joswig schaut auf. „Noch ein abschließendes Motto für unsere Leser.“
Dreyer schießt aus der Pistole. „Lebe Jesusmäßig! Das Wichtigste ist dabei die Liebe. Liebe Gott, Deinen Nächsten und Dich Selbst.“
„Danke.“ Schlange und Joswig wanken zum Zelt.

Es ist halb zwölf. Joswig bleibt vor dem Iglu sitzen, raucht und trinkt Bier, Schlange knallt sich in den Schlafsack. Durch die Zeltwand hindurch hört er irgendwann Stimmen. Ein Mädel hat sich zu Joswig gesetzt und erzählt – vom Glauben, von der Liebe zu Jesus und der Unabhängigkeit von der Institution Kirche. Schlange schläft ein.

Der erste Brief des Petrus, Kapitel 3, Vers 12, Volxbibel-Übersetzung: Gott sieht auf die Leute, die okay für ihn leben, und er hört auf ihre Gebete. Wer aber Sachen tut, die Gott nicht will, auf den hat er überhaupt keinen Bock.

Der nächste Morgen, aufstehen. Direkt tapert Joswig schlaftrunken zum Frühstückszelt. Kaffee, er braucht Kaffee. Weiße Pavillons vor einem der Kasernenhäuser. Die ersten Helfer tragen Brötchen, Säfte und Kaffee raus, stellen alles unter die weißen Zelte zum Verkauf.
„Morgen“, trällert Joswig übertrieben zu einer Perle mit Dreads und Nasenpiercing. „Kann ich hier nen Kaffee bekommen?“
Die Frühstücksperle gibt sich konfus: „Ja, nee. Hier gibts nur komplettes Frühstück.“
Joswigs Lächeln gefriert. Er mault: „Och, komm. Ich will doch nur eine Tasse Kaffee.“
„Nee, du. Is nicht. Hier nur komplett. Kaffee gibts am Kaffeezelt anner Mainstage.“
Joswig wirft einen letzten Blick auf die dampfenden Kannen unter dem Pavillon und trottet gefrustet zurück zum Iglu. Herr, schmeiß Kaffee vom Himmel.

Schlange sitzt vor dem Zelt in der Sonne und erwartet ihn bereits. „Ich brauch die Flip Flops für meine Morgentoilette.“, brüllt er. Joswig schmeißt ihm die Schlappen widerwillig hin. Verdammter Kaffee-Entzug. „Danke sehr“, trällert Schlange übertrieben zurück.
Auf dem Weg zum Klo liegt ein junges Pärchen gemeinsam auf einer Bank im Sonnenlicht. Er hat seinen Kopf in ihren Schoß gelegt. Sie streicht durch sein Haar und erzählt: „Du, ganz ehrlich. Ich glaub, der Teufel ist für Männer ne total heiße Blondine und für Frauen ein echt heißer Typ. Es geht immer um die Schwachpunkte, weißt du?“ Die beiden sind vielleicht 13. Schlange geht weiter. Der Teufel will gerade nichts als Kaffee.

Der zweite Brief an die Korinther, Kapitel 4, Vers 4, Volxbibel-Übersetzung: Satan, der ja in dieser Welt das Sagen hat, kann die Gedanken von den Leuten, die Gott nicht vertrauen, total verwirren. Er hat dafür gesorgt, dass sie überhaupt nicht begreifen, wie toll Gott ist. So können sie überhaupt nicht begreifen, was abgeht, wenn wir von unserer superneuen Neuigkeit reden, dass Jesus wirklich Gott ist, der zu uns auf die Erde runtergekommen ist.

Erneute Schlappenübergabe am Iglu. Joswig zieht eilig zur Mainstage – auf der Suche nach dem Kaffeezelt. Vergebens. Letztlich landet er an Krugels Coffee Bar, eine Festival-Version von Starbucks. Die Bibel gibt es bereits für 1,50 Euro zu kaufen. Kaffee 2,50 Euro. Göttliche Preispolitik auf dem Freakstock.

Zwei Burschen latschen an Schlange vorbei, der dösend auf seinem Schlafsack in der Sonne liegt. „Es geht immer darum, die Herrlichkeit des Herrn zu feiern – in seinem ganzen Ausmaß.“ Kinder rennen schrill lachend zwischen den Zelten hindurch. Die letzten Worte, die Schlange noch hören kann, sind: „Und das geht nur so.“ Der Typ breitet seine Arme aus, als wolle er den Jesus am Kreuz geben. Abgefahren. Schlange lässt seinen schmerzenden Schädel auf die Isomatte fallen.

Gemeinsames Frühstück um 9.30 Uhr. Schlange: Brot mit Buko. Joswig: Brot mit Buko und Tomatenmark, dazu einen Kaffee. Die Stimmung ist gedämpft. Die zwei Teufelskerle versuchen den gestrigen Abend zu rekonstruieren. Von seinem nächtlichen Besuch weiß Joswig nichts mehr – weder Gesprächsthema, Aussehen noch Uhrzeit. Notizen wurden nicht gemacht.

„Guten Morgen, hier kommt die FAZ, die tägliche Zeitung hier vom Platz!“ Der nervige Zappelphilipp mit der Heliumstimme läuft über die Straße, flötet mit einem unerträglichen Frohsinn und Elan zwischen den Zelten hindurch, verteilt das Festivalblättchen. Die „Freakstock Allgemeine Zeitung“ – die FAZ, zwei ineinander gefaltete Din A4-Blätter im Schwarz-Weiß-Druck. Der Inhalt am Samstag: der Wehmutsbericht eines nicht anwesenden Freaks, eine dreischrittige Anleitung, das Evangelium Ungläubigen näher zu bringen und ein ominöser Workshop unter dem Titel „Pimp your horse“, Mähnenextensions, Nüsterngloss und Arsch-Airbrush für den Klepper. Schlange und Joswig konnten den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nicht überprüfen – wollten sie auch nicht.

Die ersten Freaks kommen von den Duschen. Parade der Festival T-Shirts mit jeder Menge frommen Sprüchen in der Aufdruck-Palette: „Christuspunk“, „He died for me“, „Samba 4 Jesus“ und der „Jesusmeinmeister“ im Jägermeister-Look. Individuelle Shirts in kleiner Auflage. Auf dem Skateboard eines 12-Jährigen mit riesiger Pilotenbrille ist in Rot das Wort Jesus gesprüht. Hinter ihm marschiert ein Typ am Iglu vorbei. Superfetter Rasputin-Vollbart, tätowiert und eine Bibel unter dem Arm. Das Buch der Bücher ist voller Lesezeichen. Er verschwindet mit der Bibel im Toilettenhäuschen.

Aus den Zeltburgen klingen schüchterne Gitarren, Kinder laufen über den Platz. Auf ihren Ärmchen oder ihren Pulloverchen kleben Zettel mit den Handynummern ihrer Eltern (ein Tipp aus er FAZ, ein weiterer Tipp: Immer etwas zu knabbern für die Kleinen dabei haben – zum Beispiel Reiswaffeln). Schöne heile Welt – keine Diebe, keine Dealer, keine Raufbolde. Süße Sorglosigkeit, Frieden überall. Schlange und Joswig strolchen über das Festivalgelände. Die ersten Gruppen haben sich bereits am Wegesrand, auf den Wiesen und im Schatten der Bäume versammelt, um gemeinsam den Tag mit einem Gebet zu begrüßen. Gläubiges Geflüster legt sich über das Gelände, frisst sich unausweichlich in die Ohren der beiden Teufelskerle. Keinen Ausweg, kein Ohropax.
„Alter.“ Schlange knetet sich die Stirn. „Ich kanns schon nicht mehr hören. Jesus, Jesus über alles. Scheiß Kater. Ich brauch ne Aspirin.“
Joswig klopft ihm auf die Schulter. „Jesus Freaks-Festival, mein Freund. Was hast du erwartet außer Frieden und Harmonie?“

Der Brief des Jakobus, Kapitel 1, Vers 16 und 17, Volxbibel-Übersetzung: Lasst euch also nicht für dumm verkaufen, Leute! Alles, was gut ist, alles, an dem man nichts aussetzen kann, kommt von Gott.

Hinter der Herzstück-Bühne haben sich auf einer Wiese rund fünfzig Freaks um einen schwarz gekleideten Rasta-Typen mit dunkler Sonnenbrille geschart – in immer engeren Kreisen wie Wellen um einen versinkenden Stein. Der Rasta-Typ, David Pierce von der Band „no longer music“, predigt auf Englisch. Pierce faselt etwas von einem Muttervogel, der zu seinem Kind spricht, es müsse aus dem Nest fliegen. „Fly or die!“, brüllt er. „Fly or die!“ Raus in die Welt, das sichere Nest allein ist langweilig, es erdrückt dich. „Fly or die!“ Jesus wird immer an deiner Seite sein. „Fly or die!“ Seelige Gesichter, entrücktes Lächeln. Selbstvergessen knien die Freaks vor Pierce. „Wenn Du Dich jetzt aufgerüttelt fühlst, ist das okay“, fügt sein Übersetzer hinzu. „Fühl Dich nicht manipuliert. Kommt einfach näher zusammen.“ Die Wellen um Pierce ziehen sich enger zu. Die Freaks umschließen ihn, nach vorne gebeugt, die Stirn auf ihren Knien. Pierce legt seine Hände auf ihre Köpfe, auf Strickmützen und Käppis. Joswig zuckt zusammen. „Alter, hat der gerade was von be a soldier of god gesagt?“ Schlange presst die Lippen zu schmalen Schlitzen und nickt. „Jipp, Gotteskrieger. Lass uns hier verschwinden.“

Vom Raketenklub hämmern Bässe bis auf die Straße. Joswig zieht Schlange am Arm. „Komm lass uns ma da hin. Ich brauch jetzt nen bisschen Erleichterung.“ Er fuchtelt mit seinen Fäusten in der Luft. „Electro, Alter. Ein bisschen Chillen nach den Gotteskriegern.“ Die beiden steigen die Rampe zu dem Techno-Schuppen runter. Eine leere Lagerhalle, vorne eine kleine Bühne mit DJ-Pult. Freaks sitzen in den Ecken, auf alten Polstermöbeln, haben ihre Augen geschlossen und halten eine geöffnete Handfläche in die Höhe, als wollten sie einen unsichtbaren Baseball aus der Luft pflücken. Auf der Tanzfläche pendeln wie in Trance vereinzelte Techno-Jünger von einem Bein auf das andere, die Arme eng angewinkelt, die Handflächen zur Betondecke gerichtet. Jonglieren mit Gottes Energie. Joswig tänzelt durch den Raum, Schlange lehnt sich an die Betonwand. Auf einmal greift sich der DJ ein Mikro vom Pult und fängt an seine fetten Beats mit Gesang zu unterlegen. „Jesus ist der Größte, er ist unser Schöpfer, er ist Superman.“ Joswig macht abrupt kehrt und läuft mit weit aufgerissenen Augen zu Schlange. Der nickt verständnisvoll. Der DJ weiter: „Du bist ein Vater, Du bist ein Freund, Du bist schrecklich, Du bist gütig, Du wirst mich erlösen.“ Die beiden Reporter verlassen verstört den Raketenklub. Gott ist kein DJ.

„Ich fühle in massivem Geballer Gottes Stärke, und den Ewigkeitsaspekt unserer Existenz mache ich über trancige Passagen deutlich.“
DJ Albrecht Lorenz in der „Freakstock Allgemeine Zeitung“, Samstagsausgabe

Joswig krallt seine Finger in Schlanges Arm. „Wir müssen zurück zum Zelt. Ich brauch Bier, sonst dreh ich durch.“ Große Augen, eindringlicher Blick, dezentes Beben in der Stimme. „Sofort!“
Im Stechschritt geht es zum Iglu, dann das Zippen des Reißverschlusses, das Zischen der Flasche und das erleichterte Durchatmen eines geretteten Verstandes. Joswig lässt sich auf die Wiese fallen.
Schlange nimmt einen Schluck Wasser und baut sich vor ihm auf: „Alter, komm jetzt. Die Workshops fangen gleich im Artland an. Wir sollten schon mal los.“
Joswig nimmt noch einen tiefen Schluck und lässt eine weitere Flasche in seiner Tasche verschwinden.

Auf dem Hauptverkehrsweg trottet Otto den beiden Reportern entgegen.
„Und, mittlerweile bei den Freaks eingelebt?“ Immer noch kein Anflug von Ironie in Ottos Gesicht.
Joswig brummt in sein Bier. Schlange grinst gequält. „So langsam haben wir ne Überdosis Jesus. Sind jetzt aufm Weg zu nem Workshop.“
„Welchen?“, fragt Otto verhalten interessiert.
„Ach, erst wollten wir zu so nem Missionierungsworkshop. Haben uns dann aber für nen anderen entschieden. Auf Gottes Wegen wandeln, oder so. Mal schauen, wie wir das verkraften.“
„Dann mal viel Spaß. Ich werd mir auch noch einen raussuchen. Wart ihr bei dem Lobpreis heute Morgen?“
Joswig lässt die Flasche sinken, sein Mund bleibt offen. „Lobt Reis?“
Otto: „Äh. ja.“
Schlange zieht seinen Freund weiter. „Dämlicher Witz, du Idiot.“
„Wir sehen uns dann später“, ruft er Otto noch über die Schulter zu. Es ist fünf nach zwölf. Der kleine Geek bleibt mal wieder zurück.

Der Brief des Jakobus, Kapitel 1, Vers 9, Volxbibel-Übersetzung: Wenn jemand ganz unten ist, kann er sich freuen, weil er für Gott der Held ist.

Artland, Seminar 15: „Beine in die Hand – auf Gottes Wegen durch mein Leben“, Referent: Stephan Achtermann
Als Schlange vom Rauchen rein in den Saal kommt, sitzt Joswig bereits auf einem Stuhl. Ein freier Platz neben ihm. Erleichterung. Sitzen – Jesus sei Dank. Schlange lässt sich auf den Stuhl fallen.
Auf der Bühne steht ein großer Typ mit blauem „Jesus.“-Shirt, Mitte dreißig, unscheinbares Wesen Kategorie BWL-Student mit Zweitfach Informatik, Nickelbrille, schütteres Haar. Der Raum füllt sich immer mehr mit Zuhörern. Gut 60 Mann drängen nach und nach auf die Stühle, den Boden, in die Ecken oder bleiben an der Wand und im Eingang stehen. Das Seminar scheint großes Interesse zu wecken.
Stephan Achtermann, auch Achti genannt, zieht sein blaues Shirt zurecht und räuspert sich. „Im Leben geht es immer um Entscheidungen. Im Großen wie im Kleinen. Welches Fernsehprogramm will ich schauen? Welche Zahnpasta-Sorte kaufe ich im Supermarkt? Welchen Job wähle ich für mein Leben? In diesem Workshop will ich euch Hilfestellungen geben, Gottes Wege in eurem Leben zu erkennen und ihnen zu folgen.“ Er setzt sich auf die Kante der Bühne und beugt sich nach vorn. „Aber erst mal zu euch. Warum seid ihr hier? Was versprecht ihr euch von diesem Seminar?“
Stille. Unterdrücktes Räuspern.
„Ähm, darf ich?“
Achti schaut auf, dann nickt er aufmunternd einem jungen Burschen in den hinteren Reihen zu. „Sicher. Erzähl.“
„Ich weiß einfach nicht, was Gott von mir haben will. Welchen Job soll ich machen? Welchen Weg soll ich gehen?“ Die Stimme des Burschen ist belegt.
Eine Stimme hinter Schlange und Joswig flüstert: „Lauter.“
Der Bursche fährt in unveränderter Lautstärke fort. „Ich weiß, Gott hat einen Plan für mich. Ich weiß nur nicht, wie ich wissen soll welchen?“ Der Typ ist 17.
Dann meldet sich eine Blondine zu Wort, Mitte zwanzig, hübsch, Minirock und Trägertop. Sie erzählt vom schweren Unfall ihres Vaters, von Orientierungslosigkeit und fehlender Führung. „Ich bin durch so viele Städte gereist. Immer hab ich genau hingehört, ob die Stadt zu mir spricht.“ Sie wischt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Dann bin ich in Hamburg angekommen und ich wusste, hier bin ich richtig. Innerhalb kürzester Zeit hat mir Gott gleich drei Zeichen gesandt. Ich dachte, cool. Drei ist eine geile Zahl. Also bin ich geblieben.“ In dem Workshop wolle sie nun lernen, noch besser auf Gott zu hören.
Joswig tippt Schlange an. „Hat sie nicht grade gesagt, nur die Stadt hat zu ihr gesprochen?“
Schlange nickt: „Gott spricht eben durch alles zu dir. Sogar durch dein Bier.“
Der rote Beelzebub verschluckt sich.
Als nächstes meldet sich ein kleiner Lockenkopf mit neckischem Näschen. „Ich fühl das ähnlich. Ich möchte gerne alle Entscheidungen nach Gottes Willen treffen. Ich weiß, er hat etwas mit mir vor. Ich weiß nur nicht was.“ Job, Heirat, Wohnort – hinter allem steht für Löckchen ein dickes Fragezeichen.

Matthäus, Kapitel 6, Vers 32, Volxbibel-Übersetzung: Der Papa aus dem Himmel hat den genauen Plan, er weiß, was ihr so braucht und was nicht.

Um den ganzen verirrten Lämmern Führung zu schenken, stellt Achti sein 11 Punkte Programm vor: „Entscheidungen nach Gottes Willen treffen“:

0. Punkt: Was ist Deine konkrete Frage? (zum Beispiel: Beruf, Partner, Wohnort)

1. Punkt: Welche Erfahrungen hast Du hinsichtlich dieser Frage gemacht? (Zeigen Erfahrungen aus Deinem Leben in eine bestimmte Richtung?)

2. Punkt: Wie verhält sich Deine Frage zu Deinen Gaben, Neigungen und Abneigungen?

3. Punkt: Hole Dir Meinungen von anderen Menschen ein. (Sowohl von Menschen, die Dich kennen, als auch von Menschen, die Dich nicht kennen.)

4. Punkt: Überschlage die Folgen und Konsequenzen Deiner Entscheidung.

Anmerkung: Bis zu diesem Punkt die logische Vorgehensweise Entscheidungen zu treffen – strukturieren, Möglichkeiten und Wege bewusst machen, unterschiedliche Standpunkte ausloten, die beste Alternative wählen. Der Ungläubige müsste jetzt mit seiner Entscheidung leben, nicht jedoch der Christ.

5. Punkt: „Bete, wenn alles Arbeiten nicht hilft.“ (Ein Luther-Zitat)

Übersetzung für Atheisten: Abwarten und Tee trinken.

6. Punkt: „Arbeite, wenn alles Beten nicht hilft.“ (Die Fortsetzung des Luther-Zitates)

Anmerkung: Logisch.

7. Punkt: Der jesualische Vorbehalt – „nicht mein Wille geschehe, sondern Dein Wille geschehe.“

Anmerkung: Wichtig. Ab diesem Punkt folgt der Christ Gottes Plan. Der Mensch als selbstbestimmtes Individuum wird aus der Verantwortung genommen, kann unbeschwert durch das Leben streifen. Ein geschickter Schachzug.

8. Punkt: Bitte Gott um Hinweise (Hier kannst Du Gott ruhig ein Ultimatum setzen. „Wenn Du mir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt kein Zeichen sendest, Gott, dann entscheide ich mich so.“ O-Ton Achti. Stichwort für Christen: Gideon und das feuchte Vlies)

Anmerkung: Das Prinzip der Self-fulfilling Prophecy – der Mensch erlebt, was er erwartet. Psychische Determination – der Mythos vom Freitag, dem 13., lebt zum Beispiel davon. Zeichen, Missgeschicke und Wunder werden erkannt und gedeutet. Frag die Christen, die wissen, wie es geht.

9. Punkt: Übereinstimmungen mit der Bibel suchen (Hast Du Gottes Wort auf Deiner Seite?)

Anmerkung: Alternativen für Atheisten – Herr der Ringe, Star Wars, Harry Potter, der Otto-Katalog oder das Telefonbuch.

10. Punkt: Triff eine Entscheidung (der wichtigste Punkt)

Anmerkung: Na endlich.

11. Punkt: Wenn die Entscheidung richtig ist, kehrt Frieden ein (Wenn Anfechtungen kommen, gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Du hast Dich verhört, und Gott hat andere Pläne. Oder 2. Satan wirft Dir Steine in den Weg. Such Dir etwas aus.)

Anmerkung: Gottes Wege sind unergründlich. Fange gegebenenfalls wieder bei Punkt Null an.

Ein kurzer Hintergrund zu Achtis Lebenslauf: Der Mann wurde zum Abitur nicht zugelassen („Mathe ist ein Arschloch.“ O-Ton Achti), ist aus seiner kaufmännischen Ausbildung geflogen, hat eine Pflegerausbildung gemacht und sich dann mit 26 überlegt, für eine Schweigewoche ins Kloster zu ziehen. Auf der Suche nach Antworten. Gottes Zeichen fand er schließlich in seiner abonnierten Christen-Zeitschrift – als Beilage zum Thema „Theologie studieren“. Abgefahren. Jetzt ist Achti Dorfpfarrer in Ostfriesland. Das elf Punkte Programm ist unfehlbar.

Matthäus, Kapitel 24, Vers 13: „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig.“

Kurz vor Schluss zeigt ein kleines Mädchen auf. „Entschuldigung, ähm, wie ist das eigentlich mit Zeichen, die man nicht versteht. Gott hat mir prophetische Worte gesandt. Aber ich verstehe sie nicht. Ich hab auch mit ganz vielen Leuten geredet, aber niemand konnte mir helfen.“
Achti kneift die Augen zusammen. „Hmm, da kann ich dir schlecht helfen. Mit prophetischen Worten beschäftigt sich ein anderer Workshop. Trotzdem: Lass uns nachher noch einmal unter vier Augen reden.“

Schlange und Joswig stürmen aus dem Tanzsaal. Joswig fassungslos, Schlange stinkwütend. „Was für ein bodenloser Schwachsinn.“ Schlanges Backenzähne mahlen. „Eigenverantwortung für den Arsch, Alter. Ich will zum Zelt. Jetzt brauch ich auch nen Schluck und verdammt noch mal etwas Ruhe. Scheiße.“
Auf dem Weg zum Iglu bleibt Joswig wie angewurzelt stehen. „Schlange, da vorne rennt ein Pastor.“
Als sein Freund rüber schaut, entdeckt der Pfaffe die zwei Teufelskerle und stürmt wie ein Derwisch in seinem schwarzen Talar auf die beiden zu – einen dicken Mann mit Halbglatze und glasigem Blick im Schlepptau.
„Jesus liebt euch!“ Die Augen des Pfarrers sind so stechend wie die Schmerzen in Schlanges Hand, als sie der Geistliche zu fassen bekommt. Aschgraue Augen voller Wahnsinn. Seine ausgebleichten Haare hat er zu einem quadratischen Igel scheren lassen, wie es alte Männer tun, um im hohen Alter flott auszusehen. „Wir sind alle Kinder Gottes!“, brüllt er Schlange ins Gesicht.
Der Anblick dieses Teufels hat den Reporter gelähmt. „Ähm, ja. Sicher. Selbstverständlich“, stammelt er. Alle Meldungen der vergangenen Monate, Mixa, Odenwald, die Jesuitenorden, alles bekommt gerade ein Gesicht.
Der Pfarrer greift nach Joswigs Hand. Der Schraubstock zieht zu. „Er ist für uns gestorben“, schreit er. Der zweite Reporter reagiert ebenso perplex.
„Ja, ist doch schön, oder nicht?“
Der dicke Begleiter hat den Pfarrer mittlerweile eingeholt und stellt sich neben ihn. „Er ist für uns gestorben. Ja, ja, er ist für uns gestorben“, wiederholt er das Mantra immer wieder. Der Pastor ist Bruder in einem Behinderten-Stift.
Wie verängstigte Hunde schleichen Schlange und Joswig von dannen. Die Schwänze zwischen den Beinen eingezogen.

Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel. Die Reporter liegen lethargisch vor ihrem Zelt, rauchen, trinken und beobachten fassungslos die Szenen vor dem Seelsorgezelt. Im Akkord brechen Leute in Tränen aus, werden umarmt und getröstet. Emotionen liegen blank.
„Und, wie war euer Workshop?“ Otto ist wieder da und lächelt die beiden schüchtern an.
Joswig stützt sich auf die Ellenbogen und schaut hoch: „Abgefahren. Völlig abgefahren. Kurz zusammengefasst: Entweder schmeißt Dir Gott Steine in den Weg oder Satan. Einer von beiden. Insgesamt recht schwammig, oder?“
„Mmhh, stimmt.“ Otto verzieht kaum eine Miene.
„Und, welchen Workshop hast du dir reingezogen?“ Schlange hat sich ebenfalls aufgerichtet.
„Och, ich war bei der Traumdeutung.“ Otto kratzt sich am Kopf. „War aber auch nicht so toll. Ob du die richtige Frau gefunden hast, erfährst du, wenn du den richtigen Traum hast.“ Ottos rechter Mundwinkel zieht sich ein Stück nach oben. „Na ja, ist ja irgendwie blöd. Soll ich jetzt so lange warten, bis ich den richtigen Traum habe?“ Für den Bruchteil einer Sekunden liegt ein Hauch Sehnsucht in Ottos Blick.
„Das hilft mir doch nicht weiter.“
Schlange und Joswig nicken mifühlend. Mit leicht gesenktem Kopf zieht Otto weiter.

Große Messe auf der Herzstück-Bühne, Modulseminar der Gemeinde Berlin: Der Platz vor der Bühne ist voll. Freaks stehen mit geöffneten Armen und geschlossenen Augen, singen, tanzen. Tränen laufen ihnen übers Gesicht. Religiöse Verzückung, höhere Sphären, göttliche Energien. Selbstvergessenheit wabert in der Luft. In Trance bewegen sich die Freaks zu dem Geknüppel, das von der Bühne her schallt. Menschen sitzen, knien und verstecken ihre Gesichter hinter den Händen. Über die nackte Brust eines Typen ist „Love, Faith and Hope“ tätowiert. Er bewegt stumm die Lippen zur Musik. Freakiger Gotteskult.
In Joswigs Tasche gluckern drei Plastikbiere, um Schlanges Schulter baumelt an ihrem rotweißen Absperrband die Flasche mit dem Wodka-Apfel-Mix. Gemeinsam kämpfen sie sich durch die entrückten Jesus-Jünger und knallen ihre Körper auf die Wiese. Alk versus Jesus.

Matthäus, Kapitel 6, Vers 25, Volxbibel-Übersetzung: Das Leben besteht aus mehr, als nur zu futtern und cool auszusehen.

Martin Dreyer steht auf der Bühne und ruft der Menge entgegen: „Es gibt Menschen, die sind auf der Flucht vor Gott, weil sie zu viel Scheiße gebaut haben. Ihr Geist ist versifft.“
Joswig beugt sich zu Schlange. „Alter, gib mir ma n Schluck von deiner Flasche.“ Schlange reicht den Saft der Erkenntnis weiter.
Vor ihnen lässt eine kleine Brünette ihre Hüften ekstatisch kreisen. Den Blick zur Bühne gewandt, den Hintern zu den beiden Teufelskerlen. Dickes braunes Haar schmiegt sich an das enge Top. Arschbacken drücken gegen den dünnen Stoff ihrer Harems-Hose. Verdammt verführerisch.
„Ihr müsst es wollen.“ Die Predigt dröhnt weiter aus großen Lautsprecherboxen „Jesus, ich will diese Scheiße nicht mehr. Sagt es: Ich will nicht mehr auf Frauenhintern schauen.“
Die Teufelskerle zucken. Das muss man ihm lassen, Gott hat Gefühl für Timing.

Korinther, Kapitel 10, Vers 7 und 8, Volxbibel-Übersetzung: Das Volk feiert derbe Partys, nach dem Motto: Saufen und spachteln, bis der Arzt kommt. Das Gleiche gilt für ätzende Sexsachen. Lasst bloß die Finger davon, das haben einige von denen auch gebracht! Dadurch sind nach alten Berichten an nur einem einzigen Tag dreiundzwanzigtausend Menschen gestorben.

„Ich habe mit Gott gesprochen, ja, er hat echt zu mir gesprochen“, lärmt es von der Mainstage. „Und dann, Leute, dann habe ich die Menschen ohne Masken gesehen. Echt jetzt.“ Zustimmendes Raunen in der Menge. „Ohne Coolness-Maske.“ Beifall. „Ohne Piercing- oder Tätowiermaske.“ Pfiffe. „Ohne Armani-Masken.“ Tosender Applaus.
Eine Band formiert sich auf der Bühne. Der Sänger schreit ins Mikro. „Leute, ich möchte jetzt echt gern ein Lied mit euch singen. Passt gut auf, das Lied geht so: „Jesus, ich will alles von Dir sehen.“ Habt ihr verstanden?“ Schreie aus dem Publikum. „Also, Leute, lasst uns zu Jesus singen, da hab ich jetzt Bock drauf.“
Direkt neben Schlange und Joswig bricht ein kleines Mädchen mit bunten Bändern im Haar in Tränen aus. Ihr Freund, ein kräftiger Kerl mit einem gekreuzigten Jesus auf der tätowierten Wade, kniet sich hinter sie, streicht ihr über den Rücken, flüstert beruhigende Worte. Am Gestell eines Kinderwagens, in dem zwei kleine Knirpse hocken, klebt ein Christen-Fisch. Die junge Mutter dahinter ist wieder schwanger, der glückliche Vater trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Taufe – die geilste Form der Beerdigung“. Egal wohin die beiden Reporter schauen, Christen, Glauben und Frömmigkeit bis zum Erbrechen. Jesus is in the air.
Das Christ-Core-Geknüppel ebbt ab, das Mikro wird weitergereicht. „Es gibt hier Menschen, die fühlen sich nichts wert. Leute, hört auf mit dieser Scheiße. Echt jetzt. Schreibt die Scheiße auf einen Zettel und schmeißt ihn in diese Tonne!“
Vor der Bühne haben die Freaks ein großes Metallfass aufgestellt, eine Sündentonne für den symbolischen Akt seine Laster den lodernden Flammen zu übergeben. Ganz nach dem Motto: Wenn das Feuer in der Tonne brennt, Deine Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel rennt.
„Vielleicht hast Du Angst, Gott die Kontrolle zu geben. Vielleicht hast Du Angst vor dem Heiligen Geist. Mann, das ist echt doof.“
Joswig prustet los. Glucksend fällt sein Kopf nach vorn und verbeißt sich in seinem Handballen. Die Lautsprecherboxen plärren erbarmungslos weiter. „Schreib Deine Angst auf einen Zettel. Schreib Deinen scheiß Stolz auf Deinen Zettel und schmeiß ihn in diese scheiß Tonne.“
Joswig quiekt. „Klopp Deinen Stolz in die Tonne.“
Schlange kneift ihm mit aller Kraft in den Rücken. „Alter, reiß dich zusammen. Die bringen uns hier um.“ Tränen laufen über das Gesicht des kichernden Beelzebubs. „Wieso? Ich weine doch nur“, presst er gibbelnd hervor.
Schlange bleibt ernst: „Ja, dicke Judas-Tränen. Alter, das ist kein Spaß. Wir sind umgeben von Fundamentalisten.“
Durch die Christenmeute kämpft sich der Zappelphilipp mit der Heliumstimme – einen Stapel Blätter in der einen, eine Tüte Stifte in der anderen Hand. Er singt: „Zettel und Kulis. Zettel und Kulis. Wer braucht noch einen Zettel und einen Kuli?“ Joswig wischt sein Gesicht trocken, die Züge verhärten sich. „Boar, so langsam kann ich diese Stimme nicht mehr ertragen. Ich bring den Mann um.“
Schlange steht auf. „Komm, wir gehen.“

Korinther, Kapitel 6, Vers 8, Volxbibel-Übersetzung: Wir ziehen unser Ding durch, egal, ob Leute uns toll, crazy oder peinlich finden, ob man uns lobt oder Witze über uns macht.

22 Uhr, Volxbibel-Lesung mit Martin Dreyer im Artland, die letzte Volxbibel-Lesung auf einem Freakstock ever:
Die beiden Teufelskerle kommen zu spät. Dieses Mal mit neu verteilten Rollen: Joswig taumelt, Schlange muss mit Dreyer reden. Der Saal ist voll, der Jesus Freaks-Gründer liest bereits. Dicht gedrängt hocken seine Jünger auf dem Boden und horchen aufmerksam den weisen Worten der Volxbibel: So führte zum Beispiel der Komet die Heiligen Drei Könige wie ein GPS-System zum Jesus-Kind, David gegen Goliath war der Fight Taschenmesser versus Pumpgun, bei dem David Goliath mit seinem Messerchen den Kopf abschnitt, und bei der Speisung der 5000 tritt Jesus in direkte Konkurrenz mit McDonald’s. Natürlich mit Erfolg. Wow.
Joswig taumelt beängstigend durch die sitzenden Freaks, schafft es, niemandem auf die Finger zu treten und an der Wand rechts von der Bühne mit dem Rücken zu Boden zu gleiten. Er lässt zur Belohnung ein neues Bierchen zischen. Schlange nimmt neben ihm Platz.
Alle Gesichter sind gebannt auf Dreyer gerichtet, schlürfen jedes Wort von seinen Lippen, als seien es die Tropfen der Erkenntnis. Mit einem müden Lächeln nuckelt Schlange an seiner Wodkaflasche.
Der Vortrag ist gut, die Zuhörer gefesselt. Dreyer wagt es im Augenblick totaler Hörigkeit, auf seine Kritiker zu schießen. „Manche werfen der Volxbibel ja vor, sie sei in hingerotzter Gossensprache geschrieben.“ Ein erhabener Ausdruck gleitet über sein Gesicht. „Damit hab ich kein Problem. Jesus hat Aramäisch gesprochen, die Sprache der Menschen. Das neue Testament wurde auf Koine-Griechisch verfasst, das Griechisch der Straße.“ Für Dreyer sei eben auch die Gosse eine Welt, die eine Bibel brauche. Wäre Jesus zur heutigen Zeit auf die Erde gekommen, er hätte sich im Schanzenviertel mit den Huren und Junkies unterhalten, hätte jeden ihrer Namen gekannt. Sauber.
Außerdem habe die Volxbibel in den neueren Auflagen eine „Entfäkalisierung“ erfahren. „Anfangs fand sich allein im Matthäus-Evangelium 68 Mal das Wort Scheiße. Jetzt ist es so gut wie verschwunden.“
Sogar dem Papst persönlich habe Dreyer schon eine Volxbibel geschickt. Ein Brief seines persönlichen Sekretärs aus dem Staatssekretariat für allgemeine Angelegenheiten des Vatikans kam zurück. Die Volxbibel sei „wohlwollend“ zur Kenntnis genommen worden, sich in ihrem Versuch Jugendjargon abzubilden, auch an Nichtchristen wenden zu können. Als offizielle Bibelübersetzung wolle sie der Vatikan allerdings nicht anerkennen.
Anerkennung im Publikum.

Matthäus, Kapitel 7, Vers 28 und 29, Volxbibel-Übersetzung: Nachdem Jesus am Ende mit seiner Rede war, waren die Leute total baff über seine krassen Ansagen. Denn was er sagte, strahlte Kraft aus und war nicht so ein dünnes Gelaber, wie es die religiösen Profis immer abgelassen hatten.

Dreyers Fazit: „Man kann sagen, aus der Volxbibel ist eine Erfolxbibel geworden.“
Nach der Lesung sammeln sich die Lämmer um ihren Guru.
„Oh, Mann. Echt Wahnsinn.“ Ein kleiner Typ mit Fotzenbärtchen fingert nervös an seinem Jesus-Shirt. „Du hast ja grad auch von deiner Lesung mit Nina Hagen erzählt. Wie ist die denn so?“
Dreyer lächelt. „Ach, die Nina, die ist total lieb. Und die ist auch total von unserer Volxbibel begeistert, hat in Interviews immer total abgeschwärmt von den Freaks.“
Der kleine Typ nickt hektisch mit dem Kopf, kann es kaum erwarten, weitere Details zu erfahren. „Hast du sie nicht gefragt, ob sie zu uns aufs Freakstock kommen wollte?“
„Ach, die Nina ist noch eine sehr junge Christin. Das merkt man auch daran, was sie so auf Facebook schreibt. Das wäre momentan noch alles zu viel für sie, denke ich.“ Dreyer macht eine Pause. „Die Nina hat aber voll die Liebe Gottes in sich. Wir sollten für sie beten.“
Das kleine Fotzengesicht nickt noch schneller und senkt sein Haupt zu Boden. Ausgerechnet Nina Hagen.
Ein anderer Freak schiebt sich jetzt an Dreyers Seite. Ein 30-jähriger Messdiener mit ähnlich geschmackvoller Gesichtsfrisur und hasenhaftem Überbiss. Er grinst breit. „Du? Du machst doch auch Hip Hop, oder nicht?“
Dreyer nickt. Die Hasenfresse grinst noch breiter. „Ja, cool. Ich schreib auch so Texte. Und hab letztens mal in meiner Gemeinde einen Rap vorgetragen. Der hieß: Gott liebt alle Menschen – auch die Kinderficker.“
Betretendes Schweigen.
„Ist doch so, oder nicht?“ Sein Grinsen verzieht sich zur Fratze.
Verhaltene Zustimmung. Der Bursche ist zufrieden.
Schlange besorgt sich bei Dreyer noch eine signierte Volxbibel und setzt sich mit Joswig unter die Kletterpflanzen vor das Artland.

(Daran schloss ein Gespräch vielmehr eine zweistündige Diskussion mit vier Jesus Freaks, die mit Beschimpfungen gegenüber Jungfrauen endete. Notizen hierzu liegen nicht vor.)

Zurück am Iglu, 1.30 Uhr: Kerzenlicht tanzt flackernd über den Zeltstoff. Vor dem Eingang ist eine Art Altar errichtet. Eine rote Grabkerze am Boden, ein Schlüsselanhänger mit glänzender Kunststoffkugel und eine Plastikgabel an den Vorzeltstangen, ein Titelblatt aus der Neon lehnt an zwei Glasflaschen vor dem Eingang. „Was bin ich wirklich wert?“ steht auf der Seite der Studenten-Bravo. Darunter eine Kugelschreiber-Notiz, ein Gruß auf Schwizerdütsch. Schlange sieht Joswig an. Die Schweiz ist doch neutral. Zwei Biere auf den Schock. Schlafengehen.

„Guten Abend, gut‘ Nacht, mit Rosen bedacht,
mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck‘.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“
altes Volkslied aus „Des Knaben Wunderhorn“ (1808)

Sonntagmorgen, aufstehen, kurz nach neun. Keine Zeit zu verlieren. Joswig prescht los, sich einen Kaffee zu organisieren. Schlange schmeißt die Klamotten vor das Zelt und beginnt abzubauen. Genug Freaks, genug Gott, genug geheuchelt. Die Vorstadthölle Wattenscheids erwartet die zwei Teufelskerle zurück.

Schlange und Joswig können Otto, ihren Leidensbruder, nicht verstehen. Wieso bleibe ich bei einem Pulk von Fundamentalisten, wenn ich genau weiß, dass meine Antwort nicht Jesus ist. Natürlich tut Einsamkeit weh, natürlich kann der Glaube Kraft verleihen, sich von Schicksalen, Drogen und pubertärem Weltschmerz zu befreien. Und natürlich glaube ich lieber irgendetwas, als mit offenen Fragen leben zu müssen. Alles verdammt menschlich. Aber Leute, warum kann ich nicht einfach die Kirche im Dorf lassen? Ich treffe die Entscheidungen, ich trage die Verantwortung und ich muss schauen, dass ich am Kacken bleibe. Wenn Gott Bock hat zu helfen, dufte Sache. Glück gehabt.

Als die zwei Reporter ihren Müll entsorgt und ihre Utensilien verpackt haben, trottet ein alter Mohikaner auf sie zu. Ein Freak-Veteran Mitte Fünfzig, mit Irokesenschnitt und einem Gesicht, das vom Leben gegerbt wurde. Er funkelt Joswig aus tiefschwarzen Augen an.
„Ey, dich will ich aber nächstes Mal nicht wieder hier sehen. Verstanden?“
Joswig verwirrt und noch immer schlaftrunkend: „Joa.“
Der Mohikaner haut ihm vor die Schulter. „Gib ma Kippe.“ Joswig reicht ihm seinen Stummel. Der Mohikaner zieht und schaut ihn feindselig an. „Du hast dich zwar nicht schlecht benommen. Du hast aber auch nichts dazu beigetragen. Also…“
„Joa“, grummelt Joswig wieder.
„Gut, Ich werd jetzt noch bis nach Bielefeld radeln.“ Der Mohikaner reicht den Kippenrest zurück. Joswig schmeißt ihn weg.
„Mach das.“
Der Mohikaner verschwindet. Ein Zeichen Gottes?
Auch Schlange und Joswig verschwinden. Dick bepackt mit Zelt und Säcken verlassen sie das heilige Kasernengelände, begleitet von den schrillen Gesängen des Zappelphilipps, der wieder mit seiner Heliumstimme laut proklamierend über den Platz läuft. „Tri tra trulala, Gottes Welt ist wunderbar.“

Der erste Brief des Johannes, Kapitel 2, Vers 22, Volxbibel-Übersetzung: Also, wenn jetzt noch irgendjemand behauptet, Jesus wäre nicht der Auserwählte, der Christus, der ist ein Lügner. Wer gegen den Sohn und den Vater ist und keinen Bock auf ihn hat, der ist ein Gegner von Christus, er ist der Antichrist.

Kann sein, wir hatten keinen Bock drauf, Ihre Wattenscheider Schule.

Special Thanx to god for this story.

Dank an Pütter und die bodo für die Akkreditierung, Dank an Fabian für den Astra, Dank an Samuel Otte. Ohne sein umstrittenes Kunstprojekt auf dem Freakstock wären unsere Köpfe nie auf Jesus Körper gelandet.

 

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WS Bloglist:

4. guerilla-lesung der wattenscheider schule

 

die wattenscheider schule liest: am dienstag, 07.12.2010, im sissikingkong, dortmunder hafen, 20 Uhr.

– neue geschichten – neue bilder – neue gefühle –

 
 
WS Bloglist:

WATTENSCHEID IST UNSER LEBEN

Wir sind Wattenscheider Jungs! Geboren, aufgewachsen und geformt in dieser kleinen Weltstadt mitten im Pott. Eine harte Schule zwischen Ghetto und Einöde, zwischen Prolldisco und Straßenkampf, zwischen Fußball und Langeweile. Die SG Wattenscheid 09 hat unsere Jugend bestimmt. Mit ihrem Abstieg aus der ersten Bundesliga verebbte unsere Liebe für das runde Leder. Fußball-Legasthenie war die Folge. Kein Interesse, kein Antrieb, keine Kultur. Jetzt sind wir zurück zu den Wurzeln, auf dem Rasen, der die Welt bedeutet – beim Auswärtsspiel der Wattenscheider Kicker in der NRW-Liga. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

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CAST INC. – DAS GESCHÄFT MIT DEM ERFOLG

mugshot_openerBlut. Überall war Blut. An unseren Händen, auf dem Fußboden, überall. Wir sind schuldig. Wir haben unseren Nachbarn erschlagen, seinen Schädel mit einem Spaten gespalten und das Hirn im Geräteschuppen verteilt. Wir hatten keine Wahl. Ihr hättet genauso gehandelt. Tut man nicht alles für den Ruhm? Für die Glitzerwelt der Reichen und Schönen, für Champagner, Groupies und Unsterblichkeit. Die Anklagebank von Barbara Salesch wird unser Sprungbrett sein. Wir waren bei einem Casting der Produktionsfirma filmpool. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.


PROLOG: Die Stehascher am Eingang zum Hotel Bredeney, Essen, 14.12 Uhr:

Erzählerstimme aus dem Off (sonorer, verrauchter Klang): Wie sagte Marilyn Monroe einst? Hollywood ist ein Ort, wo sie Dir 50.000 Dollar für einen Kuss und 50 Cent für Deine Seele zahlen. Deine Seele bedeutet im Jetzt nichts. Existiert ein Stuhl, wenn Du ihn nicht anschaust? Bist Du da, wenn Dich niemand sieht? Wir sind nur die Spiegelbilder in den Augen der anderen. Die einfachste Flucht aus der Bedeutungslosigkeit ist der Weg auf die Bühne. Talent spielt in dieser Welt keine Rolle, es zählt der Wille.


Regennasser Asphalt. Den Parkplatz vor dem vier Sterne Hotel überzieht ein matter Glanz. Menschen drängen sich unter dem kleinen Vordach des Eingangs, suchen Schutz vor dem Nieselregen. Ihre Finger halten sich an Zigaretten fest, während Anspannung von ihren Gesichtern bröckelt wie der Putz von einer alten Häuserfassade.

„Krass, ich hab da gesessen und fast geheult, so sehr hab ich mich in die Rolle reinversetzt. Und in das da, was mit dem Mädchen passiert ist.“

„Ich bin auch voll froh, dass ich es hinter mir hab. Im Zimmer nebenan hat einer voll geschrien. Das war echt total heftig.“

Das Reden scheint wie ein Akt der Befreiung für die zwei Teenager. Vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Ihre Haare sind blondiert, ihre Ärsche stecken in kurzen Röcken, die kindlichen Züge sind hinter Make-Up versteckt. Daneben eine Mutter, die mit Autoschlüsseln klimpert. Sonntagsausflug – powered by emotion.

Drei Burschen marschieren zwischen den geparkten Autos hindurch, an einem Kombi vorbei, der gerade mit Samsonite-Koffern vollgestopft wird, zum Eingang. Flaum auf der Oberlippe, Babyface. Sie haben ihren großen Auftritt noch vor sich. Mützen, Baggys, Natural Born Gangstaz.

„Ey, isch werd denen gleich da was vorrappen, Alter. Isch schwör.“

Schwarze Granitplatten im Hoteleingang pflastern die Pforte zur Glitzerwelt. Wer hindurch schreitet, kauft ein Los für eine bessere Zukunft. filmpool castet (heute) die Formate „Niedrig & Kuhnt“, „Zwei bei Kallwass“, „Barbara Salesch“, „Verdachtsfälle“ und „Familien im Brennpunkt“.

Schlange und Joswig stehen neben dem Eingang an die Außenmauer gelehnt und rauchen. Die Anmeldung zur nächsten Runde des Castings beginnt in einer Viertelstunde.

Schlange drückt seine Kippe in einem der wettergegerbten Stehascher aus und steckt sich die nächste an. Mit zusammengekniffenen Augen blickt er zu Joswig. „Wie läuft normalerweise so n Casting ab?“

„Zunächst werden überhaupt mal die Fahrtkosten erstattet.“ Joswig zieht an seiner Kippe und fixiert seinen Berlingo auf dem Parkplatz. Spritverbrauch gut neun Liter auf 100 Kilometern. Er stößt den Qualm in die dünnen Regenfäden. „Dann wird halt vorgespielt. Normalerweise gibt s vorab das Drehbuch und die Texte der Szenen, die du lernen sollst. Hier hätt ich gedacht, dass du dich nur vorstellen musst. Keine Ahnung, was kommt.“

„Hmm.“ Schlange nickt nachdenklich.

„Mach dir keinen Kopf. Alle Caster sind immer extrem freundlich. Das ist der Job. Niemand wird dich zur Sau machen. Alles läuft nach dem Prinzip: Don’t call us, we call you.“

Die freundlichsten Caster von allen rufen nicht einmal an, um abzusagen.

Das einzige Mal, dass die beiden gemeinsam vor der Kamera standen, war 2007. In der Jury eines vierstündigen Kurzfilmspecials, live im Offenen Kanal Dortmund. Joswig als arrivierter Schauspieler (Tatort, Das weiße Rauschen, 23 – Nichts ist so, wie es scheint, St. Angela, Alles was zählt), Schlange als damaliger BILD-Reporter und selbsternannter Wellness-Experte. Wellness-Experte? Zum Glück hielt sich die Einschaltquote in Grenzen. Schlange war dem Druck der Show nicht gewachsen und leerte während der Live-Sendung eine Flasche Scotch. Anstößige Pöbeleien waren die Folge: „Lass uns seine rechte Hand brechen.“ (Schlange zu Thilo Gosejohann)

Schlange beobachtet die sich kräuselnden Pfützen auf dem Parkplatz und atmet durch. Ruhig bleiben. Trinken ist heute keine Lösung und der Whiskey an der Hotelbar eh zu teuer.


SZENENWECHSEL: Anmeldung Casting, erster Stock Hotel Bredeney

Erzählerstimme aus dem Off (Idealbesetzung Christian Brückner, Synchronsprecher von Robert De Niro): Sollen Dir die Massen zu Füßen liegen, musst Du etwas wagen. Jede Casting-Show kann Dir die Tür öffnen. Was soll schon passieren? Selbst der Depp der Nation bekommt seine 15 Minuten warholschen Ruhm. Psychosen inklusive. Das Prinzip ist einfach. Willst Du das Publikum packen, finde den kleinsten gemeinsamen Nenner. In allen Menschen herrschen Triebe und Instinkte. Menschen verlangen nach Blut – egal in welchem Jahrhundert. Werde ihr Star, ein Gladiator mit Ed Hardy-Hemd. Beweise Deine Eier und steige in die Arena.


Die Treppe zur ersten Etage fühlt sich lang an. Jeder Schritt kostet Kraft. Gefühlte tausend Stufen bis zum Olymp der Götter. Blauer Teppich von goldenen Messingleisten gehalten. Die ersten Teilnehmer sitzen bereits auf den unteren Stufen an das Geländer gelehnt, gelbe Zettel mit Nummern an die Brust geheftet und lesen mit stummen Lippen Texte von weißen Blättern. Kleine Mädchen, die die Zwanzig noch nicht erreicht haben. Das Papier zittert vor Anspannung in ihren Händen.

Vom Casting-Bereich drängen Laute die Treppe hinab. Treiben, Geknister, Schritte und Türen. Lärm, den geschäftige und gestresste Menschen machen. Geräusper, Geschniefe, Klacken und Knarren. Alle erdenklichen Geräusche – nur keine Stimmen.

Schlange und Joswig sehen, als sie die letzten Stufen nehmen, die gesamte erste Etage als Anmeldung geschmückt. Fast vierzig Teilnehmer drängen sich um kleine Stehtische, die feierlich mit weißen Tüchern bespannt wurden, und versuchen filmpool-Praktikantinnen ihre Anmeldebögen in die Hand zu drücken. Andere stehen an den Wänden, sitzen in einer kleinen Sofaecke, füllen Bögen aus, lernen still Texte, sortieren ihre Bewerbungsfotos oder laufen durch den Raum. Die Szene wirkt, als hätte jemand versucht dem Sommerschlussverkauf bei Karstadt den Flair von Cannes zu verleihen.

Den Großteil der Bewerber stellen Mädchen zwischen 16 und 20 mit deutscher oder slawischer Herkunft, dann ein paar MILFs (Abk.: Moms I’d like to fuck) mit oder ohne Ehemänner und vereinzelte Frauen jenseits der Sechzig – alle ohne Gatten. Grüppchen von stylischen Burschen mit Migrationshintergrund in den Ecken, daneben Informatik-Studenten, Casting-Freaks a la DSDS – die Quoten-Garanten für den Vorentscheid. Dann noch kernige Handwerker und Typen in Designeranzügen, Zahnärzte und Steuerprüfer. Die Anklagebank, der gesamte Zeugenstand einer Gerichtsshow plus Publikum in einen Raum gezwängt. Das Klischee von der mediengeilen Unterschicht trifft es nicht. Jeder, der seinem Narzissmus unreflektiert erliegt, wird hier mit offenen Armen empfangen. Vor dem Gesetz sind alle gleich.

Joswig geht zur Toilette. Die Tür des Damenklos gleicht der Schwingtür eines überfüllten Goldgräbersaloons. Ein Teenie wechselt den nächsten ab und kommt mit einer neuen Schicht Make Up und Lidschatten zurück. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Neben einer dicken 20-Jährigen schafft es Schlange auf die Couch und zieht seinen ausgedruckten Bewerbungsbogen aus der Tasche, der von filmpool gemailt wurde. Seine Bewerbungsfotos (zwei Profilbilder, eine Ganzkörperaufnahme) als Unterlage fängt er an auszufüllen: Name, Adresse, Telefon, E-Mail. Mit starrem, verbissenem Blick liest die Grazie neben ihm ihre Rollenanweisungen. Das Blatt wirft Falten zwischen den verkrampften Fingern. Ihr riesiger Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Puls 180. Gewicht ebenso. Anscheinend entscheidet das Casting über Leben und Tod.

Schlange füllt weiter aus: Nationalität, Familienstand, Kinder. Haarfarbe, Körper-, Schuh- und Kleidergröße. Die Tür des Männerklos öffnet sich und Joswig kommt zur Sofaecke. Er schaut einem Typen Mitte vierzig über die Schultern, der gerade seine Unterlagen sortiert. In dem freien Kästchen für Beruf auf seinem Zettel steht Bauarbeiter. Die Bewerbungsbilder zeigen ihn in einem mit bunten Tüchern abgehängten Fotostudio, oben ohne, unter dem Arm einen Motorradhelm geklemmt. Möchtegern-Schauspieler, die von Möchtegern-Fotografen für ein Möchtegern-Casting abgelichtet werden. Klar, alle möchten gern.

filmstreifen_vari_gelb3Joswig nimmt Schlanges Tasche von einem Sessel, setzt sich und macht Notizen in sein kleines Büchlein. Das Mädel auf der Couch schreckt auf. Sie beugt sich nach vorn und flüstert.

„Wie, müssen wir hier auch irgendetwas aufschreiben?“

Joswig nuschelt zurück: „Nö, nö, … das mach ich nur so für mich.“

„Oh, gut.“ Die Grazie lässt sich erleichtert in die Couch zurückfallen, und Schlange rutscht mit seinem Stift über die halbe Seite.

Er füllt weitere Kästchen: Piercings Wo? Tatoos Wo? Narben Wo? Führerschein Welche? Nie war es so einfach ins Fernsehen zu kommen. Im Anmelderaum tummeln sich die Gesichter einer Einkaufsstraße. Menschen jeder Sparte und Herkunft. Träume beschränken sich nicht nur auf das gern verpönte Prekariat. Die Verzweiflung und Selbstüberschätzung, sich solchen Formaten auszuliefern, sind nicht an den IQ gekoppelt. Jeder hat das Recht auf Ruhm. Phobiker der Bedeutungslosigkeit gibt es in allen Kasten.

Erste Fernseherfahrungen? Schlange: besagtes Kurzfilmspecial im Offenen Kanal, ohne Angabe von Details. Joswig zieht noch einige Folgen „Verbotene Liebe“ aus seinem Lebenslauf-Zylinder. Grandios. Besondere Merkmale und Talente? Joswig: Dialekt Ruhrpott. Schlange: Schnäuzer.

Als Schlange später einer blondinen Praktikantin an einem der Stehtische seinen Bogen in die Hand drückt, hakt sie beim Job nach.

„Oh, Student. Was studierst du denn?“

„Psycho.“

„Oh, cool.“

Die kleine Blondine trägt in dem freien Kästchen in Schlanges Anmeldebogen unter der Kategorie Beruf: „Psycho“ ein und drückt ihm zwei zusammengeheftete Zettel mit seinem Text in die Hand. Alles klar, Beruf Psycho.

„Du bist dann die Rolle „Bruder“. Ich hoffe, du kannst damit leben.“

„Hmm.“

„Super, dann warte hinten im Konferenzraum. Wir rufen dich da nachher auf.“

„Hab ich noch Zeit zu rauchen?“

„Sicher, kein Problem.“

Joswig bekommt die Rolle des Vaters. Spitze.

Er geht mit Schlange die Treppe runter, um vor dem Eingang zu rauchen und seine Rolle zu lernen.


Die Rolle

Vorgeschichte: Joswig lebt mit seiner Tochter Ramona (14) zusammen. Vor drei Jahren haben die beiden Ehefrau und Mutter bei einem tragischen Unfall verloren. Der Schmerz ist fast überwunden, alles scheint gut, wären da nicht die Nachbarn, Familie Breuer. Besonders Herr Breuer, ein geiler alter Sack, stellt der kleinen Ramona nach. Es kommt immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen und Beschimpfungen („Flittchen!“, „So eine Lolita!“).

Am Tag der Tat beschließen Vater und Tochter die Wohnung zu renovieren und von den alten Möbeln zu befreien, um endlich mit der traumatischen Geschichte abschließen zu können. Joswig schickt Ramona in den Gartenschuppen, um Pinsel und Farben zu holen. Plötzlich hört er Schreie. Er rennt zur Laube, findet Herrn Breuer mit heruntergelassener Hose über Ramona – Blut läuft ihr aus Mund und Nase – und erschlägt ihn kurzerhand mit einem Spaten. Die Leiche, die er im Komposthaufen der Breuers versteckt, findet zwei Tage später ihr Dackel. Die Ermittlungen der Polizei beginnen.

(Schlange annähernd gleiche Geschichte: Ramona ist die kleine Schwester, beide Eltern sind tragisch ums Leben gekommen, Nachbarschaftsterror, Renovieraktion und Spatenmord)

Die Szene (grobe Dialoge vorgegeben): Vorladung bei der Polizei, cool und gelassen dem Kommissar das Verhältnis zu den Breuers schildern, Alibi für den Tatabend: fernsehgucken, bei Nachfrage erstmals laut werden, weil man sich angegriffen fühlt, plötzlich redet Frau Breuer dazwischen, die zufällig bei der Vernehmung anwesend ist, pöbelt rum, ebenfalls laut werden, zurückpöbeln, dann Foto von Ramona zeigen, die seit der Vergewaltigung traumatisiert im Krankenhaus liegt, Zusammenbruch und Geständnis (im Idealfall unter Tränen).


Als Schlange und Joswig wieder die Casting-Etage des Bredeney-Hotels betreten, ist von dem hektischen Treiben nichts mehr zu sehen. Der Anmeldebereich leergefegt, ein verlassener Saloon, Tumbleweed rollt vor der Schwingtür des Damenklos. Das ganze Casting-Volk sitzt an zusammengeschobenen Tischen im Konferenzraum. Die beiden gehen an ihnen vorbei und setzen sich in die hintere Ecke.

Es ist die Stimmung vor dem Highnoon, das Duell zwischen Hoffnung und Castingagent. Totenstille. Joswig blickt in die gesenkten Gesichter. Verzweiflung und Anspannung stehen in jedes geschrieben. Bei Film- und Fernseh-Castings, wenn echte Schauspieler ihre Rolle bereits gelernt haben, mündet dieser Druck in Übersprungshandlungen, in wilder Status-Buhlerei. Mein Haus, mein Auto, meine Setcard. Hier ist es anders. Die Verzweiflung lässt sich säuerlich in der Luft schmecken. Schweigen. Für diese Menschen geht es um ihre einzige Tür zum Glück. Schlange schweift ab und denkt an Whisky.

Um kurz nach drei erscheinen zwei Casting-Assistentinnen, dieses Mal brünett, und rufen die ersten Gruppen auf, jeweils acht Namen. Schlange und Joswig haben Glück, sie landen in derselben Gruppe und gehen gemeinsam mit sechs Frauen zu ihrem Casting. Hähne im Korb. Die Stunde der Entscheidung steht bevor.


SZENENWECHSEL: Der Keller des Hotels Bredeney, Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (konspirativ-verführerischer Tonfall): Kaufe ein Los zum Glück. Trau Dich. Hoffnung ist der Motor unserer Gesellschaft. Halte dem Esel eine Möhre vor, und er wird Deinen Karren den Berg hochziehen. Es war schon immer so. Die katholische Kirche verspricht Dir seit Jahrtausenden das Paradies nach einem Leben als Sünder. Es geht auch einfacher. Ich gebe Dir einen Traum für Dein Dasein ohne Perspektiven. Zucker, Baby. Casting-Shows sind das Lottospiel für die hoffnungslose Jugend. Wozu brauchst Du einen Schulabschluss, wenn Du Superstar bist? Vergiss die Realität und nimm meine Hand.


Es ist ein länglicher Raum, vier mal acht Meter. Zehn Stühle säumen rechts und links die Seitenwände, gepolstert wie im Wartezimmer. Am Ende des Zimmers steht ein Tisch mit einer Videokamera und einem Monitor, dahinter zwei weitere Stühle. Schlange und Joswig setzen sich auf die beiden hinteren Plätze neben der Tür. Die Damen füllen die Sitze bis zum Tisch.

Die brünette Casting-Assistentin setzt sich hinter den Monitor, als ein langer, hagerer Kerl den Raum betritt und zwischen den Stuhlreihen stehen bleibt. Weißgraue Haare, fescher Borstenschnitt, Brille, schwarzes Künstlerhemd und grau-verwaschene Jeans. Er legt die Hände ineinander.

„Hi, ich bin der Rainer.“ Er grinst. „Und ich würd sagen, wir bleiben alle beim Du.“ Zustimmendes Raunen. Joswig guckt Schlange an. Das Arbeits-Du. Klar, wer hat schon Bock sich ständig neue Namen zu merken.

Rainer fährt fort. Betont locker, betont sympathisch, betont souverän. Niemand müsse hier nervös sein, jeder wolle ins Fernsehen.

Er lächelt wieder. „Eins ist aber total wichtig: Versucht nicht zu schauspielern, seid ihr selbst. Wir suchen Charaktere. Wenn normale Menschen eine Rolle spielen, wirkt es immer wie Bauerntheater.“ Rainer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten für das Business kaputtgemacht, das sieht man. Leptosomer Typ, ausgemergelt, Raucher, Furchen im Gesicht. Er geht auf und ab und spielt das Verhör kurz durch, zeigt auf die Teilnehmerinnen, stellt Fragen aus dem Skript. Die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Die Damen sind auf das Duell vorbereitet. Sie haben fern gesehen. Hier wird gespielt, was man in Gerichtsshows und Dokusoaps gesehen hat. Affektierte Gefühle. Professionelle Amateurhaftigkeit. Doppelte Zerrbilder.

Nach dem Probe-Geständnis setzt sich Rainer mit einer Arschbacke auf den Tisch.

„Und falls ihr mal irgendetwas vergessen solltet oder euch bei einer Stelle verhaspelt, haben wir dann noch diese Emotionsmarker.“ Er hält verschiedene Blätter hoch, auf denen Worte stehen: patziger, trauriger, lauter, Foto, Geständnis. Das Sicherheitsnetz für hölzerne oder zu ambitionierte Schauspieltalente. Rainer geht hinter den Tisch. Die Aufnahmen können beginnen.

Stille. Rainers Blick wandert über die acht besetzten Stühle. Die meisten Augen richten sich zu Boden. Niemand will anfangen. Acht angehende Superstars und keiner will vor die Kamera. Rainer schnauft.

Ursula, die Älteste der Casting-Gruppe, steht auf.

„Na ja, dann mach ich das mal.“ Die brünette Casting-Schnecke hinter dem Monitor drückt ihr einen Zettel mit ihrem Namen in die Hand. Ursula stellt sich 50 Zentimeter vor ein weißes Kreuz, das mit Klebeband auf den Boden gezogen ist, und fängt an zu erzählen.

„Halt, halt, halt.“ Rainer bremst ihren Enthusiasmus aus. „Ganz langsam. Erst einmal stellst du dich auf das Kreuz und hältst dein Namensschild hoch. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, lässt du es dann zu Boden fallen. Dann drehst du dich langsam nach links und anschließend nach rechts, damit wir dich im Profil aufnehmen können. Und dann, Ursula, gehst du kurz die Liste mit Stichpunkten durch, die hier vorne am Tisch klebt. Alles klar?“

Ursula nickt. Auf dem Zettel am Tisch steht: Name, Castingnummer, Alter, Wohnort, Beruf, Hobbys.

Ursula hebt ihren Zettel hoch vor die Brust. In ihren schwarz gefärbten Haaren steckt eine kleine Spange. Sie lässt das Namensschild fallen und zeigt sich im Profil. Ursula lächelt verschmitzt. Ihren roten Lippenstift hat sie tief in die Runzeln um ihren Mund gedrückt.

Ursula ist 76, hat vor drei Jahren angefangen, sich englische Brieffreunde zu suchen, um die Sprache wieder aufzufrischen und mitmachen tut sie beim Casting, weil sie mal hinter die Kulissen schauen will. Ursula ist cool, meistert ihre Vernehmung und das Geständnis ohne große Patzer und setzt sich wieder.

Rainer beginnt in die Hände zu klatschen, die anderen stimmen mit ein. Ursula bekommt ihren ersten Applaus als Schauspielerin. Der Applaus wird zum Ritual. Jeder bekommt seinen Applaus. Niemand muss nervös sein. Klatschen um des Klatschens Willen.

Joswig atmet schwer durch. Bei normalen Castings applaudiert niemand. Man ist Profi. Wer feuert schon seinen Konkurrenten an?

Die nächsten Mutigen stellen sich auf das Kreuz – mal mehr, mal weniger nervös. Eine 22-jährige, vollschlanke Bankkauffrau, die jetzt auf Grundschullehrerin umsattelt, zwei 17-jährige Freundinnen, denen beim Stichwort Hobby nur ihr jeweiliger Schatz einfällt, und eine Krankenpflegerin Anfang Zwanzig ohne besondere Merkmale. Neben Schlange drückt sich noch eine verschüchterte Schülerin in den Stuhl – gerade 16 und damit im Mindestalter für dieses Casting. Vier von acht Teilnehmern kommen aus Wattenscheid – entweder ein Indikator für die enorme Leistungsdichte oder ein Gradmesser für die vorherrschende Verzweiflung im Ort.

Schlange hat die rechte Hand leicht geballt, sein Daumen knibbelt im Nagelbett des Mittelfingers. Mit jeder Kandidatin, die sich vor ihm auf das Kreuz stellt, wächst der Druck. Für jemanden, der den Kamerakasper nicht beruflich macht, ist es ein unangenehmer Gedanke, dass jede flüchtige Bewegung, jedes unüberlegte Wort, jede Zuckung oder Grimasse für die Ewigkeit auf Film gebannt wird.

Hier ist es nur eine popelige Videokamera, ein kackenfreundlicher Caster und sieben Mann als Publikum, die alle im selben Boot sitzen. Wie müssen sich erst die Kandidaten bei DSDS fühlen? Auf sie wartet der mediale Pranger und ein Bohlen, der für die Quote Ärsche aufreißen muss. An den Bildschirmen Millionen Fremdschäm-Fetischisten, die nach nichts Anderem geifern als Blut und zerfetzte Existenzen. Wer das riskiert, hat entweder den Bezug zur Realität komplett verloren oder echte Eier in der Buchse. Manchmal sogar beides.

Ab der dritten Vernehmung versucht Schlange dranzukommen. Als sechster steht er schließlich auf dem Kreuz.

Seine Hände zittern, als er den Zettel vor die Brust hält. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Ein Gefühl wie bei Fahndungsfotos nach einer Festnahme. Das Prinzip ist ähnlich, nur die Kartei eine andere. Name, Castingnummer, Alter, Beruf und so weiter. Dann ein Monolog übers Lesen, Kochen, die Musik und das Pimpern. Anschließend die Vernehmungsszene. Am Anfang etwas unsicher bekommt das Rollenspiel mit der Zeit Dynamik. Schlange geht in der Rolle des fürsorglichen Bruders auf. Wären da nicht die ständigen Fäkal-Ausdrücke, ein ganz anständiger Auftritt. Schlange bekommt Applaus und setzt sich erleichtert.

Zu guter letzt: Auftritt Herr Joswig. Das Kreuz am Boden ist fast völlig mit fallengelassenen Namensschildern bedeckt. Er schiebt sie mit dem Fuß lässig zur Seite und räuspert sich. Die Fahndungsfotos werden im sicheren Stand gemeistert. Ist schließlich nicht das erste Mal. Nach vorne schauen, dann zur Seite. Anschließend die Stichwortliste abhaken. Bei Joswigs Beruf „Dekorateur“ entfleuchen den Damen kleine „Ahhs“ und „Ohhs“. Als sie verklungen sind, folgt ein Monolog über die Leidenschaft zu kochen. „Gastrosexualität ist die neue Metrosexualität.“ Nachdem Joswig noch den Satz „Und scharfe Messer sind purer Sex.“ nachlegt, liegen ihm die Frauen zu Füßen. Das Publikum ist vorbereitet, er beginnt mit seinem Rollenspiel. Souverän und gelassen. Erst reflektieren, wirken lassen, dann reagieren. „Abnehmen“ nennt man so etwas in der Schauspielschule. Joswig bekommt es sogar hin, während des Streitgespräches, einen Seitenhieb auf das schwachsinnige Skript zu liefern: „Beide Streitparteien in einem Polizeiverhör? Was für Drehbuchschreiber haben sich denn so einen Mist ausgedacht?“ Anschließend das Geständnis mit zitternden Lippen. Applaus.

Das Casting ist beendet und Rainer tritt hinter dem Tisch hervor. Sein Brustkorb füllt sich mit Luft.

„Wir werden jeden von euch in die Kartei aufnehmen.“

Was für eine Überraschung! Diese Entscheidung zeugt von echter Qualität. Wie sollte man auch die Maschinerie sonst am Laufen halten, diese Masse an Nachmittagsformaten mit Schwenkfutter beliefern, wenn man nach schauspielerischer Leistung selektieren würde? Natürlich wird alles genommen, schließlich wird auch alles im Brennofen des Trash-TVs verfeuert.

Rainer blickt in ein halbes Dutzend erleichterter Gesichter.

„Gibt es hier jemanden, der eine bestimmte Rolle nicht spielen würde?“ Keiner meldet sich. Gutes Material für die Casting-Kartei also. Frische Gesichter, die sich verbrennen lassen: formbare Massenmörder, potentielle Pädophile und willige Hartz IV-Empfänger.

Alles für den einen Fernsehauftritt. Egal, wie das Leben danach weitergeht? Joswig wurde im Supermarkt von kleinen Gören angepöbelt, als er den Junkie bei AWZ (Alles was zählt) gab. Als er als Mörder im TV zu sehen war, ergriff ein Typ vor Saturn die Flucht. Nicht Jeder liest das Kleingedruckte im Abspann. Das Programm wird unreflektiert gefressen, die Schamgrenze franst stetig aus. Fernsehhörigkeit auf beiden Seiten. Angebot und Nachfrage. Quote schlägt Qualität. Das Publikum bekommt das Fernsehen, das es verdient. Brot und Spiele des 21. Jahrhunderts.

Rainer klatscht in die Hände. „Super. Ein Redakteur wird sich dann mit euch in Verbindung setzen. Vielleicht nicht sofort, aber in jedem Fall. Bevor ihr geht, lasst euch bitte noch einmal hier an der Wand fotografieren, und ansonsten wünsch ich euch einen schönen Abend und eine gute Heimreise.“


EPILOG: Der Keller des Hotels Bredeney, das Raucherzimmer direkt neben Raum III

Erzählerstimme aus dem Off (männlich und doch zuckersüß): Im Evangelium des Johannes, Kapitel 8, Vers 7 sagt Jesus zu den Pharisäern „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Bist Du wirklich vor der Verlockung des Ruhmes gefeit? Wie würdest Du reagieren, wenn Dir jemand ein Angebot macht? Unzählige Augen auf Dich gerichtet, Bewunderer, Fans und endlich das Gefühl jemand Wichtiges zu sein. Würdest Du Dir diese Tür wirklich verschließen?


Schlange und Joswig stecken sich im benachbarten Raucherraum eine Kippe an und packen ihre Sachen. Rainer kommt rein, lässt sich in einen Sessel fallen und kramt eine Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche. Er lächelt die beiden geschafft an.

Schlange: „Und du ziehst dir jetzt seit heute Morgen diese Klamotte hier rein?“

Rainer nickt und bläst eine Qualmwolke in den Raum. „Ja, seit zehn Uhr. Ich musste allerdings schon morgens um sieben von Köln losfahren. Gestern dasselbe.“

„Scheiß Wochenende.“ Schlange ascht ab. „Und was bist du jetzt genau – Caster oder Regisseur?“

„Ach, weder noch. Ich hab immer mal wieder Projekte mit filmpool gemacht. Zurzeit halt dieses hier.“

castingblatterAlso auch nur ein kleiner Bauer auf dem Schachbrett. Keiner der Strippenzieher in diesem Spiel. Die Legebatterien der Billigunterhaltung werden von anderen befeuert. Nur echte Arschlöcher entwickeln Konzepte, die für Quote gezielt Existenzen zerstören. Für billigste Massenware. Günstige Eier aus Käfighaltung – gleichförmig und mit Blut verschmiert. Gewinn gegen Gewissen. Nur wahrhaftige Wichser können Trottel vor die Kamera ziehen und sie ihres letzten Funken Würde berauben, anstatt sie vor sich selbst zu schützen. Die armen Schweine, die vor laufender Kamera geschlachtet werden, haben einfach keine Wahl. Aufwertung durch Abwertung – ein Verkaufsgarant. Jeder braucht einen unter sich – ob Studienrat oder Bauarbeiter.

Wer schützt die Menschen, wenn die Macht der Medien ihren Horizont überfordert? Und warum schimpft niemand auf Legehennen, weil sie in einer Batterie sitzen? Weil sie keine Wahl haben. Der Rest ist offensichtlich, Produzenten und Erzeugnisse sind einfach scheiße. Prinzip: Masse statt Klasse. Die Gesellschaft rennt mit vollen Taschen in den Untergang. In welcher Batterie hockst du? Unser Rainer hier ist kein Macher – nur eben der Rainer mit dem schwarzen Künstlerhemd. Auch nur ein Opfer seiner Hoffnung.

Rainer inhaliert, hält seine Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger und tippt mit ihr zu Schlange und Joswig.

„Ich fand es übrigens sehr gut, wie ihr das gemacht habt. Es ist wirklich selten, dass Männer sich so emotional in eine Rolle fallen lassenkönnen. Ihr habt ein hohes Maß an Authentizität ausgestrahlt. Ich hoffe die Redakteure werden das auch so sehen.“


Das hoffen wir auch. Schließlich geht es im Leben immer nur um Groupies, Ruhm und Reichtum.

Man sieht sich in Hollywood, Ihre Wattenscheider Schule.


ABSPANN:

Keine drei Wochen später klingelt Schlanges Handy – das erste Angebot von filmpool, vier Drehtage.

Die Redakteurin: „Wir brauchen einen gutaussehenden Typen, der auch unsympathisch sein kann.“

Schlange: „Machbar. Gage?“

Sie: „360 Euro.“

Schlange sagt ab. Bei filmpool kostet deine Seele 90 Euro am Tag, deine Seele in einer Statistenrolle etwa 40. Dann doch lieber ein Kuss für 50.000 Dollar oder eine Flasche Scotch ohne Stress.

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WS Bloglist:


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EIGHTIES FOREVER

Wie lange lässt Du Dich täglich berieseln, wie oft hockst du vor der Glotze? Wie viele Minuten Deines Lebens schluckst Du Werbebotschaften, lernst, was in Deiner Welt wichtig ist? Wann hast Du Deinen Fernseher zum Gott erhoben und wann Deinen Geist befreit? Wir waren Fernsehkinder, wir haben nie einen Gedanken daran verschwendet unseren Herrn zu verbannen. 1984 (!) öffneten uns die Privatsender das Tor zur Erleuchtung und zeigten uns die Welt. Sozialisation Mattscheibe. Der Durchschnitts-Deutsche guckt zwei Monate im Jahr fern – nonstop. Unsere Lehrmeister fuhren einen sprechenden Trans Am, trugen Iro und Goldkettchen und konnten mit einem Taschenmesser die Welt retten. Warum sind wir geworden, was wir sind? Wir sind zurück in die Vergangenheit. Ein 14 Stunden Marathon aller großen Helden unserer Kindheit. Ein Trip voller Desillusionierungen, großartigen Wiederentdeckungen und der Erkenntnis, dass wir nur die Kinder unserer Idole sind. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Die stählernen Kampfjets glänzen in der Morgensonne. Mechaniker schieben einen Prototypen aus dem Hangar über das Rollfeld, die Luft über dem geheimen Nasa-Stützpunkt flimmert in der Hitze des Tages. Hoch dekorierte Generäle stehen im Schatten der Flugzeugflügel, den Geschmack von Wüstensand auf der Zunge. Alles wartet auf einen Mann: Steve Austin.

Schwarz zeichnet sich seine Silhouette gegen die Sonne an den Horizont. Lässig schlendert Austin zur Landebahn – bordeauxroter Jersey-Overall, die Daumen in den Hosentaschen, einen Zahnstocher im Mund. Sein Auftritt meißelt ein ewiges Gesetz in Stein: Die Coolness trägt Schlaghose.

Schlabberbuchsen, kariert und gestreift, Bäuche aufgedunsen von Knabberkram quellen über die zerfransten Hosenbünde, ihre Finger sind schmierig von Fett und Glutamaten. Schlange und Joswig hängen auf einer Couch in Wattenscheid und greifen in eine Tüte Zwiebelringe. Die Bewegungen zäh, als klebten ihre Arme wie Kaugummi am Sitz. Die Luft steht in Joswigs Wohnzimmer, Staubpartikel sinken langsam auf den Laminatfußboden. Es ist 18 Uhr MEZ. Die Sonne dämmert, die Kiste flimmert.

Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann (Titelmelodie)

1974-1978, Deutsche Erstausstrahlung 1988

Der Weltraum schafft Helden, der Geheimdienst Waffen. Steve Austin (Lee Majors) ist Beides. Nach einem Absturz mit einem Flugzeug-Prototypen ist der Astronaut nur noch ein Haufen Mensch gefesselt ans Krankenbett. Zufällig sucht das US-Militär für ein sechs Millionen Dollar teures Geheimprojekt eine Testperson. In einer unvorstellbar komplizierten Operation werden Austin ein Arm, beide Beine und ein Auge durch bionische Teile ersetzt. Völlig problemlos. Steve Austin wird zum Cyborg (gesprochen „Kübork“), ein kybernetischer Organismus – ein Spezialagent, halb Mensch, halb Maschine. Nukleargespeiste Generatoren in den Gliedmaßen verleihen ihm extreme Geschwindigkeit (Laufen 100 km/h, Schwimmen 70 km/h), sein Reaktor-Arm besitzt die Power eines Bulldozers und das Auge ermöglicht es Austin über größte Distanzen selbst winzigste Details zu erkennen – Nachtsicht inklusive. Mit diesen schier fantastischen Fähigkeiten kämpft er fortan für das Office of Scientific Intelligence gegen diabolische Wissenschaftler, fremde Nationen, Roboter, Außerirdische und sogar gegen Bigfoot.

Tüdüdüdüdt – wie lange hatten die zwei Pantoffelhelden dieses Geräusch nicht mehr gehört. Schlanges Augen glänzen wie zur Bescherung, Joswig seufzt verträumt. Tüdüdüdüdt – der Sechs-Millionen-Dollar-Mann reißt eine Tresortür auf. Tüdüdüdüdt – der Sechs-Millionen-Dollar-Mann springt vier Meter hoch. Tüdüdüdüdt – irgendetwas anderes Bionisches springt, schlägt, sieht, oder so.

Als Kind lief Schlange über den Schulhof, imitierte dieses Geräusch der sechs Millionen Dollar teuren Mechanik und fühlte sich jeder Herausforderung gewachsen. Heute Abend heißt die Herausforderung Endlos-Serien-Marathon.

Ihr Survival-Kit: zwei Flaschen Wodka, einen Kasten Oettinger, sieben Flaschen Magic Man (billigster Energydrink), je eine Tüte Zwiebelringe und Flips, eine Dose Erdnüsse, Grünkohl, legere Kleidung, Koffeintabletten, Kaffee. Nicht jeder kann eine Bionic-Leber und unermüdliche Hightech-Augen haben. Der Abend beginnt: Tüdüdüdüdt. Schlange und Joswig sind die 32,70-Euro-Männer.

„Ich bin mehr als die Summe meiner Einzelteile.“ (Steve Austin)

Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann ist der Einstieg für die Nostalgie-Nacht, die älteste Serie aus dem großen Fundus an filmischen Goldstücken, in den Siebzigern gedreht, erst ein Jahrzehnt später nach Deutschland gekommen. Insgesamt 29 Stunden Achtziger-Jahre-Geflimmer haben sich die zwei Serienjunkies(.org) gekauft.

Ein mondänes Ferienhaus in der Südsee. Steve Austin mixt sich mit freiem, gestähltem Oberkörper und rasierten Sixpack einen Moonshot. Hinter ihm klimpert eine brünette Schönheit mit ihren Plastikwimpern. Steve kommt beim Cocktailmixen ins Grübeln:

„Tiefe Empfindungen können Menschen nur gut tun. Das ist das, was uns von Maschinen unterscheidet – und von Institutionen.“

Die süße Maus tritt an ihn heran, legt ihren Kopf in den Nacken und haucht Steve von unten an: „Oh, das haben Sie aber schön gesagt. Ich muss gleich weinen.“

Steve: „Das gehört auch dazu, und jetzt ziehen Sie sich aus.“

Tüdüdüdüdt.

Steve Austin ist der zerrissene Held, halb Mensch, halb Maschine, Philosoph, knallharter Einzelkämpfer, Freigeist und doch immer nur Spielball des Geheimdienstes. Er ist ein sensibler Gigolo mit bionischen Gliedern.

Alles hat der geile Steve Austin vereint: heiße willige Schnecken im Seventies-Look, skrupellose und verlogene Geheimdienste, hinterlistige Ölaugenund romantische Gedanken zum Mond. Die richtigen Zutaten für einen köstlichen Action-Auflauf.

20:40 Uhr – vier Folgen rum, Bestandsaufnahme – Schlange: sechs Kippen, ein Glas Wodka-Magic Man, eine halbe Tüte Zwiebelringe. Joswig: fünf Kippen, eine Flasche Bier, eine halbe Tüte Zwiebelringe, einen Teller Grünkohl mit Wurst (Mett).

Während Joswig den A-Team-Piloten einlegt, mixt Schlange in der Küche zwei Magic-Wodka. Der Kultkracher ihrer Kindheit muss gebührend gefeiert werden.

Vor etwa 22 Jahren hat Joswig aus Schlanges Legosteinen auf dem Fußboden seiner Eltern den schwarzen GMC-Van nachgebaut – und behalten.

In der Grundschule steckte sich Schlange Schokoladen-Zigaretten in den Mund und knurrte „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert“. Und Chucks sind nur zum Renner geworden, weil Murdock die coolste Sau war – jedenfalls für die damals Fünf- bis Fünfzehnjährigen.

Das A-Team (Titelmelodie)

1983-1987, Deutsche Erstausstrahlung 1987

Vier Männer einer militärischen Spezialeinheit wegen eines Verbrechens verurteilt, dass sie nicht begangen haben, seitdem von der Militärpolizei gejagt, helfen Sie anderen, die in Not sind. Moderne Musketiere, Helden der Unterdrückten, die Robin Hoods der amerikanischen Ghettos – kurz: das A-Team (gesprochen Ahhh-Team). Meisterstratege Colonel John „Hannibal“ Smith (George Peppard), Beau, Frauenschwarm und Hochstapler Lieutnant Tempelton „Faceman“ Peck (Dirk Benedict). Desweiteren das geisteskranke Flieger-Ass Captain H.M. „Howling Mad“ Murdock (Dwight Schultz) und der muskelbepackte, afroamerikanische Super-Mechaniker Bosco „B.A.“ (Bad Attitude) Baracus (Mr. T). Fünf Staffeln lang helfen sie Unterdrückten, erschwindeln auf Kosten gutgläubiger Menschen ihre Ausrüstung, schweißen aus Schulbussen und Tonnen von Stahl Panzer zusammen, verballern Munition wie zu besten Zeiten des Vietnam-Krieges und verletzen wider jeder Wahrscheinlichkeit niemanden. B.A. wird regelmäßig anästhesiert, weil er an Flugangst leidet, Murdock präsentiert jedes Mal einen neuen Tick, Faceman sieht einfach nur gut aus und Hannibal liebt es, „wenn ein Plan funktioniert“. Zur Anreicherung der Story gibt es zum Beispiel Gastauftritte von Hulk Hogan oder Boy George. Ein Geniestreich.

„Oh Mann, so n Scheiß fanden wir früher geil?“ Joswig sinkt in die Couch zurück und schaut Schlange an. B.A. erklärt gerade einem mexikanischem Dorf, dass es für seine Freiheit kämpfen müsse. Nichts werde einem geschenkt, man müsse sich gegen seine Unterdrücker auflehnen. Immer und überall. Thats the american way of life. Die Unterdrücker sind in diesem Fall zwei ungewaschene Bud Spencer-Verschnitte, die in der Nähe des Dorfes Marihuana anbauen (das gezeigte Anbaugebiet besteht aus einem Feld Birkenfeigen).

Schlange steckt sich eine Kippe an. „Ja, aber als Blag findeste das geil. Bauen, ballern und befreien. Jedenfalls fanden wir das großartig.“

„Mann, die Dialoge sind dämlich, die Handlung ist dämlich, Murdock unerträglich und es laufen nur zugeknöpfte Achtziger Jahre Schnecken durchs Bild.“ Joswig hat Recht: Beim A-Team brauchen Frauen keinen Bikini, um eine Rolle zu bekommen. Die Jungs sind einfach zu P.C.

Schlange gähnt.

Zeitgleich im TV: Hannibal, die Reporterin Amy und zwei weitere Protagonisten wurden von Guerillas in einen Holzkäfig gesperrt. Verkleidungskünstler Hannibal klebt ein paar von Amys abgeschnittene Haaren an sein Kinn, zieht einen Strohhut ins Gesicht und ruft nach den Wachen. Unverzüglich kommt eine, wundert sich, dass unter den vier Insassen plötzlich ein Mexikaner ist, öffnet den Käfig und wird prompt überwältigt. Das A-Team kann fliehen. Blöder Mexikaner.

Der Pilotfilm endet mit der Zerschlagung der Rebellen und der Befreiung des Dorfes. That’s America! Racheakte der gedemütigten Schurken erscheinen unwahrscheinlich.

Kollateralschäden gibt es leider in jeder Schlacht: Gewalt und Selbstjustiz wurden sauber verherrlicht und gutmütige Menschen bestohlen, eine hilfsbereite Flughafenmitarbeiterin um einen Privatjet sowie ein netter Hotelier um einen Schulbus, ein Flaggeschütz, mehrere Tausend Liter Ammoniak und vermutlich drei Tonnen Stahlplatten betrogen. „Also wenn Sie mal ein Problem haben und nicht mehr weiter wissen, suchen Sie doch das A-Team!“

Oder lassen Sie es besser sein und die Erinnerung in Frieden ruhen.

Schlange und Joswig verzichten auf eine weitere Folge und ziehen ihre Gläser leer.

„Scheiße, Mann. Ich würd mich jetzt echt gern abschießen.“ Tüdüdüdüdt. Schlange knallt sein Glas auf den Tisch. „Was hat Steve Austin noch immer gesoffen?“

Der Moonshot

„Zwei Teile Wodka für einen rasanten Start, ein Teil Brandy für die vortreffliche Umlaufbahn und ein Schuss Sekt mit Grenadine für die sichere Rückkehr zur Erde.“

Der russische Doppelagent und frühere Kosmonauten-Kollege, mixt Steve Austin einen Moonshot, bevor er ihn niederschießt, damit er ungestört von einem zwielichtigen Waffenhändler atomare Polarisraketen kaufen kann. (Folge drei und vier: Der Waffenhändler)

22:57 Uhr – Aschenbecher ausgeleert. Abgesehen von diversen Erdnuss-Flips keine außergewöhnlichen Einnahmen.

Trio mit vier Fäusten (Titelmelodie)

1983-1986, Deutsche Erstausstrahlung 1985

King Harbor, kalifornische Sonne, Mädchen in knappen Bikinis. Die beiden Vietnamkriegsveteranen Cody Allen (Perry King) und Nick Rider (Joe Penny) haben neben Frauen und Volleyball vor allem Verbrechensbekämpfung im Sinn. Zusammen mit dem liebenswerten Computer-Freak Murray „Boz“ Bozinski (Thom Bray) betreiben sie eine Detektei am Strand. Sie leben auf ihrem Kabinenkreuzer „Riptide“, besitzen ein Schnellboot namens „Ebbtide“ und den rosafarbenen, schrottreifen Hubschrauber „Screaming Mimi“. Sie flirten mit der durchweg knapp bekleideten Besatzung der ruppigen Kapitänin Mama Joe und kriegen von dem mies gelaunten Lieutenant Quinlan aufs Maul. Hilfreich bei ihren Ermittlungen ist der orangefarbene Superroboter Roboz, der mindestens einmal pro Folge ins Wasser fällt.

Der Mond spiegelt sich im Hafenbecken von King Harbor. Stille hat sich über die Bucht gelegt. Nick und Cody liegen in ihren Kojen. Dann ein Geräusch, Schritte. Lange, geschmeidige Beine schleichen vorsichtig die Treppe zu den beiden Jungs hinab. Rote Hotpants und hautenge Sport-Shirts. Besuch für Cody und Nick: Eine Blonde, eine Brünette. Durch die Bullaugen der Ebbtide fallen vereinzelte Lichtstrahlen auf ihre Brüste, die sich aufgeregt heben und senken.

Zur selben Zeit auf Mama Joes Schiff: Zwei zwielichtige Typen kidnappen die hübsche Zeugin, die zur Sicherheit auf dem Nachbarboot untergebracht ist. Geschrei, Gerangel an Deck. Das arme Mädchen wird nur mit dünnem Schlüpfer und Schlafhemdchen in einen Wagen gezerrt. Von dem Tumult alarmiert stürmen Nick und Cody aus ihren Kojen an den beiden Schnecken vorbei hoch in die Nacht. Im Dämmerlicht des Bootes werfen ihre Sixpacks dezente Schatten. Die Bösewichte flüchten, die zwei Sonnyboys hinterher. Keine Zeit sich anzuziehen. In weißen Feinripp-Unterhosen springen die Privatdetektive in ihr rotes Cabriolet und nehmen die Verfolgung auf. Nick am Steuer, Cody eine kurze Flinte in der Hand über die Windschutzscheibe gelehnt. Seine Brusthaare flattern, der Nachtwind umschmiegt seine Hüfte und verfängt sich im Eingriff. Die Jagd beginnt.

„Die Typen sind ja großartig!“ Joswig prostet Schlange zu. „So gut hatte ich die Serie überhaupt nicht Erinnerung.“

Schlange grinst: „Wir haben auch früher die Witze nicht gerallt. Mann, die Jungs liegen halbnackt in den Kojen und lesen ein Buch, während an Deck Murray, der Urvater aller Nerds, ne Perle klarmacht. “

„Hmm.“ Joswig nippt nachdenklich an seinem Glas. „Steckt nicht ein kleiner Nerd in jedem von uns?“

„Sicher. Aber die wenigsten outen sich.“ Schlange bläst einen Schwall Zigarettenrauch in die zähe Wohnzimmerluft. Joswig schaut ihn eindringlich an. „ Außerdem ma wieder scharfe Schnecken nach dem A-Team.“

„A wie asexuell.“ 

„Jipp.“ Die beiden nehmen zufrieden einen neuen Schluck und lehnen sich zurück.

Was zeichnet knallharte Männer aus?

Aussehen: Nick und Cody sind durchtrainiert und braungebrannt, echte Sunnyboys.

Wohnort: eine schwimmende Männer-WG am Hafen.

Hobbys: Gemeinsamer Wettkampf, sich in der Anzahl ihrer Nasenbeinfrakturen zu übertreffen (Stand Folge 3: Nick 7 / Cody 6, Schlange 1 / Joswig 0).

Prioritäten: Während leichtbekleidete Schönheiten neben ihnen das Deck schrubben, vertreiben sie Pelikane, die ihr Schnellboot vollkacken.

Entschlossenheit: siehe Verfolgungsjagd in Unterhosen.

Fortbewegungsmittel: u.a. ein rosafarbener Hubschrauber, ein feuerrotes Cabriolet.

Körperpflege: sauber gestutzter Schnauzbart (Cody), flauschig weiches Brusthaar (beide).

Sport: Nick und Cody stehen auf Volleyball.

Soziales Umfeld: In King Harbor patrouillieren die Bullen in kurzen Shorts.

Stammkneipe: das Straightaways. 

Nick und Cody sind nach nur drei Folgen Schlanges und Joswigs Helden geworden, glückliche Loser unter der kalifornischen Sonne, denen die braungebrannten Täubchen nur so in die Münder fliegen. Wahre Männerfreundschaft am Hafen. Harte Jungs, die sich mit Polizisten und Verbrechern hauen. Echte Männer, die Drinks prägen.

Nick und Codys Lieblingsgetränk: Der Singapore Sling

Gin, Kirsch-Brandy, Zitronensaft, Grenadine, Soda und Bénédictine (ein Kräuter- und Gewürzlikör)

Was Buntes für die Süßen.

„Das Leben besteht aus mehr als nur Mädchen und Volleyball.“ (Nick Rider)

1:31 Uhr – Schlange und Joswig jeweils eine Koffeintablette (Schlange hatte bereits eine zum Aufstehen). Bierränder auf dem Tisch, Flips-Krümmel auf der Couch, Asche überall.

Irgendwo in Mittelasien: MacGyver hängt mit einer roten Pudelmütze auf dem Kopf 900 Meter über dem Erdboden in einer Felswand und hält einen philosophischen Monolog über Apfelschimmel. Ethan Hunt aus Mission Impossible ist ein Scheißdreck gegen diesen Mann.

MacGyver (Titelmelodie)

1985-1991, Deutsche Erstausstrahlung 1987

Er baut aus Bambusstäben, alten Müllbeuteln, einem Betonmischer-Motor und etwas Klebeband ein Ultraleichtflugzeug. Aus Asche und Alkohol mixt er dir das beste Tränengas und mit Kaugummi fängt er kapitale Barsche. Angus MacGyver (Richard Dean Anderson) ist der Vorzeigeschwiegersohn unter den Superhirnen. Ein Naturbursche mit Flanellhemd, der in einer Sternwarte wohnt, und mit seinem kleinen schwarzen Freund unterm Teleskop Basketball spielt. Der Gutmensch der Achtziger-Serienlandschaft. Waffen benutzt er nie. Als Kind hatten er und seine Freunde mit einem Revolver gespielt. Ein Schuss löste sich und tötete einen von ihnen. Seitdem rettet er lieber sich und andere mit Hilfe seines Schweizer Armeemessers, etwas Klebeband und einer Büroklammer. Als Agent der Phoenix Foundation bekommt er dafür 139 Folgen lang Gelegenheit. MacGyvers Ideenreichtum ist unerschöpflich.

„Der Mann ist komplett gay.“ Joswig kippt seinen Wodka weg. Schlange zieht nach und stellt das leere Glas auf den Tisch.

„Und die Perle da in dem kurzen Rock ist doch nur Alibi.“

Joswig nickt. „Dann noch dieses ganze bekackte Gutmenschentum. Die drohende Klimakatastrophe, schachspielende Nobelpreisträger und übertriebenes Mitgefühl.“ Joswig holt Luft. „Die Toten werden betrauert, Mann. Und in sein Handtäschchen packt er keine Knarre sondern nur Sachen, die er findet. Bla bla bla.Wie bekloppt ist das denn? Sind wir hier bei Monkey Island, oder was?“

MacGyver entschärft im Piloten eine Cruise Missile mit einer Büroklammer, dichtet einen Schwefelsäuretank mit ein paar Tafeln Schokolade ab und baut aus etwas Natrium, einer Schnupfenkapsel und einem Glas Wasser eine Bombe, die eine komplette Felswand wegsprengt. Außerdem schützt er seine Hände mit Stoff, bevor er eine Glasscheibe einschlägt. Bemerkenswert.

2002 stand Schlange in nichts anderem als kurzer Hose und Chucks vor seiner Wohnungstür und hatte sich ausgesperrt. Anstatt mit Schuh oder Fußmatte die Scheibe einzudrücken, schlug er sie mit seinem Ellenbogen kaputt. Tüdüdüdüdt. Anschließend wickelte er einen Pullover um den blutenden Arm und fuhr mit seiner Mofa zu Joswig. Der versorgte die Wunden mütterlich mit Betaisodona und einem Haufen Pflastern und hält Schlange seitdem für alles andere als ein Erfinder-Genie.

„Frauen sind eine tolle Erfindung.“ (Steve Austin)

2:30 Uhr – Schlange und Joswig jeweils eine Koffeintablette, diverse Kaltgetränke.

Die Spezialisten unterwegs (Titelmelodie)

1985-1986, Deutsche Erstausstrahlung 1988 

Sie sind Freaks, Mutanten, wissenschaftliche Unfälle oder das Ergebnis riskanter Experimente. Außenseiter, die im Humanidyne Institut in Los Angeles eine neue Familie gefunden haben. Unter der Leitung des unkonventionellen und etwas verpeilten Doktor William „Billy“ Hayes (Dean Paul Martin) fährt das Team der „Misfits of Science“ mit einem Eiswagen von Fall zu Fall und schlägt dem US-Militär so manches Schnippchen. Doktor Elvin „El“ Lincoln (Kevin Peter Hall) ist ein 2.24 Meter großer Afroamerikaner, der sich Dank eines Schrumpfungsserums à la Charles Bukowski auf 20 cm verkleinern und für exakt 14 Minuten in Barbiekleidern gehüllt seine Freunde aus brenzligen Situationen retten kann. Gloria Dinallo (die junge Courteney Cox) ist das kleine telekinetische Mädchen im Team, hat mehrere Erziehungsheime durchlaufen, wird von ihrer Bewährungshelferin betreut und erinnert mit ihrer labilen Psyche an Stephen Kings Carrie. Den Rock ’n‘ Roller im Team mimt John „Johnny B.“ Bukowski (Mark Thomas Miller). Der Cuck Berry begeisterte Rockmusiker bekam bei einem Auftritt einen 20.000 Volt-Schlag ab und läuft seitdem als Elektrogenerator durch die Welt. Er ist super schnell und kann Blitze abfeuern.

„Alter, die Ghostbusters lassen grüßen.“ Schlange betrachtet fassungslos die nervige Sekretärin im Büro des Forschungslabors. Dauerwelle und Hornbrille. Nägellackieren statt Aktenwälzen. Hecktisch kommt Billy Hayes herein und fordert Unterlagen an. „Ist das nicht auch die Synchronstimme von Bill Murray?“

Die Misfits of Science decken die Zielgruppe der coolen Kids in den Eighties ab. Die kleine Courteney gibt das Emo-Mädchen, Johnny B. ist Jon Bon Jovi wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Team trägt Basketballtrikots, hört hippsten Synthie-Pop und hat vermutlich den Gagschreiber von Eddie Murphy gekidnapped.

Niemand wurde in den Achtzigern vergessen – Eighties for everybody: Nick und Cody machen die Sunshine-Lovers, das A-Team die Underdogs, Kitt und Michael die weißen Ritter und MacGyver den pazifistischen Öko-Arsch.

4:50 Uhr – Schlange und Joswig jeweils eine Koffeintablette. Schlange einen Teller kalten Grünkohl ohne Wurst. Kippen.

„Dann liegt Ihnen also etwas an mir?“ Die Stimme klingt sanft aus dem bunt blinkenden Armaturenbrett. Der schöne Fahrer mit dem kräftigen Lockenschopf lächelt milde.

„Aber keinem verraten.“

Der Motor des schwarzen Trans Ams heult zufrieden auf.

„Okay“, haucht die warme Stimme aus der Instrumententafel. In der rotleuchtenden Sonne geht die Fahrt weiter die schmalen Serpentinen entlang.

Knight Rider – Ein Mann und sein Auto kämpfen gegen das Unrecht.

Knight Rider (Titelmelodie)

1982-1986, Deutsche Erstausstrahlung 1985 

Der Polizist Michael Arthur Long bekommt auf einer Undercover-Mission eine Kugel ins Gesicht geschossen. Wie der Zufall es will, findet ihn der todkranke Millionär Wilton Knight und bringt Michael auf sein Anwesen. Dank einer Metallplatte, die Michael seit dem Vietnamkrieg in der Stirn trägt, prallte die Kugel ab und zerfetzte sein Gesicht. Er kann in einer hochkomplizierten Operation gerettet werden und sieht seitdem aus wie David Hasselhoff. Beneidenswert. Wilton Knight macht den genesenen Michael zum Fahrer des Super-Autos K.I.T.T. (Knight Industries Two Thousand), einer One-Man-Show zum Schutze von Recht und Verfassung. Selbstjustiz auf der Überholspur. Seine Aufgabe ist es Verbrechen aufzuklären, die Unschuldigen zu schützen und dort zu richten, wo die Polizei versagt. Aus Dankbarkeit für seinen mittlerweile verstorbenen Retter nimmt er dessen Namen an und arbeitet als Michael Knight für die Foundation für Recht und Verfassung. Unterstützung erhält er von dem Leiter der Stiftung Devon Miles (Edward Mulhare) und der Elektronik- und Computer-Expertin Bonnie Barstow (Patricia McPherson).

„Turbobooooost!“

„Häh?“ Joswig schreckt von der Couch hoch und blickt Schlange entgeistert an. „Was ist los?“

„Ja. Turboboost. Hab ich immer meinem Vatter in den Nacken geschrien, als wir im Stau standen.“

„Und was soll das jetzt?“

„Och, ich brauchte mal n bisschen Action.“ Schlange zappelt unter seiner Wolldecke. Überdosis Koffein. 

Im Knight Rider-Piloten meistert K.I.T.T. ein Crashcar-Rennen, führt zwei Autoknacker an der Nase herum (natürlich ein Mexikaner und ein Schwarzer), befreit Michael aus einer Gefängniszelle, indem er durch zwei massive Betonwände fährt, springt durch einen LKW-Hänger (Turboboost) und fliegt über einen Lastwagen samt Aufhänger (ebenfalls Turboboost).

„Hast du nicht genug Action gesehen?“, mault Joswig und gähnt. „Ich mach ma zwei neue Drinks. Wieder Magic Man?“ (Turbobooze)

„Jipp. Und Kaffee. Ich brauch noch n Kaffee.“

Knight Rider liefert wieder klare Strukturen: der Frauenheld mit der geilen Karre. Die guten Mädchen – die hilflosen holden Maiden, die der fahrende Ritter aus ihrer Not errettet. Und die Gegenspielerinnen – erfolgreiche, karrieregeile Dinger, die an Michael und K.I.T.T. jedes Mal scheitern. Keine Verpflichtungen, keine Beschränkungen, kein Gesetz. Einzelgänger ist schon ein super Job.

„Ein Mann kann auf zwei Arten Krieg führen – mit einer Armee oder allein. Ich bin lieber allein.“ (Michael Knight)

6:20 Uhr – Schlange und Joswig jeweils eine Koffeintablette, Schlange einen Kaffee. Alkoholische Getränke. Rauchwaren.

Ein Schönling sitzt auf einem Polizeimotorrad, seine Uniform wird von einem roten Umhang und einem Helm mit Stars and Stripes ergänzt. Ein Polizist nimmt Wetten entgegen, weitere stehen um das Motorrad herum und jubeln. Dann gibt der Fahrer den Evil Knievel und springt über fünf Streifenwagen. Das ist Jesse Mach, der Straßenfalke.

Street Hawk (Titelmelodie)

1985-1986, Deutsche Erstausstrahlung 1986

Jesse Mach (Rex Smith) ist Motorrad-Cop, ein Draufgänger, ein verwegener Wilder. Er ist genau der richtige Mann für das Geheimprojekt Street Hawk, einem drei Millionen US-Dollar teurem Hightech-Motorrad des FBIs. Bevor er jedoch seinen Dienst antreten kann, geraten Mach und sein Partner skrupellosen Drogenhändlern in die Quere. Machs Partner wird ermordet, Jesse schwer verletzt. In einer hochkomplizierten vom FBI finanzierten Operation kann Machs zertrümmertes Knie wiederhergestellt werden. Seitdem gibt er tagsüber den verkrüppelten Schreibtisch-Offizier in der PR-Abteilung seines Reviers. Nachts rast er mit 300 Meilen pro Stunde als gnadenloser Rächer im schwarzen Motorraddress durch die Straßen der Großstadt. Unterstützung erhält er von dem trotteligen Computerexperten und Streethawk-Erfnder Norman Tuttle (Joe Regalbuto), der immer wieder an Jesses unorthodoxen Art verzweifelt.

Immer diese Supercomputer mit den tausend blinkenden Lichtern. Durch Street Hawk wurde die Technik-Gläubigkeit der Achtziger auf die Spitze getrieben. Zoom im Helm (bestimmt praktisch, um bei voller Fahrt die Straße im Blick zu behalten), Fliegedüsen unterm Moped, eingebaute Elektro-Laser-Blitz-Kanone mit blauen Strahlen, die sowohl Tore aufsprengen als auch Autos ohne Beschädigung lahmlegen kann. Und natürlich Geschwindigkeiten von über 480 km/h, bei denen Reaktionszeiten und scharfe Kurven kein Problem darstellen (Darstellung in altbewerter Tron-Optik). Highlight der Pilotfolge: Salto-rückwärts des Motorrads bei voller Fahrt. Physikalisch beachtlich.

„Dieser schwarze Motorradstrampelanzug ist aber auch alles andere als männlich.“ Joswig kratzt sich am Kinn. „Guck dir die geleckte Fönwelle doch mal an.“

Schlange putzt sich zitternd die Brille. „Jedenfalls hat jeder, der heute metrosexuell ist, in den Achtzigern Fernsehn geguckt.“ Er betrachtet nachdenklich seine Hände. „Meinste da ist noch n Kaffee in der Kanne?“

„Nein.“

„Sicher?“

„Ja. Ich geh jetzt pennen.“ Tüdüdüdüdt.

7:48 Uhr – Ende. Schlange und Joswig legen sich ins Bett. Physiologischer Tremor, innere Unruhe und Herzrasen.

Wilde Träume.

 

13.40 Uhr – Joswig und Schlange, Kaffee und Kippen.

„Colt Seavers war Schuld, dass ich in der Grundschule gehänselt wurde.“

Schlange weitet seine müden Augen und schaut Joswig verwundert an. Zwischen seinen Händen dampft eine Tasse Kaffee. Die zwei verschlafenen Gringos sitzen wieder auf ihrer Couch, die Mattscheibe läuft, der Schädel brummt. Joswig pult einen halben Erdnussflip aus der Couchritze und holt Luft. „Ich durfte ihn erst in der dritten Klasse gucken. Vorher konnte ich nie mitreden.“

„Verdammt.“ Schlange starrt in seinen Kaffee. „Dabei war Colt doch die coolste Sau. Ich sag nur: Whisky, Zigarre, Badewanne, Cowboyhut und Judy.“

Die zwei Gringos nicken in sich hinein und schlürfen gedankenverloren ihren Kaffee.

Als Joswig endlich in den Augen seiner Eltern alt genug für die Serie war, zeigte sich seine Begeisterung im Zertrümmern seiner Matchbox-Autos. Ein echter Stuntman braucht schließlich Crashcars. Colt Seavers – ein zwölf-Zylinder-Motor für die kindliche Phantasie.

Schlanges Vater war bei den gemeinsamen Spieleabenden immer auf Howie festgelegt, die Schnullerbacke. Wollte sein Daddy ein bisschen cooler sein, durfte er vielleicht mal die Judy geben.

Ein Colt für alle Fälle (Titelmelodie)

1981-1986, Deutsche Erstausstrahlung 1983

„Ich bin nur ein Hollywood-Stuntman zwischen zwei Filmen.“ Um sich seinen legendären Pickup, einen GMC Sierra Grande, zu finanzieren geht Colt Seavers (Lee Majors) nebenher als Kopfgeldjäger auf Verbrecherjagd. Cowboystiefel und Hut, eine Zigarre im Mund und immer einen coolen Spruch auf den Lippen – das ist Colt. Sein tollpatschiger Cousin Howie Munson (Douglas Barr) und die Göttin aller pubertierenden Jungendträume, die blonde Stuntschnecke Judy Banks (Heather Thomas) stehen ihm zur Seite. Wilde Verfolgungsjagden, unzählige Schrottautos und spektakuläre Stunts. Irre.

Colt tut gut. Nach 14 Stunden Männerknackärschen in engen Jeans lässt ein Cowboy dieses Experiment versöhnlich ausklingen. Es war hart, die Mode gewagt und auf den Leib gegossen – jedenfalls bei den Typen. Stretch statt Schlag. Es bleiben weitere Erkenntnisse:

Die Titelmelodien in den Achtzigern konnten einiges. Punkt.

Zweitens: Die ständig wechselnden Gespielinnen unserer Helden waren nur drin, weil es in den Achtzigern abgeschlossene Episoden gab. Happy End garantiert. Keine weiterführenden Problematiken, der Plot blieb immer gleich. Heutzutage sind solche Serien-Casanovas rar. Ein Jack Bauer kann nicht jede Stunde eine andere nageln und sie anschließend aus seiner Serie schmeißen. Da vermittelt das heutige TV der Jugend viel bessere Werte. Foltern ja, Fremdgehen nein. Jede Tat hat schließlich seine Folgen.

Nächste Erkenntnis: Männer sind gesetzlose Wölfe, Helden müssen einsam sein. Einzelne Männer können etwas bewegen, können die Welt retten. Wenn du für die Gerechtigkeit kämpfst, heiligt der Zweck jedes Mittel. In ca. 44 Minuten Sendezeit musst du für nichts gerade stehen.

Die Glotze war eine unserer Sozialisationsinstanzen. Männerbilder, Frauenbilder, Heldenbilder. Die Botschaften waren klar und verständlich. Das Fernsehen hat uns die Wirklichkeit gezeigt. Sie war unser Höhlengleichnis – Platons Grotten-TV. Die Serien gaben uns Idole. Wir wurden Sie. Anarchistische Möchtegern-Frauenhelden ohne Weitblick für die Konsequenzen.

Was sind deine Wurzeln? Zurück in die Vergangenheit – oder besser zurück in die Zukunft?

Tüdüdüdüdt, Ihre Wattenscheider Schule

Facts for Geeks:

Der Sechs Millionen Dollar Mann

  • Lee Majaors war 1973 bis 1982 mit der Schauspielerin Farrah Fawcett (Drei Engel für Charlie) verheiratet. Im Pilotfilm zu Ein Colt für alle Fälle hat sie einen Gastauftritt.
  • Das bionische Auge besteht aus Flugzeugcockpitscheiben. Grund: Bei Pilotenunfällen habe sich gezeigt, dass dieses Material nicht vom menschlichen Körper abgestoßen wurde.

Das A-Team

  • Das Verbrechen, das sie nicht begangen haben: Bankraub in Hanoi zum Ende des Vietnam-Krieges, Beute 10 Millionen Yen
  • George Peppard (Hannibal) wurde in den Sechzigern durch den Film Frühstück bei Tiffanys mit der kleinen Audrey Hepburn berühmt. 1994 starb Peppard im Alter von 65 Jahren.

Trio mit vier Fäusten

  • – Wenn Murray zuschlägt, hat er immer seinen Daumen in der Faust. Verletzung vorprogrammiert. Deshalb Trio mit VIER Fäusten.
  • Joe Penny versucht sich neben der Schauspielerei auch als Sänger.

MacGyver

  • Für technisch raffinierte Lösungen bei wissenschaftlichen Problemen hat sich mittlerweile der Begriff MacGyverism eingebürgert.
  • MacGyvers Schweizer Armeemesser hat seinen ersten Auftritt im Pilotfilm nach 4:10 Minuten. Mac schmeißt es aus vier Metern Entfernung und es bleibt im Holzstab eines Käfigs stecken. Perfekt austariert.

Die Spezialisten Unterwegs

  • Mark Thomas Miller (Johnny B.) war vor seiner Schauspielkarriere Türsteher im Studio 54 und Bodygard von VanHalen.
  • Kevin Peter Hall (Elvin Lincoln) starb 1991 im Alter von ebenfalls 35 Jahren an Aids.
  • Max Wright, der bei den Misfits of Science den Leiter des Forschungsprogramms spielt, ist als Willy Tanner aus der Serie ALF bekannt geworden. Zuletzt machte er Crack rauchend auf einer Schwulen-Party von sich redend.

Knight Rider

  • Michael Arthur Long hat im Pilotfilm braune Augen. Nach dem Schuss in die Fresse und der wundersamen Wandlung zu David Hasselhoff besitzt Michael Knight blaue Augen.
  • David Hasselhoff hat mit seinem Song „Looking for freedom“ die Berliner Mauer zu Fall gebracht – jedenfalls glaubt er das.

Street Hawk

  • Der Soundtrack zur Serie stammt von der deutschen Gruppe Tangerine Dream.

Ein Colt für alle Fälle

  • Lee Majors sang die Titelmelodie „The unknown Stuntman“ selbst. In Deutschland landete er damit in den Charts. Sein Kommentar: „I don’t know why but everybody has a hit in Germany. You know, David Hasselhoff had a hit in Germany, a number one. I had a number one in Germany. I guess they just don’t know much about music over there.“

Koffein

  • Koffein gleicht keinesfalls die durch Alkohol beeinträchtigte Leistungsfähigkeit aus, im Einzelfall besteht die Gefahr der beschleunigten Aufnahme (Resorption) von Alkohol. (siehe Packungsbeilage)

Die schwarze Pyramide im grauen Beton

Hochhausbauten, verschwindende Existenzen. Das Leben im Staate ist trist und monoton. Herr K. steht in der U-Bahn. Dieselben Fahrten zur Arbeit, dieselben Gänge im Wohnblock, dieselben Rituale jeden Tag. Dann ein Brief – überraschend und unerwartet. "Ihrem Antrag auf Suizid wurde stattgegeben." Das Leben geht weiter. "Jeder Tag gleicht dem anderem. Jeder Tag, auch der Tag nachdem ich starb."

Black Pyramid – Eine Semesterarbeit von Johann Kasuch und Christopher Grabinski, Fachhochschule Düsseldorf. (HD-Link zu vimeo.com)

JUNKIES OF LOVE

Unser Leben wird dominiert von der Sucht. Abhängig, ausgeliefert – Menschen sind Junkies der Liebe. Liebe ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Liebe ist die perfekte Droge. Einmal angefixt können wir ohne sie nicht existieren. Wir müssen lieben. Jeder Erniedrigung, jeder Verletzung, jeder Narbe zum Trotz schenken wir uns einander immer wieder. Nackt und voller Hingabe in der Hoffnung, dass Seelen miteinander tanzen werden. Doch Liebe ist ein teures Gut. Sex dominiert die Gesellschaft. Sex ist das Methadon im Individualismus. Es geht um Youporn, Flatrate-Puffs und den schnellen Fick auf dem Kneipenklo. Im Jetzt herrscht die Egomanie, der Voyeurismus, die Selbstdarstellung beim Maskenball. Romantiker fallen durch dieses Raster aus Narzissmus und Ellenbogen. Sie werden auf ihrer Suche nach Liebe verzweifeln. Wir gehören dazu. Glauben Sie uns – wir waren bei einer Ehe- und Partnervermittlungsagentur. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Schlange und Joswig haben in ihrem Leben schon viele Aschenbecher gesehen: die Klassiker, die Styler, die Improvisierten. Leere Bierflaschen randvoll mit Zigarettenstummeln, zugeaschte Blumentöpfe, Spülbecken und alte Pommesschalen, in deren zähem Sud Kippenreste aufquellen. Das Exemplar vor ihnen auf dem Tisch ist ein gläserner Familienbottich. Groß wie eine Toffifee-Packung, schlicht gehalten, Fassungsvermögen gut sieben Schachteln. Schlange und Joswig sitzen im Beratungszimmer einer Ehe- und Partnervermittlungsagentur und warten.

„Und vergiss nicht, du hast seit fünf Jahren keine Frau mehr gefickt.“

„Verdammt.“ Joswig schaut seinen Freund an. „Was für ne Kack-Rolle.“

Schlange nickt ihm zu und packt seine Kippen und Brillenetui auf den Tisch. „Das ist halt unsere bekackte Geschichte. Du bist der hoffnungslose Fall, ich bin dein Finanzier. Punkt.“

Liebe ist ein gefährliches Business. Als die zwei die kleine Backsteinvilla in dem abgelegenen Industriegebiet betraten, irritierte sie das massive Schloss an der Eingangstür. Dann die Treppe hoch, auf der Zwischenetage zum Liebesinstitut ein großer Konvexspiegel. So aufgehängt, dass man von der Wohnungstür aus den gesamten Flur im Blick hat. An der Wohnungstür wiederum drei Sicherheitsschlösser. In der Liebe darf es keine Überraschungen geben. Man weiß nie, wer zu Besuch kommen kann. Schlange hatte bei vier Partneragenturen angerufen, die er im Branchenverzeichnis gefunden hatte. Keine der Nummern war noch vergeben. Das Geschäft mit der Liebe ist schnelllebig und hart. Darum auch Sicherheitsvorkehrungen, die jede Dealer-Bude im Amsterdamer Rotlichtviertel zum Kinderzimmer degradieren.

Die beiden Undercover-Journalisten atmen durch und gehen in sich. Ihr Liebesdealer lässt auf sich warten. Sie fühlen sich allein, betrachten dreizehn leere Stühle, die den Tisch säumen. Der Tisch füllt fast den gesamten Raum. Groß, leer und kalt – ein Konferenztisch für einsame Herzen.

Junkie of Love: Auch Du kennst einen Liebesjunkie, glaub es mir. Du kannst ihm überall begegnen. Im Freundeskreis, im Café, auf der Arbeit oder in der U-Bahn. Manchmal ist er berauscht und vom Glück beseelt, manchmal antriebslos und verzweifelt. Manchmal sieht er aus wie jeder andere und manchmal siehst Du ihn über den Bildschirm flimmern. Betrachte Dein Spiegelbild und Du wirst ihn auch dort erkennen. Jeder Mensch, den einmal Amors Pfeil gestreift hat, bleibt ein Junkie der Liebe. Was sonst soll Deinem Leben Sinn geben? Liebe ist stärker als reines LSD. Und Seelenpartner gibt es. Garantiert. Höre nie auf zu suchen. Wenn du ihn hast, halte ihn fest. Erst in der Einsamkeit entdeckst Du, wie süchtig Du wirklich bist. Ohne die Droge Liebe wirst Du gequält und getrieben wieder und wieder nach neuem Stoff suchen.

In der Mitte des Tisches liegt neben dem Ikea-Katalog und mehreren Magazinen über das moderne Eigenheim und den gepflegten Garten ein laminierter Zeitungsartikel über das Liebesinstitut – „70 Prozent unserer Kunden sind bereits nach drei Monaten glücklich. Bei uns liegen Sie goldrichtig“. Neben dem gläsernen Familien-Ascher stehen ein Blumenarrangement und eine Schale mit 123 Zucker- und Milch-Päckchen. Die Belegschaft einer Notaufnahme könnte hier locker drei Nächte durchmachen. Im Ascher fängt sich das Sonnenlicht, das durch die großen Fenster in Schlanges und Joswigs Rücken scheint, und fällt durch sein blaues Glas auf die Tülldecke, die über der Tischplatte ausgebreitet liegt. Der Schatten des Aschers gibt dem apricotfarbenen Stoff eine Note Ultramarin. Fast alles in dem Raum ist angenehm mediterran – abgesehen von der deprimierenden Leere.

„Schwammtechnik ist echt fürn Arsch“, mault Joswig und betrachtet kritisch die gegenüberliegende Wand. An der ockerfarbenen Tapete hängt ein Kunstdruck von Picassos „Cover for Verve“.

„Auf jeden.“ Schlange zeigt auf die große Regalwand zur Rechten. „Hast du schon ma herzchenförmige Kakteen gesehen?“ Joswigs Blick wandert zu den drei Pflanzen, die in süßen roten Töpfchen auf dem mittleren Brett stehen. „Geil, und sonst kein einziges Buch.“

„Das ist trist.“ Joswig nickt.

Die beiden fühlen sich verloren. Dreizehn leere Stühle, Magazine über Dinge, die nur zu zweit Spaß machen, Milch und Zucker für eine lustige Runde mit Freunden und ein Aschenbecher, den ein Mann allein niemals füllen könnte. Die Einsamkeit ist erdrückend. Die zwei sind endlich bereit die Liebe zu kaufen.

„All you need is love“: Zivilisationskrankheit Einsamkeit – Leiche nach Jahren in Wohnung entdeckt. Verendet, verrottet und vergessen. Quält Dich die Angst allein zu verrecken? Anonym unter Millionen? Liebe hat tausend Gesichter: Sie kann Dich mit den Augen Deiner Mutter anschauen, sie kann in der Umarmung eines Freundes liegen, sie klingt im Lachen Deiner Kinder, oder stinkt nach der triefenden Schnauze Deines Yorkshire Terriers. Nur die Liebe gibt Dir Sicherheit, Liebe schenkt Dir Wärme und lässt Dich all die Scheiße ertragen. Du brauchst sie, Du kannst nicht anders. Alles wirst Du versuchen. Und mit jeder Verletzung und Zurückweisung wirst Du weiter verzweifeln. Die Wege der Liebe sind unergründlich. Irgendwann wirst Du Dich vielleicht bei einer Partneragentur wiederfinden – in der Hoffnung einen Weg aus der Einsamkeit zu finden. Liebe ist schließlich alles was Du brauchst, hab nur Vertrauen.

Im Vorzimmer schlagen spitz ein paar Absätze auf steinerne Fliesen – edle Stöckelschuhe, die Tür öffnet sich, Frau L tritt ein. Eine Erika Berger mit schwarzer Gucci-Brille, die Liebesgöttin aus dem Schnäppchenmarkt.

„So, um wen von Ihnen geht es denn heute?“, fragt Frau L routiniert, reicht den Herren zwei Gläser Mineralwasser, legt eine Mappe vor sich auf den Tisch und setzt sich. Zwei leere Stühle trennen sie und Joswig. Der räuspert sich.

„Ich bin der hoffnungslose Fall“, seufzt er und lässt die Schultern sinken.

„Verstehe.“ Ihr Blick schwenkt irritiert zu Schlange. Er lächelt sie an und nickt. „Ja, ja, das ist unser Sorgenkind. Deswegen hatte ich auch angerufen und mit Frau O gesprochen. Wir sind eine Clique aus sieben Mann, kennen uns schon seit knapp zehn Jahren. Mittlerweile ist jeder von uns unter der Haube – bis auf Herrn Joswig.“ Er klopft ihm väterlich auf die hängende Schulter. Joswig atmet tief durch. Frau L schaut verständnisvoll. „Naja, können Sie sich ja vorstellen, dass n gemeinsamer Grillnachmittag nur halb so lustig ist, wenn jeder seine Frau im Arm hat, und einer bedröppelt in der Ecke hockt.“

„Selbstverständlich“, haucht L mitfühlend.

„Wir haben alles mit ihm versucht. Singleparties, Speeddating, Internet und Kuppeleien im Freundeskreis. Alles erfolglos. Deswegen haben wir jetzt zusammengeschmissen, damit wir den Mann endlich an die Frau bringen. Sie sind quasi unsere letzte Hoffnung.“ Joswig schaut sie betreten an.

„Ungewöhnliche Geschichte. Aber ich finde es schön, dass Sie sich so um Ihren Freund kümmern.“ Frau L schenkt ihren Kunden ein Lächeln. „Gut, dann erst einmal zu uns. Wir sind seit fast dreißig Jahren eines der renommiertesten Partnerunternehmen in Deutschland. Unsere Kunden kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Ich hatte letztens erst einen Herrn aus München hier…“ Frau L kann jeden bedienen. In ihrer Kartei finden sich Menschen zwischen 18 und 88 Jahren. Durchschnittsalter sei 24, meint sie. Hauptsächlich Diplomingenieure, Maschinenbauer, Ärzte und Theologen. L erzählt Joswig und Schlange von Glücks- und Erfolgsgeschichten, von der tollen Berichterstattung in der Presse, von angeblich 12.000 Singles in ihrer Datenbank und von der wahren Liebe, die jeder Mensch braucht. Ihr Institut vermittelt nur dauerhafte Beziehungen, für den schnellen Sex sei man bei ihr falsch.

Sex als Surrogat – der Analogkäse der Liebe: Ein echter Liebesjunkie zieht sich selbst das billigste Zeug durch die Nase – nur um ein einziges Körnchen reiner Liebe zu erwischen. Egal wie sehr das Pulver brennt und das Hirn zerfrisst. Die gestreckte Line muss nur auf dem Tisch liegen. Der One-Night-Stand ist fades Gefühleschnüffeln, flüchtige Selbstbestätigung, ätherische Nähe und Sex auf der untersten Stufe. Hast Du schon mal einen PEP-Kater gehabt? Der schale Geschmack, die zerhackten Erinnerungen, die Leere, die über Dich hereinbricht? In Deinem Bett liegt ein Mensch, den Du nicht kennst. Machen wir uns nichts vor: In der Einsamkeit frisst der Mensch jeden Scheiß. Er fickt aus Verzweiflung – in der Hoffnung, dass ihn ein Hauch Liebe berührt.

L sieht Joswig tief in die Augen. „Wollen Sie wirklich, dass Ihr Freund hier bleibt? Einige Fragen werden sehr persönlich.“

Joswig hat sich in seiner Rolle gefunden. Traurig und lethargisch hockt er auf seinem Stuhl und knibbelt verlegen an seinen Fingernägeln. „Das ist für mich kein Problem, denke ich. Wir haben keine Geheimnisse. Willst du denn bleiben?“

Schlange zu Joswig: „Klar.“ Dann zu L: „Schließlich bin ich ja auch derjenige, der zahlt.“ L nickt. Mit ernstem Gesicht schlägt sie ihre Mappe auf und nimmt ein Formular zur Hand. Sie wendet sich an Joswig. „So, seit wann sind Sie denn schon Single.“

„Seit fünf Jahren.“

„Ooh, das ist aber extrem lang.“ Sie wirft ihre Stirn in Falten und rückt ihre Brille zurecht. „Wie alt sind Sie denn jetzt?“

„33.“

„Hmm.“ Sie hält kurz inne. „Aber Sie hatten schon mal eine Beziehung.“

„Ja, ja, langjährige Beziehungen.“

L lächelt erleichtert. „Das ist gut. Andernfalls stellen die Frauen Fragen, was mit dem Mann nicht stimmt.“

Liebe 2.0: Noch nie konnte der Mensch gleichzeitg an so vielen Orten, in so vielen Welten mit so vielen Namen, Gesichtern und Geschlechtern sein wie jetzt. Die Zerstreuung ist allgegenwärtig. Fernsehen, Handy, Internet – wir sind immer und überall. Myspace, Facebook, W-Lan und Iphone. Der Mensch präsentiert, er inszeniert, er prostituiert – sich und seine verdammte Seele. Wir tragen uns nach Außen. Twitter mir den Seelenstrip, Baby. Deine Freundesliste fasst tausend friends. Du bist einsam, aber nicht allein. Sag mir, weißt Du noch, wie ein Kuss schmeckt? Liebe geht nach Innen. Das ist ihr Wesen. Aus tausend virtuellen Berührungen wird keine Zärtlichkeit.

Joswig wird katalogisiert. Hobbies, Haustiere, eigene Wohnung, Kinder. Dann die Frage zum Beruf. Joswig lässt sich treiben, improvisiert: „Joah, ich bin Schauspieler …“ Schlange hustet. Joswig macht eine Pause und schwenkt um. „ … ab und zu … und äh Dekorateur…“ Pause. Joswig kratzt sich demonstrativ am Kinn. Frau L macht still Notizen. „… und Bildhauer.“

Schlange zuckt zusammen. Frau L schaut auf und sieht zufällig, wie ihm ein gequältes Lächeln über das Gesicht huscht. Ein Ausdruck, den Ehemänner aufsetzen, wenn sich ihre Grazien der katholischen Landfrauenbewegung anschließen und anfangen, ihre Holzskulpturen mit Blattgold zu überziehen. Ein wohlwollendes Lächeln für den Versuch seinem Leben mit lächerlichem Kunsthandwerk einen höheren Sinn zu geben. Schmuckdesign, Seidenmalerei und Serviettentechnik. Im Falle von Joswig ist es lediglich die Begabung, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Frau L versteht Schlanges Mundwinkel falsch und hakt mit gespielter Neugierde nach. „Ach, was machen Sie denn für Skulpturen?“ Was für ein teuflisches Weib.

Joswig schubbert seinen Adamsapfel. „Joah, aus Ton…“ Pause. „… und aus Beton. Ich mach auch viele Skulpturen aus Beton.“ Schlange beobachtet amüsiert Joswigs Windungen und spielt mit seiner Zigarettenschachtel. Der Mann kann mit Beton soviel anfangen wie ein Straightedger mit einem Kasten Bier. Bildhauen mit Beton – was für ein Schwachsinn. 

L tut fasziniert. „Oh“, sagt sie. „Was kostet denn so eine Skulptur. Kann man die auch irgendwo sehen?“

„Selbstverständlich. Im Internet kann man die sehen und im Unperfekthaus in Essen werden die gerade ausgestellt. Kennen Sie das?“

L schüttelt den Kopf. Joswig weiter: „Zwischen ganz klein fürn Tisch und bis zu zwei Metern fürn Garten können die groß sein. Manchmal mehrere tausend Euro kosten die bei mir.“

Als sich Ls und Schlanges Blicke kurz treffen, nickt er ihr lächelnd zu. Sie hält Joswig für einen Idioten, das spürt er. Kein Wunder bei Joswigs Verkleidung, den ausgelatschten Lederstiefeln und dem verzogenem Vespa-Hemd. Frau L fragt den Hungerkünstler nach seinem Einkommen.

„…Puhhh, so tausend…“ Pause. Der joswigsche Kinnkratzer. Luft holen. „…zweihundert?“

L: „Aber netto?“

„Ja, ja, natürlich.“

„Das heißt, Sie sind Dekorateur und der Rest ist Hobby für Sie.“

Schlange hat das Gefühl eingreifen zu müssen: „Ja, der Mann ist unser Lebenskünstler, dekoriert Schaufenster, macht da seine Skulpturen, dort ma ein Theaterstück. Ist faszinierend. Aber auf sein Geld kommt er immer, ne?“

Joswig nickt brav.

Fragebogen zwei. Jetzt legt L Joswigs Such-Kriterien für die perfekte Frau fest. Ls Institut arbeitet nach dem Prinzip der Rasterfahndung: Verschiedene Kriterien werden in die Datenbank eingespeist. Mittels der Übereinstimmungsrate und der Wohnortnähe erstellt der Computer dann ein Ranking der Liebeskandidaten. Alter, Größe, Haarfarbe, Kinder, Kinderwunsch, besondere Ansprüche.

Joswig: „Besondere Ansprüche? Naja, ein Mindestmaß an Intelligenz sollte sie schon mitbringen.“ L entrüstet: „Selbstverständlich. Wir haben ausschließlich deutsche, intelligente Frauen. Keine – das soll jetzt nicht überheblich klingen – die nur „Ey, weißte“ sagen können.“

Schlange hakt sofort nach. „Nur deutsche Frauen?“

„Ja.“

Schweigen. Ein Auto verlässt den Hof der benachbarten Lagerhalle. Ein Vogel zwitschert. Frau L raschelt in ihren Unterlagen.

Einen Augenblick später wendet sie sich an Joswig. „Sie sind katholisch?“

Er nickt.

„Gut, dann wird es gar kein Problem sein, eine Frau für Sie zu finden. Wenn religiös, dann haben wir nur Katholiken und Evangelen bei uns in der Kartei. Keine Zeugen Jehovas und keine Muslime.“

Schlange zieht die Brauen zusammen. „Warum?“

„Ach, die Zeugen heiraten sowieso nur unter sich, und mit den Muslimen haben wir es am Anfang versucht, aber das hat nicht funktioniert.“

„Kulturelle Unterschiede?“

L nickt. „Kulturelle Unterschiede.“

Verständlich. Eheschließungen nach dem deutschen Reinheitsgebot.

Der Mensch braucht die Liebe, um Mensch sein zu können, meint L. Sie hat mal innerhalb eines Monats für eine 50-Jährige den Lebenspartner gefunden. Die Frau schickte daraufhin ihre beste Freundin ins Institut. Die Vermittlung erfolgte in vergleichbarer Rekordzeit. Frau für Frau tröpfelte nach und im Handumdrehen hatte L ein ganzes Kaffeekränzchen alter, verschrumpelter Herzen zu neuem Glück verholfen. Als Krönung des Ganzen kam sogar die Küsterin des Dorfes, die L verzweifelt um Hilfe ersuchte. Küster sind in bestimmten Gesellschaftskreisen angesehene Menschen. Wenn Joswig nun eine treue Kirchgängerin wäre, hätte L ihn mit dieser Geschichte an den Eiern gehabt. Wie könnte man besser die älteren Generationen betören als in einem Netz aus Gläubigkeit und verstaubten Wertvorstellungen, aus Hörigkeit und verzweifelter Romantik. L fand schließlich für jede Mutti das Richtige. „Die ganze Runde saß dann hier bei mir. Alle waren wie ausgewechselt, strahlten und hatten einen wundervollen Glanz in den Augen. Es ist unfassbar, was die Liebe aus den Mensch machen kann.“

Eine Droge namens Liebe: Sie raubt Deinen Verstand. Break on through to the other side. Kafka, Coitus, Crack-Wahn. Synapsen platzen, Dein Hirn wird geflutet. Hormone, Neurotransmitter, Electro-Party ohne Leinenzwang. Dein Dopamin verteilt die Glücks-Pillen, Adrenalin setzt die Teile-Fresser unter Strom – feuchte Hände, Herzrasen. Eskalation! Realität auf XTC! Kontrollverlust und Rauschgelage. Wahnsinn betritt den Dancefloor – eingeschleust von Endorphin und Cortisol. Dämme brechen, und Du ertrinkst in purem Glück. Das Opfer ist Dein Verstand. Dein Serotoninspiegel qualifiziert Dich für die Zwangsjacke. Manche Psychologen setzen den Zustand im Liebesrausch mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit gleich. Dein Gehirn ist verliebt und feiert Party. Du bist bereit, eine lebenslange, monogame Sexualbeziehung einzugehen.

L kann nur Menschen helfen, die bereit sind, von ihren Vorstellungen los zu lassen. Starre Ideale würden den Weg zur Liebe verbauen. Die Frau ist seit Anfang der Achtziger im Geschäft, sie muss es wissen. Täglich betreut sie fünf bis sechs Kunden. „Ich hatte mal einen Mann hier, der partout keine Rothaarige wollte. Ich habe ihm eine vermittelt.“ Laut L verliebten sich die zwei noch bei ihrem ersten Date. „Und als sie sechs Wochen später bei mir saßen, schauten sie sich noch immer so zärtlich an wie am ersten Tag.“

Das Wesen der Romantik: Welche Sphären soll Deine Liebe betreten? Nicht jeder Stoff ist rein. Brauchst Du den Kick für eine Nacht? Suchst Du immer wieder neue Schmetterlinge in Deinem Bauch? Oder willst Du die Liebe, die Dich unzertrennlich bis in den Tod begleitet? Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält der hormonelle Extremzustand im Hirn 24 bis 36 Monate an – höchstens. Es kommt der Punkt, an dem musst Du entscheiden! Kannst Du entscheiden? Kurzer Kick für eine Nacht, frischer Rausch mit rosa Brille, oder der magische Trip Deines Lebens. Lässt Du Dir einen Zaubertrick erklären, ist die Magie zerstört. Wen hältst Du im Arm, wenn Du morgens aufwachst? Hast Du wirklich Deine wahre Liebe gefunden? Sid Vicious gab sich den goldenen Schuss im selben Zimmer des Chelsea Hotels, in dem Nancy starb. Cash verließ uns vier Monate nach dem Tod seiner June. Walk the line – die schönste aller Liebesgeschichten. Den ultimativen Trip gibt es. Sag mir, an was willst Du glauben? Romantik ist Utopie, der Glaube an die absolute Unwahrscheinlichkeit, unter 6,8 Milliarden Menschen die einzig wahre Liebe gefunden zu haben.

Für L ist Liebe zeitlos. Sie kann überall erblühen, wo sie etwas Licht und Zuwendung bekommt. Nur sollte Sie nicht zu lange vergessen werden. Sonst verdorrt die Saat und wird nie wieder aufkeimen, meint Frau L. Eine 58-Jährige wandte sich einmal an Ls Institut. Sorge verzerrte ihr Gesicht, als sie die Geschichte einer Bekannten erzählte. Seit zehn Jahren habe die Freundin um ihren verstorbenen Ehemann getrauert, ihm einen Altar errichtet und sei in der Liebe zu dem Toten immer mehr vereinsamt und verbittert. So wolle die 58-Jährige niemals enden, das habe sie sich geschworen. Das Leben müsse weitergehen. Also suchte sie Hilfe und fand mit L zur Liebe zurück. Lückenfüllen statt Trauerbewältigung. Für L ist es mit der innigen Liebe wie mit Haustieren: Stirbt das Schoßhündchen, sollte man sich schleunigst ein neues kaufen. Zu viel Trauer macht einsam. Zeit ist für L sowieso ein entscheidender Faktor. Sie nimmt ihre Gucci-Brille ab und schaut Joswig tief in die Augen.

„Es ist gut, dass Sie jetzt gekommen sind. Je älter die Menschen werden, desto schwieriger ist es, einen Partner zu finden. Wären Sie erst in zehn Jahren zu uns gekommen, hätten Sie noch mehr Mukken und Macken gehabt.“

Joswig schürzt beipflichtend die Lippen und nickt. „Das wird wahrscheinlich so sein.“

„Ja.“ L scheint bestärkt. „Ich will ja nicht überheblich klingen, aber ich habe hier zum Teil Kunden, die nicht einmal wissen, dass Mann und Frau unterschiedliche Geschlechtsteile haben.“

Schlange und Joswig ziehen ungläubig die Brauen hoch. L ist zufrieden.

„Ja, ja, Anfang des Jahres saß hier ein 40-Jähriger mit seiner Mutter, mit dem mussten wir erst einmal vier Wochen lang telefonieren üben.“ Sie zu Joswig gewandt: „Können Sie denn telefonieren?“

Er: „Joah.“

„Sehen Sie.“ L triumphiert.

Die erste Propagandaregel lautet: Abwertung der einen Gruppe führt zur Aufwertung der anderen und hat ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl sowie Verbrüderungseffekte innerhalb der sozialen Gefüge zur Folge.

L lehnt sich zurück und zieht weiter an ihren Fäden, als wären Schlange und Joswig ihre liebessüchtigen Marionetten, abhängig, von ihr den Schlüssel zum Paradies zu bekommen. „Der Mann war wirklich ein schwieriger Fall. Ich finde es toll, wenn Männer mit vierzig, die noch nie eine Frau hatten, endlich eine wollen. Mit der Zeit verschließen sich die Menschen einfach und kommen nicht mehr aus sich heraus.“

Der Narbenmensch: Jede Enttäuschung und Zurückweisung reißt Dir eine Wunde ins Herz. Körbe, Betrug, Streit und Kompromisse. Je älter Du wirst, desto mehr Verletzungen wirst Du erleben. Jede Wunde, die heilt, hinterlässt eine Narbe, sie verhärtet und wird starr. Als Kind unschuldig, als Jugendlicher unbedarft, als Erwachsener unbeweglich – das ist die Evolution des Herzens. Streiche mit Deinem Finger über eine Narbe, und Du wirst ihre Geschichte sehen. Diese Erinnerungen werden zur Angst vor jeder neuen Beziehung. Keine Kompromisse, engstirnige Ansprüche, tiefes Misstrauen. Wir sind Narbenmenschen! Kannst Du Dich allen Narben zum Trotz jemals wieder fallen lassen, oder verschließt Du Dein Herz für immer?

L zieht aus ihrer Mappe einen zusammengehefteten Katalog mit Fotos hervor und schiebt ihn Joswig rüber. Knapp fünfzehn Bögen, vier Bilder pro Seite: alt, jung, blond, brünett, fett, adrett, Frettchenfresse, Knollennase, dicke Titten, androgyn. Bis auf schön ist alles dabei. Und jede der Grazien scheint aus einer Folge Denver Clan entstiegen zu sein. Dauerwelle, Spießertolle, lila Lidschatten und pinker Lippenstift.

„Welche der Frauen würde Ihnen denn zusagen, Herr Joswig?“

Joswig zögert, betrachtet das erste Frauen-Quartett und entscheidet sich schließlich für eine Perle Typ Eighties-Snow White. Vielleicht hat ja die Maus die vergangenen 20 Jahre im Glassarg verpennt, hofft er.

„Das wusste ich“, sagt L direkt. „Das hatte ich sofort im Gefühl.“ Sie blättert weiter. „Dann ist diese Frau auch etwas für Sie, nicht wahr?“ Sie zeigt auf eine weitere Brünette in jungen Jahren. Joswig nickt. Dass er von den ersten vier vorgestellten Frauen das kleinste Übel gewählt hat, ist verständlich. Dass L auf den folgenden Seiten mit dem kleinsten Übel immer richtig liegt, ist logisch.

L nach der sechsten Seite triumphierend. „Sehen Sie, ich hab ein Gespür für meine Kunden.“

Frau L ist Profi – in jeder Hinsicht: kompetent, erfahren und gewieft. Sie weiß, wie man ein Verkaufsgespräch führt. Etwas zum Anfixen hier, eine kleine Liebesgeschichte da, Erfolgsstories, etwas Romantik, Herzschmerz und Zucker für den Gaul. Der Kunde – egal was für ein Freak ihr gegenüber sitzt – ist König und auf dem besten Wege zum Glück. Er ist keiner dieser Sozial-Autisten, die nicht mal wissen, dass Mumu und Penis ineinandergesteckt werden müssen, damit Strom fließt. L gibt jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Und sie gibt jedem das Gefühl, mit dem Gang zur Liebesagentur das einzig Richtige getan zu haben.

„Die Frau fürs Leben finden Sie nicht an der Wursttheke, sie schellt nicht bei Ihnen an, auch das Internet können Sie vergessen.“ L reißt beschwörend die Augen auf. „ Im Netz weiß man nie, was kommt. Da wird gelogen und betrogen. Das habe ich vergangene Woche noch in dieser Verbrauchersendung „Markt“ gesehen. Neu.de oder elitepartner – das können Sie alles vergessen. Und als Frau würde ich das sowieso nicht machen. Wie oft hört man denn von vergewaltigten und abgestochenen Mädchen, die dann im Wald verscharrt werden?“ Knallharte Fakten, die L präsentiert: Das Fernsehen hat immer Recht, das Internet ist Scheißdreck und hinter jeder Ecke lauern mordlustige Vergewaltiger. Eine Alternative bietet nur ihr Institut. Bei L gibt es keine Fake-Profile: Nur deutsche Christen auf der Suche nach ernsthaften Beziehungen, so schön, als hätten sie seit Mauerfall die Wunder der Kryogenik genutzt.

„So, Sie haben gesehen, was ich Ihnen bieten kann, kommen wir nun zum Vertrag.“ L setzt ihre Brille auf und beugt sich nach vorn. „Ich kann Ihnen nicht die Garantie geben, dass Sie die große Liebe beim ersten Mal finden werden. Aber ich kann Ihnen die Garantie geben, dass Sie sie bei uns finden.“

Sie zieht die Vertragsunterlagen aus ihrer Mappe. „Ihr Profil kommt in unsere Kartei. Sie können so oft und so schnell Frauen treffen, wie Sie wollen. Sagt Ihnen eine Dame zu, setze ich Ihre Akte sozusagen auf Stand-by Modus. Normalerweise ist unser Vertrag auf ein Jahr begrenzt. Ich schreibe aber immer den Zusatz drüber „auf unbestimmte Zeit“, das heißt, sollte es dann mit der Frau nach einem Jahr oder so nicht funktionieren, rufen Sie einfach bei mir an. Ich aktiviere Ihre Akte, und die Suche geht weiter. Ein Vertrag auf Lebenszeit also.“ L setzt ein verführerisches Lächeln auf.

Schlange und Joswig schrecken zurück. Der Bund fürs Leben? Bis dass der Tod uns scheidet? Für viele die Erfüllung – doch im Angesicht des diabolischen Lächelns fühlen Schlange und Joswig kalten Schweiß auf der Stirn. Wie kann man sich hemmungslos in der Liebe verlieren, wenn man am Sicherheitsseil hängt? Wie kann man an die große Liebe glauben, wenn ständig die Option besteht, über L eine neue Frau bestellen zu können? Der Pakt mit dem Teufel hat immer einen Haken.

L schlägt den Vertrag auf. „Die Höchstsumme für die Dienste unserer Agentur liegt bei 6600 Euro.“

Holy shit! Ls Umworbene werden kreidebleich. Knapp sieben Mille für die Liebe? Wenn 6600 Euro ein Indikator für den Grad der Verzweiflung ist, kann L natürlich eine Garantie auf Vermittlung geben. Schlange versucht zu scherzen, doch seine Mundwinkel bleiben starr. „Da müssen wir mal schauen, ob er uns so viel wert ist.“

L macht eine beschwichtigende Handbewegung. „Es gibt hier noch eine weitere Agentur. Da bekommen Sie die Frau für vier acht. Allerdings gibt’s da nur Polinnen und Russinnen – natürlich alle aus dem Rotlichtmilieu. Verstehen Sie? Wir müssen so teuer sein, sonst kommen die Luden und kaufen uns die Frauen weg.“

So viel Menschenverachtung lässt die beiden Liebesjunkies still werden. Frauen sind etwas Wundervolles. Liebe wird hier verscherbelt, wie eine Tüte H-Milch an der ALDI-Theke. Romantik und Menschenhandel, Glück in kleinen Dosen, ein Vertrag auf Lebenszeit, gestrecktes Koks im Plastiktütchen und die immer währende Liebe. Wie können Luden die Frauen wegkaufen, wenn alles so verdammt seriös ist? Das schwere Schloss, der Sicherheitsspiegel im Hausflur, das lange Warten einsam im Beratungszimmer – langsam macht alles Sinn. Psychospiele, um verzweifelte Herzen mürbe zu machen. Eine Festung gegen die Vermittlungsmafia. Ls Jargon passt besser an die usbekische Grenze, ihre Miene wirkt hart, Schlange und Joswig fühlen sich unwohl.

„Sie können ruhig rauchen. Ich hab damit kein Problem.“ L zeigt auf den großen Aschenbecher in der Mitte des Tisches und lächelt kühl. Schlange und Joswig greifen hastig nach ihren Schachteln und stecken sich eine an.

„Über das Geld brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Über die Zahlungsmodalitäten können Sie sich mit unserem Buchhalter verständigen. Herr K ist sehr locker, Anfang fünfzig, fährt Motorrad, hat immer einen flotten Spruch parat.“ Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. Joswig schnauft. Als ob ihm irgendein Buchhalter in der Midlife-Crisis, der seinen fetten Arsch auf eine Goldwing pflanzt und unentwegt dumm schwätzt, als hätte er das komplette Mario Barth-Programm gefressen, 6600 Euro aus den Rippen leiern könnte. Arschlecken. L fährt fort. „Normalerweise veranschlagen wir immer eine Ratenzahlung von 100 Euro pro Monat. So viel geben manche Frauen schon allein für Schnittblumen aus, sag ich da immer.“ Sie lacht blechern. „Mach ich ja selber.“

Kurz überschlagen: Rund 12.000 Personen haben bei Ls Institut einen Liebes-Leasingvertrag laufen. Zwar sagt sie, das sechs sechs nur die Höchstsumme sei, doch wird ein Vertrag auf Lebenszeit immer auf den kompletten Preis kommen. Sechs sechs Sex – die Zahl des Teufels. Würden alle Kartei-Karten ihre Liebesgebühr zahlen, käme das Institut auf 79,2 Millionen Euro Umsatz. Liebeskartei – Karteiliebe – Karteileiche.

L redet weiter: „Wir bräuchten dann noch eine Selbstauskunft und Ihre Schufa-Daten. Das verstehen Sie ja sicherlich. Wir müssen ja auch nach den Vorstrafen schauen. Nicht dass „Er“ ein Zuhälter ist, oder „Sie“ eine Heiratsschwindlerin.“ L lacht.

Schlange und Joswig stecken sich neue Kippen an. Ls Witz ist aussagekräftig: Wenn sie befürchtet, dass sich Heiratsschwindlerinnen in ihre Kartei mogeln könnten, führt sie in erster Linie reiche naive Geldsäcke. Sorgt sie sich um Zuhälter, die ihr die Frauen abwerben könnten, sind die weiblichen Kunden in ihren Augen potenzielle Nutten.

Als sie Joswig den Vertrag zur Unterzeichnung rüberschiebt, greift Schlange ein. „Ähm, ich denke, ich muss da erstmal mit unseren Jungs drüber reden. Mit sechs sechs hatten wir nicht gerechnet. Vielleicht machen wir fifty-fifty, müssen wir nochma durchrechnen.“

Joswig pflichtet bei. „Ich würd da auch gern eine Nacht drüber schlafen. Ist ja doch ne Stange Geld.“

Ls Stimme wird schnippisch: „Normalerweise haben sich das unsere Kunden sehr genau überlegt, bevor sie zu uns kommen.“

Schlange: „Das konnten wir ja nicht wissen. Am Telefon haben Sie ja keinen Preis genannt.“ L klappt den Vertrag zu. „Damit ist dann unser Gespräch beendet. Aus datenschutzrechtlichen Gründen muss ich jetzt hier Schluss machen.“ Sie zieht eine Visitenkarte aus ihrer Mappe. Elfenbeinfarben mit verschlungener, grüner Schrift. „Sie können mir Bescheid geben, wenn Sie endlich wissen, was Sie wollen.“

 

Das wissen wir. Die Liebe ist da draußen. Wir suchen weiter.

Ihre Wattenscheider Schule.

 

 

 

 

 

Very special thanx to:

Christian Turk (illustration)

Matt Dolibog (fotos)

Völker hört die Signale, auf zum anderen Geschlecht!

Feuer ist Erneuerung. Die Welt muss brennen. Wirtschaftsimperien zerbrechen, Milliarden verpuffen, Ängste zerfressen das Volk. Wo schlägt das Herz der Rebellion? Tanzt es nicht auf dem Trümmerfeld des Kapitals? Erhebt Euch, ihr Massen! Auf zur Revolution! Lodernde Villen, barbusige Frauen, Sex, Gewalt und Freudenfeste. Doch halt: Manch Revoluzzer versucht den Umsturz auch gesitteter – beim Klammerblues im Schmusetakt. Glauben Sie uns. Wir haben es erlebt – im Wochenend-Camp der Sozialistischen Deutschen Abeiterjugend (SDAJ). Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Kleine Fachwerkhäuschen, grüne Fensterläden, Begonien in den Blumenkästen. Wenn Sie irgendwo Frieden finden – dann in Leichlingen, der "Blütenstadt". Rund 27 000 Einwohner fasst das idyllische Dorf im Rheinland. Seit Jahren SPD-Hochburg. Auf den Straßen grüßt man sich.

Schlange und Joswig irren durch eine malerische Fachwerk-Siedlung auf der Suche nach der Revolution. Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) campiert am Stadtrand, auf der Wiese des Naturfreundehauses Leichlingen. Eine kleine, romantische Pension – die perfekte Tarnung. Umsturz im Spießertum, Terrorzellen unterm Pavillion, brennende Gartenstühle und lodernde Sonnenschirme. Niemand vermutet das Inferno im Paradies.

Einmarsch der Freizeit-Revoluzzer

"Wacht auf, Verdammte dieser Erde,

die stets man noch zum Hungern zwingt."

(Aus: Die Internationale)

Die Revolution schläft noch. Es ist Samstagmorgen 9 Uhr. Als die zwei Reporter von einem Grüppchen Rocker, die wie die SDAJ bei den Naturfreunden zelten, an einigen Harleys vorbei zum Sozialisten-Camp geschickt werden, liegt der Umsturz noch in den Federn. Totenstille auf dem Campingplatz. Kein Sozialist im Anmeldezelt, kein Funktionär beim Kaffeekochen, kein Rock’n’Roll, kein FKK und keine freie Liebe.

Joswig trottet geknickt über den Platz, Schlange schleppt sich, das Igluzelt und seinen Schlafsack hinterher. Es ist heiß, die zwei haben bereits Schlagseite und Tränensäcke. Vier Stunden Schlaf und drei Bier im Zug fordern ihren Tribut.

Zelt aufbauen – Schlange im Feinripp, Joswig am Boden. Erste revolutionäre Zellen formieren sich am Küchenzelt und begaffen die Neuankömmlinge.

Joswig: „Ich brauch n Kaffee.“

Schlange: „Ich nehm n Müsli.“

Die beiden Wochenend-Revoluzzer schmeißen ihre Klamotten ins Zelt und steuern zur Essensausgabe. Ein rundlicher Genosse mit blondem Pferdeschwanz und flauschigem Kinnbart schaut die zwei Unbekannten kritisch an.

Joswig: „Kaffee.“

Schlange: „Och, ich würd mich schon mit nem Müsli zufrieden geben.“

Der Kamerad: „Wo sind eure Festival-Bändchen?“

Joswig fasst sich an den Kopf: „Oh Mann, ich will doch nur n Kaffee. Stell dich nicht so an.“

Der Kamerad verschränkt die Arme und hebt sein Kinn empor. „Ohne Bändchen gibt’s keinen Kaffee.“

Blöder Diktator. Bevor Joswig was sagen kann, beschwichtigt Schlange: „Alter, im Ordnerzelt sitzt noch keiner. Komm, wir haben grad aufgebaut. Meinst du wir wollen dir deinen Kaffee klauen und wieder verschwinden?“

Der Bursche verzieht keine Miene. „Kennt ihr denn jemanden, der für euch bürgen kann?“

„Waaas?“ Joswig taumelt. „Bürgen?“

Schlange: „Wir holen uns gleich n Bändchen. Das kann doch nicht dein Ernst sein. An dieser albernen Bürokratie ist schon die DDR gescheitert.“

Genervt und mit leerem Magen drehen sich die zwei um und schlurfen zurück zum Zelt.

„Wartet kurz. Ich frag ma eben nach.“ Der Frühstücksbürokrat schiebt sich an einer Schüssel Obst und drei Paletten Joghurt vorbei, läuft zu einem Essenstisch und berät sich mit seinem Vorgesetzten. Dann winkt er die zwei heran.

Der stattliche Vorgesetzte, Marke behaarte Ska-Type, dreht sich um und mustert die neuen Genossen.

Ihr Festival-Outfit: ein Punk-T-Shirt mit amerikafeindlichem Motiv und eine 30 Jahre alte Jeans (Joswig), eine verschlissene Schlaghose mit Band-Aufnähern und eine geflickte Gürteltasche (Schlange), dazu ein entschlossener Gesichtsausdruck (beide).

Der Vorgesetzte: „Jungs, ihr seht so geil abgewranzt aus – wie die Sixpack Lovers.“

Joswig guckt sich Schlanges Plauze im Feinripp an. „Bitte? Die Sixpack Brothers?“

„Nein, Lovers, ne ziemlich schlechte Punkband“

„Ach so. Nö, kennen wir nicht. Gibt’s Kaffee?“

Lässig lehnt sich der Ska-Typ zurück und mustert die Neuankömmlinge. „Schon okay. Eure Gesichter kann ich mir merken. Wenn ihr heute Abend kein Bändchen habt, fackel ich euer Zelt ab.“ Wie reaktionär.

Das gesamte Camp fasst vielleicht 40 Zelte, davon ein Küchen-, ein Anmelde-, ein Infozelt und die große Veranstaltungsjurte. Die zwei Reporter lassen den Mann stehen und besorgen sich Frühstück. Der Kommunismus hat gesiegt – Kaffee für alle.

„Wir sind nicht aktiv.“

Kaffee treibt. Um halb sechs heute Morgen hieß es für die beiden Freizeit-Revoluzzer aufstehen, keine Zeit für Toilettengang. Also nach dem Essen Sanitäranlagen checken. Auf einem Familiencamp wie diesem muss es vernünftige Klos geben.

Hinter dem Essenszelt an einer Feuerstelle und einem idyllischem Kinderspielplatz vorbei erreichen die zwei ein kleines Häuschen. Groß stehen dort die Worte Duschen und Klos auf einem Pappschild. Joswig geht vor. Die zwei haben nur ein Paar Flip-Flops dabei, Schlange bleibt barfüßig am Eingang zurück.

Im ersten Raum des weiß-gekachelten Ganges fällt Joswigs Blick auf drei nackte Bolschewisten, die sich vor den Spülbecken trocken rubbeln. Im nächsten findet er die Klos. Zwei Kabinen ohne eine einzige Brille. Er stöhnt: „Oh, Mann. Zustände wie aufm Festival.“ Ein Paar Flip-Flops und keine einzige Kohle-Tablette gegen den Stuhlgang. Miserable Vorbereitung von den zwei Haudegen.

Schlappentausch am Eingang, auch Schlange wird nur Bier wegbringen. Der Kommunismus ist verinnerlicht, Scheiße wird unterdrückt.

Während Joswig wartet, kommt ein kleiner dicker Südländer zum Toilettenhäuschen und versucht in dem Wasserbottich an der Hauswand sein Frühstücksgeschirr zu spülen. Joswig: „Cooles T-Shirt, Genosse.“ Der Mann grinst. „Antifascista“ steht quer über seiner Brust. Er heißt Niko.

Niko ist Grieche, Fotograf und Kommunist aus tiefster Überzeugung. Während er seine Teller abwischt, schwadroniert er über die faulen und unfähigen Genossen aus Deutschland und über die lange und glorreiche Tradition seiner Heimat.

Schlange kommt zurück und unterstützt seinen Zeltgenossen. Die zwei nicken, bestätigen und befürworten jedes Statement des reaktionären Griechen. Selten scheint er Funktionäre auf Augenhöhe zu treffen und redet sich immer mehr in Rage. Soll das für ihn echte Völkerverständigung sein?

"Brüder in eins nun die Hände

Brüder das Sterben verlacht

Ewig der Sklaverei Ende

Heilig die letzte Schlacht."

(Aus: Brüder zur Sonne zur Freiheit)

Genug Polit-Propaganda, zurück zum Zelt. Es ist Viertel nach zehn. Schlange verzieht sich ins Iglu und zückt zwei Plastikbecher aus seiner Tasche. Ein roter mit einem Froschkönig, ein himmelblauer mit einem Entchen – clever gekauft bei KiK. Schlange füllt die erste Mischung Wodka-Grapefruit ein. Frosch und Ente werden an diesem Tag Joswigs und Schlanges treue Begleiter sein.

Über Megaphon kündigt ein schmächtiger Bursche mit mächtiger Afro-Frisur den ersten Programmpunkt des Tages an: Kennenlernrunde der engagierten Schüler im Veranstaltungszelt und Erfahrungsaustausch der Gewerkschaftler bei den Frühstücksbänken unterm Verdi-Schirm. Schüler wären sicherlich interessanter, doch Gewerkschaftler mehr alterskonform. Schlange macht noch einmal die Becher voll und schlurft mit dem roten Frosch, Joswig und dem blauen Entchen zu den Gewerkschaftskämpfern.

Illustere Runde – Aktive aus der gesamten Region. Wache Augen, geballte Fäuste, Wohlstandsspeck und Themenshirts. Die verschiedenen Gesellschaftsgruppen haben zu Tisch gebeten: zwei Jugendbetreuer, eine Journalistin, ein Arbeitsloser, ein Maurer und als Gesprächsleiter Thomas, ein zierlicher Schlosser und Campwart an diesem Wochenende.

Fürs Kennenlernen stellt ein Genosse einen Kasten Billig-Bier auf den Tisch. Felskrone. Auf den zwanzig Pilsflaschen sind zehn Vita Malz gestapelt. „Aber nur für die Vorstellungsrunde“, sagt er. Die Malzbiere gehen weg wie warme Semmeln. Schlange und Joswig greifen als Einzige zum Pils. Ganz die Sixpack Lovers.

Joswig gibt den Langzeitstudenten und Verdi-Mann: „Ich hab versucht bei Verdi aktiv zu werden. Mich wollte aber niemand wählen.“

Schlosser-Thommy hakt nach: „Ach, und was waren die Probleme bei euch?“

„Joah.“ Joswig holt tief Luft. Schlange beobachtet ihn amüsiert. Bereits 90 Minuten nach Ankunft in die Ecke gedrängt. Joswig weiter: „Ähm, Ihr kennt das doch. Es sind immer dieselben Probleme. Die da oben, wir da unten et cetera pp….“ Dreieinhalb Minuten biergeschwängertes Schwadronieren ohne Ecken und Kanten. Geschafft. Die Genossen sind zufrieden, wahrscheinlich auch nichts anderes gewohnt.

Dann ist die Journalistin an der Reihe. Voller Leidenschaft spricht sie vom Leid der Freiberufler, von den Kürzungen und Kündigungen, von schlechten Bedingungen und frustrierten Verlagen. Selbstverliebt wischt sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn, räuspert sich demonstrativ und beendet ihren Vortrag mit: „Und darum hoffe ich auf Verdi.“ Sie schenkt der Runde ein Lächeln.

Anerkennend nickt ihr Schlange zu. Er ist der nächste: „Ach, zu 80 Prozent kann ich mich meiner Kollegin anschließen. Einziger Unterschied: Ich bin nicht aktiv und nur bei Verdi gelandet, weil man dort den günstigsten Presseausweis bekommt.“ Die Genossen lächeln müde, die Journalistin guckt entrüstet.

Vorstellung beendet, die Fronten sind geklärt, die zwei bekennenden Freizeit-Revolutionäre schnappen sich die nächsten Biere.

Der alte Mann und die DDR

Das Mittagessen ruft. Es gibt Nudeln und Tomatensoße mit Zwiebeln. Dazu Salat aus Wäschekörben ohne Dressing. So schmeckt also der Aufbruch – fad.

"Und weil der Mensch ein Mensch ist

Drum braucht er was zum essen, bitte sehr!

Es macht ihn kein Geschwätz nicht satt,

Das schafft kein Essen her."

(Aus: Das Einheitsfrontlied)

Die zwei Reporter schlingen sich eine Grundlage runter. Gleich geht das Trinken weiter. In 30 Minuten steht Geschichtsstunde mit Rolf Priemer an, Ex-Chefredakteur der linken Zeitschrift Elan, Mitbegründer der SDAJ und ehemaliger Vizevorsitzender der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Thema des Vortrages: Kurras – Die ganze Wahrheit.

Zurück am Zelt: Wieder füllen Schlange und Joswig ihren Frosch- und Enten-Becher. Für die Kurras-Debatte müssen sie gewappnet sein. Mit dem tödlichen Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg hatte der West-Berliner Polizist Heinz Kurras bei den Studentenunruhen am 2. Juni 1967 das Fass zum Überlaufen gebracht, eine ganze Nation gespalten. Die Studenten radikalisierten sich. Die zweite Welle der RAF rechtfertigte als "Bewegung 2. Juni" seine Gewalt mit dem Tod Ohnesorgs. Die Geschichtsschreibung der BRD fußt auf diesen vermeintlich faschistoiden Polizisten, der einen wehrlosen Studenten erschoss. Nun kam ans Licht: Karl-Heinz Kurras war SED-Mitglied und Stasispitzel. Die Grundfesten der gesamten 68er-Bewegung geraten ins Wanken. Für echte Sozialisten müsste ein Weltbild zusammenbrechen.

Die Holzbänke in der großen Veranstaltungsjurte sind im Rondell aufgestellt. Schlange und Joswig kommen zu spät, der Vortrag läuft bereits. Sie stellen Entchen und Frosch beiseite, schleppen eine Holzbank ins Zelt und setzen sich direkt hinter den DKP-Veteranen Priemer.

Die meisten Gesichter in der Runde sind noch mit Pickeln übersät. Fünf ergraute Altkommunisten haben sich zwischen den Zwölf- bis Zwanzigjährigen verteilt – bereit ihnen die Welt zu erklären. Joswig schnippt zwei Kippen aus seiner Schachtel und reicht eine an Schlange weiter. Nervennahrung.

Die erste halbe Stunde liest Priemer mit monotoner Stimme Zeitungsartikel aus dem Jahre 67 vor. Joswig gähnt. Von einem derart „hohen“ Tier wie Priemer hätten sich die zwei mehr Feuer erwartet. Um die Flamme nicht ganz erlöschen zu lassen, steht Joswig auf, um an der kleinen Bar in der hinteren Ecke der Jurte Bier zu holen. Zwei Tapeziertische, ein Sandwichmaker, ein Kühlschrank – beeindruckend.

Ein Mädchen mit Dreads und drei Piercings im Gesicht lächelt ihn verlegen an: „Bier gibt’s erst ab drei.“

„Was!?“ Joswig schnappt nach Luft.

„Sorry, da kann ich echt nichts machen.“

Gefrustet nimmt er wieder Platz. Während Priemer mit leiernder Stimme Zitat für Zitat runterbetet, verschwinden Schlange, Frosch und Entchen zu ihrem Zelt. Joswig hält die Stellung.

Als die drei zurückkehren, ist die Diskussionsrunde bereits eröffnet. Hilfesuchend blickt Joswig seinen Mitstreiter an. „Boar, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so n Scheiß gehört habe.“

Eine Verbindung zwischen Kurras Tätgkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der DDR und dem tödlichen Schuss wird angezweifelt. Priemer erklärt, dass Kurras unter gigantischem Druck stand, der Schuss eine reine Affekthandlung war. Schlange versteht das Leid seines Kameraden und reicht ihm einen Becher mit frischem Grapefruitsaft. „Hier, das hilft.“

Immer mehr Kinder melden sich zu Wort. Ein Fünfzehnjähriger mit Sommersprossen, Metal-Shirt, und dreiundzwanzig Festivalbändchen am Arm stimmt Priemer zu. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, das die SED je gegen uns gearbeitet hat.“ Der Satz verhallt unter anerkennendem Nicken der Alt-Kommunisten. Schlange und Joswig beißen in ihre Becher. Das kann doch nicht wahr sein.

Echte Revolutionäre denken im großen Maßstab. Sie führen Kriege, um die Welt zu verändern. Echte Revolutionäre opfern sogar ihr eigenes Leben für die Idee. Fragt die Mauer-Toten. DDR-Kuschelromantik gab es – wenn überhaupt – bei den Nackedeis an den FKK-Stränden der Ostsee.

Joswig räuspert sich. „Was ist nun…“ Er gestikuliert. „die Konsequenz aus der Tatsache, dass Kurras Stasi war und kein verhasster Faschist?“

Eisige Stille.

Er setzt hastig nach: „Also für uns als SDAJ-ler.“

Priemers Ehefrau, eine marxgraue, Eminenz mit strengen Gesichtszügen, greift ein. Sie hatte während der gesamten Diskussion die beiden Wochendend-Kommunisten misstrauisch beobachtet. „Ob Kurras wirklich als IM tätig war, sei mal dahingestellt. Außerdem musst du das einfach im Kontext der damaligen Zeit sehen.“ Prima. Und die Objektivität der Birthler-Behörde wird von ihr ebenfalls angezweifelt.

Ein weiterer Alt-Kommunist fügt väterlich hinzu: „Ihr müsst außerdem verstehen, die Aufgabe der heutigen Massenmedien ist, die Demokratie des Westens zu verherrlichen. Alternativen werden nicht zugelassen.“

Schlange steckt eine neue Kippe an und krallt sich an seinen Becher. Der einzige Auftrag der Massenmedien ist es Geld zu verdienen, um am Kacken zu bleiben, seniler Sack.

Nach 60 Minuten Märchenstunde versuchen die zwei Undercover-Journalisten Rolf Priemer abzufangen und an brisanten Punkten nachzuhaken. Der DKP-Veteran wird sich doch noch besser um Kopf und Kragen reden können. Bevor man ins Gespräch kommt, funkt die Ehefrau dazwischen. Verächtlich blickt sie Schlange und Joswig an: „Der Rolf muss jetzt zu unserem Bücherstand.“

Schlange und Joswig fühlen sich durchschaut. Antiautoritäre Keimzellen im sozialistischem Nährboden des Ausbildungslagers. Die Frau wusste von Anfang an Bescheid. Jetzt gilt es für sie wenigstens die bolschewistische Bastion und ihren gutmütigen Ehemann zu schützen.

"Und wenn ich mal groß bin,

damit ihr es wisst, dann werde ich auch so ein Volkspolizist.

Ich helfe den Menschen, ich bin mit dabei,

beschütze die Heimat als Volkspolizei!"

(Aus: Der Volkspolizist)

Sommersprossen, Trägertop und Titten

Seele baumeln lassen. Zeit für Festival. Sonne, Kippen, Alkohol. Herrlich. Nur volljährige Frauen fehlen. Joswig liegt unter dem Vorzelt des Iglus, Schlange spannt einen Knirps-Schirm auf und stellt ihn als Sonnenschutz übers Gesicht.

Links von den beiden öffnet sich ein Zelteingang. Niko, the Greeco, kommt zum Vorschein. Er grinst. „Man was hab ich denn hier für Nachbarn. Das geht ja gar nicht.“

Schlange schiebt seinen Kopf unter dem Schirm hervor. „Was solln wir denn sagen. Wir wohnen direkt neben so’m Ausländer.“ Niko lacht, schießt ein paar Fotos von den angetrunkenen Sonnenanbetern und verschwindet.

Zwischen den Zelten spielen Jugendliche mit Diabolos. Frisbees sausen durch den Himmel. Elfmeter werden geschossen. Rumtollen und Kinderlachen. Süße kleine Mädchen huschen an den Party-Revoluzzern vorbei. Joswig zieht interessiert die Brauen hoch, Schlange schmeißt ihm eine leere Zigarettenschachtel an den Kopf. „Lass das! Bei 90 Prozent hier machst du dich nur strafbar.“

Das Lockenköpfchen vom Frühstück hat sein Megaphon zur Seite gelegt und spannt mit einem Genossen bunte Party-Lichterketten über den Platz. Schrebergartenromantik beim Widerstand.

Joswig brüllt ihm zu: „Ey, geiles Shirt.“

Schlange zu Joswig: „Was stand drauf?“

Er: „Keine Ahnung.“

Der Afro freut sich trotzdem. Die beiden Reporter lehnen sich zufrieden zurück. Freude schenken kann so einfach sein. Frischgeduschte Frauen in Frottee-Handtüchern laufen über den Platz. Leider ausnahmslos fett wie Haufen. Hier verzichten die Jungs aufs Freudeschenken.

Beinahe ist Schlange weggenickt, als er eine Frauenstimme hört. Im selbstbewusstem Tonfall: „Jungs, ihr seht mir aus, als ob ihr Grillen könntet. Habt ihr Lust heute Abend noch eine Schicht zu übernehmen.“

Joswig: „Joah, naja also…“

Genervt klappt Schlange den Schirm zusammen, schmeißt ihn ins Zelt und erblickt eine wahre Kupfergöttin, die neben seinen Beinen kniet. Wie lodernde Flammen glühen ihre roten Haare im Sonnenlicht. Sommersprossen, Trägertop und Titten.

Er stemmt sich auf die Ellenbogen. „Von wie viel Uhr heute Abend redest du denn?“

„Zwischen halb zehn und halb elf fehlt uns noch die Grill-Aufsicht.“

Joswig prustet los. „Glaub mir, du wirst uns um diese Zeit nicht mehr in die Nähe von Feuer haben wollen.“ Dann nimmt er einen Schluck Grapefruit plus X und lächelt die rote Zora an.

Lydia heißt der Rotschopf. Sie hat das diesjährige SDAJ-Lager organisiert, entstammt einer Kommunisten-Familie. Ihre Mutter leitet das Camp in Kiel. Ein schweres Los. Wer wünscht sich schon als Erbe, die Welt in einen Arbeiter-und Bauernstaat zu wandeln.

„Meine Mama hat mich vorhin angerufen. In Kiel steht gerade mal das Küchenzelt. Guckt euch im Gegenzug unser Camp an. Alles fertig!“

„Gut gemacht.“ Schlange und Joswig nicken anerkennend. Die rote Zora hat bereits zehn Jahre Kommunisten-Camp auf dem zarten Buckel – immer aktiv dabei gewesen. Lydia ist 22.

Joswig grinst Schlange an: „Mit zwölf hab ich dir noch deine Legosteine geklaut.“

„Stimmt.“ Schlange klettert ins Zelt und füllt die Becher nach.

Dekollete und feurige Mähne sind leider nicht alles. Die schnuckelige Lydia hält zähe, ellenlange Monologe über ihre Zeit in Cuba. Bereits drei Mal war sie dort. Immer politische Reisen mit Abgesandten der Partei. Nach einer zähen halben Stunde steht der Rotschopf auf und verschwindet zum Info-Zelt. Joswig und Schlange versuchen zu schlafen. Propaganda macht verdammt müde.

"Der rote Stern an der Jacke, im schwarzen Bart die Zigarre.

Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke."

(Aus: Commandante Che Guevara)

Mehr Geld für alle – eine Podiumsdiskussion

„In fünf Minuten beginnt die Podiumsdiskussion Was tun in der Krise.“ Die zwei schrecken aus ihrem Dämmerschlaf. Das Lockenköpfchen hat seine Flüstertüte wiedergefunden und läuft proklamierend über den Platz. „Macht euch fertig Genossen für die Lösungen aus der Finanzmisere.“

Der erste Nachmittagskater hämmert hinter ihren Schläfen. Joswig zückt Froschkönig und Entenküken, und die beiden Sixpack Lovers schlurfen schwankend zwischen den Zelten hindurch zur Podiumsdiskussion. Es ist halb drei.

Die beiden Bänke in vorderster Front sind frei. Der Sitzkreis ist aufgelöst. Schlange und Joswig setzen sich in zweiter Reihe vor dem Podium und stecken zwei Kippen an.

Hinter dem Rednerpult warten: ein Kuschelsozi mit Brille und fuseligem Kinnbart (Vertreter der SDAJ), die Moderatorin (Schlange und Joswig waren ihre undefinierten Kurven aufgefallen, als sie vom Duschen kam), ein Bursche mit Dreadlocks (Vertreter von solid, der Jugendorganisation der Linken) und ein Mensch mit Migrationshintergrund (vermutlich ein Vertreter irgendeines Studentenbundes, Notizen hierzu unleserlich).

In der großen Veranstaltungsjurte hat sich das gesamte Camp versammelt, die Kids der Märchenstunde, die Gewerkschaftler, die alten Trotzkisten, ein paar Gasthörer und Verirrte. Alles interessierte Zuhörer beim Hauptevent.

Die globale Finanzkrise ist dabei schnell erklärt: Schuld sind natürlich die USA und der verdammte Kapitalismus. Das US-Immobiliendebakel entstand nur aus der Gier irgendwelcher Bänker. Der Ursprung der Finanzkrise ist viel grundsätzlicher. Die Wogen, die derzeit die Wirtschaft erschüttern, müssen als Symptom gesehen werden – vergleichbar mit Fieber. Ein Symptom für die eigentliche Krankheit, an dem die Gesellschaft seit Jahrzehnten leidet – dem Kapitalismus. Seit über dreißig Jahren wird Geld in gigantische Spekulations-Blasen gestopft. Solche Blasen müssen – wie der Name impliziert – irgendwann platzen. Plopp. Darum die Panik an der Börse, die Panik bei den Reichen, darum Massenentlassungen und Insolvenzen. Von den horrenden Managergehältern gar nicht zu sprechen. Auf die Rettungsversuche von Seiten der Politik kann man nicht setzen: „Wenn die irgendwas reparieren, dann nicht in unserem Sinne.“

Die jungen Burschen auf der Bühne stammeln, sind unsicher und kriegen sich gegenseitig in die Haare. Coole Kampfreden sehen anders aus. Goebbels hätte hier die Krise bekommen. Schlange zu Joswig: „Was wäre wohl gewesen, wenn Hitler gestottert hätte?“ Joswig fängt an zu glucksen.

Unbeeindruckt von den Unruhen in der zweiten Reihe erteilt die Moderatorin Schlosser-Thommy das Wort. Er hat sich wie ein amerikanischer Marineoffizier in der letzten Reihe aufgebaut und die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. „Wir müssen uns doch fragen, wer hat das Geld? Die wirklichen Verantwortlichen sitzen in der Karibik und fahren Wasserski.“ Thommy plustert seine Brust auf. „So kann das doch alles nicht weitergehen. Man muss den Staat zwingen, diesen Leuten das Geld wegzunehmen.“

Zustimmendes Raunen frisst sich durch das Stoffzelt. Entstehen so totalitäre Regime? Joswig prustet los. Das war eine Phrase zu viel. Tränen laufen ihm über die Wangen. Schlange schickt ihn raus. Hinter dem Zeltstoff hört man den Querulanten kichern.

Es geht weiter mit den revolutionären Forderungen. Arbeiterlöhne müssen gnadenlos erhöht werden, Arbeitslose kriegen saftige Pauschalen. Geld für alle, damit wieder Kaufkraft auf den Märkten existiert. Ob Staat und Unternehmen pleite sind, ist völlig nebensächlich.

Währenddessen vor dem Zelt: Joswig wischt sich das Gesicht trocken. Durchatmen. An der Zeltplane vorbei sieht er die Gesichter der Genossen, wie sie gebannt zur Bühne starren. Wie kann dieser gestammelter Agitprop nur so fesselnd sein? Er schaut aufs Handy. Ah, nach drei. Endlich Bier. An den hinteren Reihen vorbei schiebt er sich zur Bar.

„Zwei Pils, bitte.“

Dieses Mal steht ein Typ hinter der Theke und schaut Joswig dumpf an. „Bier gibt es erst ab fünf.“

„Vorhin hieß es: Bier ab drei. Außerdem hab ich bitte gesagt.“

„Nein, erst ab fünf. Dann ist das Fußballturnier, dann können die Genossen auch trinken. Ansonsten geraten die politischen Diskussionen hier aus dem Ruder.“ Leider verständlich. Joswigs Kopf sackt zwischen seine Schultern, er nickt einsichtig und trottet zurück zur zweiten Reihe.

Die Diskussion geht weiter: Auch für Opel haben die Genossen eine Lösung parat. Der Autobauer muss komplett verstaatlicht und die Produktion auf umweltfreundliche Fahrzeuge umgestellt werden. Schlange platzt der Kragen.

„Sag ma, du redest da von einer Verstaatlichung von Opel, damit die dann Öko-Kutschen bauen? A la Trabbi Reloaded? Ist das dein Ernst?“

Der Mann mit den Dreads nickt freundlich. Bevor Schlange nachsetzen kann, erteilt ihm die Moderatorin einen Dämpfer. „Nächstes Mal meldest du dich bitte erst mit Handzeichen. Hier melden sich auch noch andere.“ Schnell gibt sie das Wort an einen kleinen Jungen in den hinteren Reihen.

Hallo? Seit wann wartet die Revolution auf Handzeichen? Verdammte Seminarmarxisten. Wo bleibt die unbändige Wut? Niemand leitet eine neue Ära ein, wenn er aufzeigt und mit zitternder Stimme nach der Revolution verlangt.

Schlange schnappt sich Entchen und Frosch und stampft zum Iglu, um die Becher zu füllen. Bei seiner Rückkehr ist die Diskussion vorbei. Joswig sitzt mit einem älteren Herren und einem Rocker, rasierter Kopf, Metal-Kutte und Lederhose, in der letzten Reihe und unterhält sich.

„Endlich.“ Joswig greift nach dem Entenküken. „Du wirst nicht glauben, was hier abgelaufen ist.“ Er nickt dem älteren Herrn zu, der daraufhin eine ganze Reihe verfaulter Zähne bleckt. „Der Mann hier wollte wissen, wie die Trottel auf der Bühne die Arbeiterklasse verstehen – also definieren. Schließlich sitzen hier nur noch die wenigsten hinterm Stahlofen. Als Antwort kam: Interessante Frage, die könnt ihr ja jetzt im kleinen Kreis besprechen. Wir machen hier Schluss. Punkt.“

Der Rocker, der sich vom Nachbar-Camp verlaufen hat, ergänzt: „Die komischen Typen da auf der Bühne hatten doch keine Ahnung, was die da reden, haben nur mit irgendwelchen Fremdwörtern um sich geworfen. Was soll so’n Scheiß. Die haben noch nie gearbeitet, die sitzen nur in ihrer Uni und lernen Bücher.“

Schlange kocht noch immer, er prostet dem Rocker zu und zieht seinen Froschkönig zur Hälfte leer. „Ach was, die Jungs haben doch super argumentiert: Konsumption, Akkumulation und Produzentenkollektive. Was willst du mehr?“

Der Rocker blickt ihn leer an. Ironie scheint nicht sein Steckenpferd. Er dreht sich weg und nuckelt an einem Bier. Woher hat der Mann Bier?

Versorgungsengpässe: die schwarze Wurst

Zurück zum Zelt, genug recherchiert, Kräfte sammeln für Achim Bigus. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende des insolventen Autozulieferers Karmann pilgert seit Jahrzehnten von einem Liederabend zum nächsten und unterhält die Genossen mit Arbeiterliedern.

Während die zwei Hobby-Sozen versuchen etwas Schlaf zu finden, wandert das halbe Camp zum Bolzplatz ab. Fussballturnier und Bierausschank. Joswig verschiebt seinen Fassanstich, Kuba geht auf Kuschelkurs mit der US-Regierung und Nordkorea darf mit Raketen spielen. Keiner hat mehr Lust zu kämpfen.

Dämmerung. Joswig haut gegen den Zelteingang, es ist vielleicht acht. Schlange reibt sich durchs Gesicht. Aus der Veranstaltungsjurte schallt Musik. Mit zusammengekniffen Augen schaut er seinen Mitstreiter an, der mit einem Bier in der Hand vor dem Zelt sitzt. Woher hat dieser Mann Bier?

Schlange mit schlechtem Atem: „Boar, was für Mukke. Ist das nicht Right said Fred?“

„Jaaa. I’m too sexy for my shirt und so. Und davor lief Sasha mit This is my life.“

Schlanges Kopf fällt wieder nach vorn. Oh Mann, der sozialistische Liederabend beginnt mit Right said Fred. Die beiden schnappen Becher und Bier und raffen sich auf, um was Essbares zu organisieren. Ein offizielles Abendbrot gibt es nicht. An der Bar im Veranstaltungszelt reihen sich gut zwanzig Jungsozialisten um den Sandwichtoaster – in freudiger Erwartung auf Vollkornscheiben mit Tomatenmark und Plastikkäse. Widerlich. Schlange und Joswig suchen den Grill. Irgendwo muss es doch Fleisch geben. Ihre Mägen knurren.

Abseits des Camps, in einem kleinen gemauerten Unterstand werden die zwei fündig. Wurst ein Euro, Nackensteak 2,50. Als Beilage Brot und der Salat aus dem Wäschebottich.

„Zwei Mal Fleisch, bitte.“

„Gibt’s nicht.“ Der Typ, der den beiden antwortet, sieht satt aus, wohlgenährt, zufrieden. Lange Haare zum Zopf gebunden, Brille. Auf seinem Shirt steht: Komunismus ist machbar, Herr Nachbar.

Joswig: „Cooles Shirt. Aber warum gibt’s nichts zu essen. Wir haben Hunger!“

Der Typ erklärt den beiden, dass die Kohle alle ist. Schlange und Joswig sind geschockt. Wie wollen diese Menschen das Feuer der Revolution entfachen, wenn sie nicht einmal einen popeligen Grill anschmeißen können?

Hungern ist grausam. Schlanges Magenproblem meldet sich, seine Säure dreht durch. Nur Kippen und Grapefruit. Das schreit nach Reflux. Er geht zum Zelt zurück, mixt zwei neue Wodka und schüttet mit dem ersten Schluck eine Omeprazol (Magentabletten) runter. Joswig streunt über den Platz auf der Suche nach Essen.

Aus einer Kiste im Frühstückszelt lugt eine Rolle Alufolie – vermutlich Volkseigentum. Er schnappt sich die Rolle und winkt Schlange zu sich. Die Diktatur des Hungers muss ein Ende haben. Zwei rohe Würste für den vollen Preis gekauft, in Alufolie gewickelt und ins Lagerfeuer geschmissen. Ergebnis: nahrhaftes Acrylamid. Improvisation wurde schon in der DDR groß geschrieben.

Revolution Rock

Nach dem Essen beginnt der Megaphon-Terror von Neuem. Lockenköpfchen stolziert an den Zelten vorbei und kündigt Bigus an, den DKP-Barden, den EX-IG-Metall-Vertrauenskörperleiter, den Top-Act des Abends. Die bunte Lichterkette erstrahlt.

Das Veranstaltungszelt ist gerammelt voll. Endlich tanzt die Revolution. Jeder Rotgardist ist erschienen. Bier fließt, und Cocktails werden ausgeschenkt, Mojito und Cuba Libre. Was auch sonst?

Schlange und Joswig schwanken bereits und finden Platz in den hinteren Reihen. Bigus rockt die Massen: Bella ciao, Das Lied vom SA-Mann, Solidaritätslied und Commandante Che Guevara.

Das Volk tobt. Joswig heizt den Personenkult weiter an. „Achim“, kreischt er immer wieder. Die Genossen folgen ihm. Begeisterungs-Schreie durchschneiden von allen Seiten die Luft. „Achim, wir lieben dich!“ Fäuste recken sich in die Höhe, Tanz, Schweiß und Alkohol.

Zustände wie auf einer Teenie-Party. Pärchen finden einander, Geknutsche in den Ecken. Nur die zwei betrunkenen Reporter bleiben allein. Keine Revolution, keine Frauen, kein Sex. Ihre persönliche Revolte hätten sich die zwei anders vorgestellt. Romantik und Nostalgie erfüllen ihre Herzen.

SDAJ ist wie Pfadfinderlager, wie Klassenfahrt mit ideologischem Anstrich. Gesitteter Schmuserock. Klammerblues ohne Drogen, Kotze und Toilettenficks. Da kann auch ein Achim Bigus nichts dran ändern. Der Liederabend ist nur ein kastrierter Ausflug in den ungezügelten Aktionismus irgendwelcher Punkkonzerte. Trotzdem, irgendwie schmeckt’s nach Jugend: Linke Freidenker schauen in eine Richtung, ein Auftrag, ein Gedanke, Gemeinschaft, Solidarität und lautes Gegröhle.

Schlanges Magen dreht sich endgültig um, er ist definitiv zu alt für solche Abende. Auch Joswig sitzt immer teilnahmsloser zwischen den tobenden Revoluzzern. Entweder ist man Zyniker an der Flasche oder wütender Freiheitskämpfer. Im Alter muss man sich für eins von beidem entscheiden. Soviel alkoholgeschwängerte Melancholie überfordert Schlange und Joswig. Sie lassen Nostalgie Nostalgie sein und die Revolution der SDAJ geschehen. Torkelnd verschwinden sie in der Dunkelheit.

"Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen,

bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘.

Bringt als tapferen Partisanen mich sodann zur letzten Ruh‘."

(Aus: Bella Ciao)

Am Zelt knallt das Vordach runter, mit letzter Mühe schieben sich die zwei in ihre Schlafsäcke. Als Schlange den Eingang zuzieht erklingt aus dem Festzelt die Internationale. Die Jungsozialisten brüllen die Revolution in die Nacht, die Möchtegern-Revoluzzer schließen ihre Augen. Danach kann nichts mehr kommen. Die zwei Haudegen werden die Revolution verschlafen.

Solidarische Grüße, Ihre Wattenscheider Schule.

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Für eine heile Welt – Porsche Day am Tag der Arbeit

Die Welt von Porsche ist die Welt im Kleinformat. Es gibt die Malocher, die ihr Leben für einen Sitz im Sportsessel opfern, es gibt die Typen, die ihren Arsch von Vati vergolden lassen. Es gibt Champagner, Bier und Streuselkuchen. Ein bisschen Porsche ist jeder. Glauben Sie uns. Wir haben es erlebt – auf dem weltgrößtem Porschetreffen in Dinslaken. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

„Hey!“ Ein kleiner, dicker Typ schmeißt sich Herrn Schlange und Herrn Joswig in den Weg. „Ihr könnt hier nicht durch. Falscher Eingang. Hier ist nur für Porschefahrer.“
Joswigs Halsschlagader pocht. Es ist heiß. Der erste Mai in Dinslaken ist ein herrlicher Tag. Joswig macht einen Ausfallschritt Richtung Ordner. Schlange greift ein.
„Nein, nein. Ist schon okay. Presse. Wir sind akkreditiert.“
„Oh, das ist was anderes.“
Der Securitymann lächelt die zwei Journalisten an. Joswig schnaubt. Schlange greift nach seinem rosafarbenen Poloshirt und zieht den wütenden Hitzkopf hinter sich her, wird beinahe von einem Porsche überfahren. Schöner Luxus-Tod.
Die Sonne brennt.

Fast einen Kilometer hatten sich die zwei Freunde zur Trabrennbahn geschleppt, zum „8. internationalen Club-Day der Porschefreunde“. Die Stadt ist zugeparkt. Golf, Corsa, Fiesta und Corolla säumen die Straßenränder.
Direkt vor dem Eingang hatte den beiden ein Möchtegern-Porsche, ein silberner Mazda, den Parkplatz geklaut.
Ein Wagen scherrte aus. Knapp hundert Meter entfernt. Joswig setzte den Blinker und drückte das Gaspedal durch, fuhr dabei fast einen kleinen Jungen im Rollstuhl über den Haufen, der von seinen Eltern zum Porschetreffen geschoben wurde. Zentimeter vor dem Ziel zog der Mazda in die Lücke.
„Ey!“
Der Typ ließ die Scheibe runter. „Was denn? Das ist meine Seite.“
Joswigs Finger krallten sich in das Lenkrad seines Berlingos, währenddessen splittern in Berlin die ersten Schaufenster.
Ein zehnjähriger Rotzlöffel in dem Wagen hinter dem Prekariats-Porsche schiebt seinen Kopf durchs Seitenfenster.
„Ha ha!“ Das Nelson-Imitat gibt Joswig den Rest. Simpsons um diese Uhrzeit? Seine Zähne knirschen. Doch die Reporter halten still.
Der Parkplatz-Dieb hat ein beeindruckendes Kreuz, auch sein Beifahrer ist eine Kante. Memo für den Rückweg: In die Lüftung pissen.

——————————-ZUR FOTOSTRECKE——————————-

Die Arena der 140 Millionen

Fast 6000 Menschen tummeln sich auf der Trabrennbahn. Schlange und Joswig kochen. Der feine Sand wabbert in dicken Wolken über der Rennstrecke. Ozon, Feinstaub und Bierdurst liegen in der Luft.

Über 2400 Wagen sind geparkt, 140 Millionen Euro im Rondell. Die Wirtschaftskrise blieb in der Waschanlage. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Besucher picknicken und sonnen sich, Präsentationsstunde und Ersatzteilhandel. Baseballkappen, mit den Logos berühmter Automarken, werden verkauft: Mercedes, VW, Bentley, BMW je acht, die Porschekappe zehn Euro.

Joswig lockert seinen türkisen Schal über dem rosa Shirt – original C&A, Schlanges Brust schwillt unter seinem weißen Lacoste Hemd – made in Abu Dhabi. Der gemeine Porschefahrer trägt Polohemden, Ralph Lauren, Hilfiger, Lacoste und Porsche himself – Original natürlich.

Die Reporter verschaffen sich Überblick: Um eine Schnecke im schulterfreien Top scharrt sich der Society-Nachwuchs. Der Blick der beiden Oberschichten-Touris bleibt zwischen ihren Schulterblättern hängen. Zwei Engelsflügel sind auf die zarte Haut gestochen. Joswig rammt seinen Ellenbogen in Schlanges Seite.
„So stell ich mir ne Porsche-Perle vor!“
Die reichen Jungspunde drehen sich um und schauen finster. Zu laut. Schlange und Joswig lassen sie zurück – obwohl die Jungs kleiner sind als die Parkplatzdiebe.

Auf der anderen Seite der Trabrennbahn startet ein Weltrekordversuch der neun-vierundsechziger Jubiläumsporsche. Jubi-Parade kurz gesagt. 66 der auf 911 limitierten Sondermodelle, Baujahr 83, fahren im Schritttempo durch die Arena. Ihre „viola-metallicfarbenen“ Karosserien glänzen schwarz in der gleißenden Sonne. Fanatisch schmeißen sich Porsche-Fetischisten wie Kriegsberichterstatter in den Staub. Joswig schnappt seine Nikon D 70, ist heute der offizielle Fotograf und läuft in die Schusslinie. Einem Konkurrenten liegt in James-Nachtwey-Stellung die halbe Ritze frei. Kriegsstimmung. Schlange ruft zu seinem Bilderschützen.
„Die Kimme will ich haben. Schieß die ab!“
Der Typ schaut verstört auf und zieht sich die Buchse hoch. Wieder zu laut. Undercover-Journalismus sieht anders aus.
Nach zwei Minuten verliert die Parade an Reiz. Schwarze Autos, Schritttempo und bedeckte Ärsche. Joswig und Schlange desertieren und machen sich auf dem Weg zum nächsten Bierstand. Der Durst obsiegt in der Schlacht des Lebens.

Eine Diva unterm Sonnenschirm, mondän auf einem Campingstuhl. Ein Pärchen kommt hinzu. Sie begrüßt die beiden.
“Schön Euch zu sehen, seid Ihr auch mit Eurem Porsche hier?“
„Klar, aber der steht draussen.“
„Riskant“, findet Joswig, schließlich ist 1. Mai.

German Gemütlichkeit

Szenenwechsel, Parallelwelt Porsche-Diesel, das Reservat der antiken Porschetrecker. Eingepfercht in Absperrband stehen in der Mitte der Trabrennbahn 69 Oldtimer. In einem Planwagen wird Bier gezapft, unter Gartenpavillions sitzen Kerle in Karo-Hemden und Blaumännern. Grillgut duftet und Frauen verkaufen selbstgebackenen Bienenstich und Cremetorten. Spielende Kinder machen die Dorf-Idylle perfekt.

Gerstensaft im Plastikbecher ein Euro. Eine echte Alternative zum Prosecco der Rennbahnschickeria. Schlange sorgt für Erfrischung.
Ein Typ mit Schnäuzer sitzt vor seinem Zapfhahn, reicht dem durstigen Journalisten zwei Bier. Kondenswasser perlt vom Plastik, unter den Fingernägeln des alten Knackers steht schwarz der Dreck. Der junge Bursche, der haldolgedämpft das Geld entgegen nimmt, hat genauso ranzige Pfoten. Als hätten sie einen Acker mit ihren eigenen Händen umgegraben. Schlange nimmt zufrieden die Becher und geht. Hier im Treckerland können Männer noch echte Männer sein.

Beim Bier unterm Pavillion, den Hinterm auf ehrlichem Holz, den Duft von Fleisch in der Nase kommen die Reporter ins Gespräch.
In den 50er- und 60er-Jahren stellte Porsche als „Porsche-Diesel Motorenbau GmbH“ Traktoren her. Nichts für Polohemden und Leinenschuhe. Die Liebhaber der Touren-Trecker engagieren sich auch sozial. Der Ortsverein Ennepetal restauriert mit „arbeitslosen Berufsschülern“ die antiken Zugmaschinen. Klasse.
Schlange und Joswig lassen am Planwagen ihre Becher füllen und ziehen weiter zum Hauptevent.

Im Datenrausch

Auf dem Weg zur ADAC-Bühne, dem Austragungsort der röhrenden Drecksschleudern, stoppen die zwei Schreiberlinge bei einem grasgrünen Ralley-Flitzer. Auf dem Dach prangt ein goldener Pokal, im Inneren schützen Überrollbügel und Drei-Punkt-Gurt. Autogrammkarten stecken in den Seitenfenstern. Ein blonder Typ, drahtig, Anfang vierzig, der neben dem Porsche auf und ab stolziert, lauert auf Autonarren. Ein Jäger. Eine Muräne in der Felsspalte – bereit augenblicklich zuzuschnappen.
Schlange und Joswig wechseln Blicke. Der Plan ist klar, der Mann wird eingetütet.

Joswig bewundert den Wagen: „Ein echter Prachtporsche.“
Schlange genervt – dieses Mal gewollt zu laut: „Komm jetzt. Das kannst du dir von deinem Fotografengehalt eh nicht leisten.“
Joswig mault, die freundliche Muräne lacht. Kontakt hergestellt.

Der Wagen habe Geschichte, sei Rennen gefahren, habe etliche Preise geholt. Vor zwei Jahren sei er dann für 100 Mille in seinen Firmenbesitz gegangen. Die zwei Autolaien werden mit Technik-Details überschüttet. Bremsen aus Alu oder Keramik oder Alu-Keramik-Porzellan, Leichtmetallfelgen, Doppelendrohr. Der Vortrag verliert sich immer mehr in einem angenehmen Rauschen. 272 Spitze, Sechs Zylinder, 280 PS bei einem Sauger. Die zwei Reporter zucken aus ihrer Trance. Sauger? Nicht alles scheint wie Wasser von ihrem KFZ-imprägnierten Verstand abzuperlen.

Keine Gnade – der Mann referiert weiter. Der Weg zum eigenen Porsche war lang und hart:
„Früher hatte ich einen 360 GTC.“ Er hebt bedeutungsvoll die Brauen und schaut in die Gesichter seiner Zuhörer. Keine Reaktion. Leere könnte nicht offensichtlicher sein.
Er setzt nach: „Ein Ferrari.“
„Ach, stimmt.“
„Das Problem war nur: Die Leute gönnen’s einem nicht. Bei Porsche habe ich das nicht mehr.“
Schlange und Joswig nicken verständnisvoll. Im Angesicht des Sozialneids muss man kleinere Brötchen backen.
Abschluss: Schlange darf Probesitzen, Joswig schießt Fotos, der Mann ist zufrieden.

Ein silberner Porsche mit dem Aufkleber: „Man gönnt sich ja sonst nichts“ fährt vorbei. Endlich ein Statement.
Weiter geht’s zur Bühne.

Partnerlook

Lagebesprechung unter gelben ADAC-Bannern. Veranstaltungsmoderator Volker Küster, Sendergesicht bei Hamburg TV, Sänger, Dichter und Allroundgenie. Infos werden eingeholt, die weitere Planung besprochen, Tipps getauscht.

2001 entstand die Idee zum Porschetreff, der erste Mai sei das ideale Datum gewesen. Soziale Unruhen interessieren auf der Trabrennbahn nicht. Dann, 2008, erreichte der Porsche Day seinen Zenit. Eintrag ins Guiness Buch der Rekorde. 2325 Porsche in der längsten Parade der Welt. Legendär.

100 Kilo bayerisches Fleisch in ein grünes Polohemd gehüllt poltern plötzlich ins Gespräch. Er mit schwerem Dialekt: „Wie bekomme ich denn hier einen Pokal. Ich bin gerade angekommen.“
In Hamburg setzen Randalierer einen Porsche in Brand.
Küster: „Ähm, aber Sie haben einen Porsche?“
„Steht da hinten.“
Küster erklärt ihm das Prozedere: Vorfahren, Motorenkreischen, Pokal bekommen. Der Bayer verschwindet.
Menschen sammeln sich vor der Bühne, Digitalkameras werden ausgepackt, Kinder und BHs in Position gebracht. Der Höhepunkt des Events naht. Die ersten Nobelkarossen fahren vor. Trophäen werden inflationär verteilt. Die zwei Journalisten verlieren schnell den Überblick: ein Preis für die weiteste Anreise (laut Küster Schweden), ein Preis für die dicksten Schlappen, das dickste Endrohr, die dickste Frau.

Der Bayer mit dem grünen Polohemd ist zurück, steigt aus seinem grünen Porsche. Ein Sahneteil mit Liebe zum Detail, das Amaturenbrett überzogen mit Leder zieren karosserie-grüne Nähte. In bester Journalisten-Manier schnappt sich Schlange den Mann. Eine ehrliche Haut: 38, KFZ-Sachverständiger, arbeitet mit Porsche zusammen, hat sein Leben geschuftet, um in einem 150.000 Euro-Schlitten zu sitzen.
„Ist das Ihr Auto?“ Ingo Ruebener gesellt sich dazu. Der Bajuware nickt verwirrt. Ruebener , der Veranstalter des Events, ist ein freundlicher kleiner Zausel mit Catweazle-Bart und Steppjacke. Das zu tropischen Temperaturen. Absurd sich diesen Menschen hinter dem Lenkrad eines Nobelflitzers vorzustellen.
„Dann kriegst du gleich einen Sonderpokal.“ Der Kauz reckt seinen Daumen in die Höhe und verschwindet.

Das grüne Polohemd völlig durcheinander: „Wer war das denn?“
Schlange: „Der verteilt hier anscheinend die Pokale.“
„Hm ein ziemliches Alkoholproblem scheint der zu haben.“
Schlanges Atmung wechselt vom Mund zur Nase. Der Veranstalter scheint nüchtern. Soll er Ruebener reinreißen oder zur eigenen Fahne stehen? Er entscheidet sich für den Kollateralschaden.
„Kann gut sein“, presst er mit zusammengebissenen Zähnen hervor und dreht sich zu Joswig. Die Frau des Bayers tritt an die Seite ihres Mannes. Eine halbwegs attraktive Mittvierzigerin mit – selbstverständlich – grüner Bluse. Wie der Herr so’s Gescherr.

Der Fotograf im rosa Shirt fängt an den grünen Porsche zu knipsen, fragt über die Schulter: „Was ist das eigentlich für n Gefühl, so n Porsche?“
Markus Augen glänzen. „Wenn ich die Tür zu mache, lebe ich in einer anderen Welt, dann ist mir alles egal.“ Seine kleine grüne Fee steckt sich eine Kippe an. Er lächelt sie milde an. „Das ist einfach mein Laster. So wie andere Zigaretten rauchen.“ Die Ehefrau kichert: „Aber doch nur drei am Tag.“ Sie schauen zu Joswig und Schlange. Beide rauchen.

Schlange schnippt seine Kippe weg und hakt bei der Dame nach: „Ist bestimmt ein zeitaufwändiges Hobby. Braucht man da viel Verständnis?“
„Gar nicht: Mich hats ja auch gepackt. Ich fahr nen Cheyenne.“ Sie grinst. „Irgendwie müssen die Einkäufe ja nach Hause kommen.“ Recht so.
Schlange braucht Bier, bleibt jedoch hart. Nicht angebracht, lieber Imagepflege. Er zu Joswig – bewusst zu laut: „Ich könnte jetzt n Wasser vertragen.“ Joswig nickt und macht sich auf den Weg.

Den „Aristoclass“-Stand für „edle Pflegesysteme“ lässt er links liegen, rechts gibt’s nur Energydrinks der Marke „Kalaschnikow“. Joswig ignoriert den schwarzen Block. Es kippt die Stimmung in Berlin, am Kottbusser Tor fliegen Molotov-Cocktails. Dann, fünf Getränkestände später die Gewissheit. Porschefahrer leben gesund. Überall ist das Wasser ausverkauft. Verdammte Asketen.

Götterdämmerung

Joswig kehrt mit einem Becher Cola und einem Becher Saft zurück. Als er zu Schlange und dem grünen Pärchen stößt, gefriert die Zeit. Ein Götterwagen fährt vor. Den Zuschauern stockt ihr Atem. Autos ermatten. Martialisch lässt der Fahrer den Motor heulen, komponiert die eigene Siegeshymne zum Triumph. Sonnenstrahlen reflektieren auf seinen gebleckten Zähnen.
Die Reporter greifen zur Sonnenbrille.
Dicke Reifen, Karre im Seventies-Orange, schwarze Ralleystreifen, Carbon-Spoiler. Es ist Soundwettbewerb.

Der Fahrer, Ende zwanzig, Kai Diekmann-Frisur, Drei-Tage-Bart und Perlweiß-Grinsen, hält den Kopf aus dem Fenster. Müsste man sich den Chef der Bild-Zeitung vor 20 Jahren vorstellen, er wäre es. Der Mann schreit: „Hey, macht Platz! Wo ist mein Pokal?“
Er setzt ein selbstsicheres Grinsen auf. Der Mann hat ein Spitzbubengesicht mit viel zu kleinen Augen, sein Ralph Lauren-Hemd ist lässig aufgeknöpft.

Küster bleibt freundlich, geht um den Wagen und hält das Mikro an den Auspuff. Der Wagen brüllt. Der König ist da und lässt die Savanne erzittern.
Küsters Kommentar: „Unmessbar. Liebes Publikum, ihr werdet es nicht glauben der Sound hier sprengt jede Dezibel-Skala.“
Das junge Diekmann-Double strahlt, spitzt die Zunge und zieht sie genüsslich über die Schneidezähne, tastet jede Kerbe im gebleachten Zahnschmelz ab.
Schlange zu Joswig: „Spitzentyp. Der gehört uns. Wir müssen ihm nur n bisschen die Eichel putzen.“

Küster ist wieder hinter der Auspuffwolke aufgetaucht und hält einen Pokal in der Hand.
Diekmann springt aus dem Wagen. Zwei zehnjährige Mädchen überreichen den Preis. Charmant gibt er der ersten rechts und links einen Schmatzer auf die Wange. Ein echter Gentleman. So viel Herzlichkeit überfordert die Kinder. Das Mädchen bleibt verstörrt zurück, die andere macht einen Satz nach rechts. Keine Chance. Diekmann schnappt sie. Dann reckt er den Pokal über den Kopf und strahlt in die Menge. Tosender Applaus.
Eine aufgestylte Porschetouristin steht verzückt vor seinem Wagen und knipst ein Foto nach dem anderen.

Mit röhrenden Motor verlässt Diekmann den Platz. Der Fotohase hinterher. Kurzer Plausch am Seitenfenster. Casting ohne Besetzungscouch. Diekman kurbelt die Scheibe hoch. Die Maus senkt den Kopf – kein Recall. Schlange und Joswig würden sich gern ihrer annehmen, doch der Job geht vor. Der Wagen ist beinahe verschwunden. Die Haudegen nehmen Fährte auf. Am Rennbahnausgang stellen sie den anspruchsvollen Frauenheld.
„Wir schreiben übers Event. Hasse n Moment für n paar Fotos.“
Seine Zungenspitze wischt über die Lippen. „Na klar, Jungs. Ich fahr da vorne ran.“
Keine Nachfrage, kein Interesse, Hauptsache Fotoshoot. Echte Egos setzen Prioritäten.

Ein zweiter Porsche hält neben Diekmann, seine Mundwinkel zucken, er reagiert sofort.
„Fahr mal weiter. Hier geht s nur um mich.“
Die Rollen sind verteilt: Joswig fotografiert, Schlange wird investigativ:
„Ne geile Karre. Echt super.“ Schlange grinst. „Aber komm, das Ding ist doch n Perlenmagnet. Die Schnecken sind ja vorhin förmlich durchgedreht.“
Die Zunge schnellt wieder raus.
„Ja, hier war gut. Aber das lag auch an mir.“ Der Typ grinst. Schlange nickt annerkennend.
Diekmanns Zunge berührt sanft die Oberlippe.
„In Düsseldorf, auf der Kö klappt das nicht immer. Da finden es die Mädels blöd, wenn ich mit dem Porsche vorfahre.“ Das Hollywood-Grinsen erstrahlt wieder. „Mit dem Golf meiner Mama ist das besser.“

„Ist das denn dein Wagen?“ fragt Joswig.
Die Zunge bleibt drinnen.
„Ähm, ist der Wagen unserer Firma. Wir fahren Rennen mit dem. Monacco, Spa. Letztens sind wir in Spa gefahren.“
„Cool. Die Farbe ist echt der Hammer.“
„Auf jeden Fall.“ Diekmann lacht. Er schaut Schlange an und streicht mit der Hand über die Mundwinkel. „Obwohl du mit deinem Schnäuzer hier auch gut reinpassen würdest.“
„Och, ich bin eher der Manta A-Typ.“
Diekmann gnädig. „Auch nicht schlimm, auch nicht schlimm.“ Auch? – Selber!

Joswig hat die Bilder im Kasten, Diekmann den Tag gerettet. Ohne dieses blasierte Arschloch wäre der Termin nur halb so gut gewesen.
Man verabschiedet sich und er düst von der Trabrennbahn.

Epilog

Die Story ist rund – es geht nach Haus. 479 Polizisten werden in Berlin verletzt, einer hat während der Unruhen die Seiten gewechselt und seine Kollegen vertrimmt. In Dinslaken bleibt die Welt in Ordnung. 2418 Porsche sind in die Geschichte eingegangen. Schlange und Joswig holen an der Tanke eine Flasche Billigwodka (10,99 Euro) und beim Griechen zwei Gyrosteller mit einer Extraportion Tzatziki.

Man gönnt sich ja sonst nichts, Ihre Wattenscheider Schule.

 

Die Zeugen Jehovas sind die besten Menschen der Welt

Vergessen Sie Benedetto, vergessen Sie Luther, vergessen Sie Gandhi, Buddha und den Rest. Die Zeugen Jehovas sind die besten Menschen der Welt – das versichern wir Ihnen; wir haben es erlebt. Am Gründonnerstag im Königreichssaal in Dortmund Hombruch beim Abendmahl des Herrn. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Zur Vorgeschichte:

Zum wichtigsten Fest des Jahres, dem Tode unseres Heilands, sollten die Menschen sich ihrer Wurzeln besinnen. Nur durch das Opfer Jesu haben wir das göttliche Geschenk empfangen, uns von der Erbschuld, dem Sündenfall im Paradies, reinwaschen zu können.

Verständlich, dass in den Wochen vor dem Osterfest die Zeugen Jehovas armen Sündern ihre Hand reichen und Einladungen an Haustüren, Straßenecken und Billardtischen verteilen.

Herr Schlange fand die Option auf Erlösung am Dortmunder Hauptbahnhof – auf den ersten Treppenstufen zur Innenstadt. Seine schlafverklebten Augen erblickten in der Morgensonne zwei zierliche Beine, die unter einem knielangen Rock hervorlugten. Sein Blick blieb hängen, wanderte hoch, und ein zartes Mädchenlächeln strahlte ihn an wie ein Stern am aufklarenden Nachthimmel. Eines kam zum anderen: der Frühling, die Röcke, Müdigkeit, Testosteron und Vogelgezwitscher. Herr Schlange lächelte zurück und das zarte Geschöpf mit ihrem verführerischen Rock streckte ihm einen Zettel entgegen.

„Darf ich dir eine Einladung geben?“

„Sicher.“

Dass diese unschuldige Schönheit eine Zeugin Jehovas war, begriff er erst, als er die letzten Stufen zum Paradies erreicht hatte. Auf dem Plateau standen sieben schöne Menschen in Maßanzügen und Businesskleidchen – aufgestellt wie Spinnen im Netz an jedem Eingang und Winkel. Zielsicher sprachen sie Fußgänger an – Weiblein zu Männlein, Männlein zu Weiblein. Sex sells – das schien selbst in Jehovas Reich angekommen, und Schlange war an den klebrigen Fäden aus Hoffnung, Begierde und Gratis-Broschüren hängen geblieben.

Er steckte an einem Informationsstand den aktuellen Wachturm in die Tasche und zog weiter in die Redaktion.

Siebzehneinhalb Zigaretten später kam ihm die Eingebung. Es war abends, er saß Zuhaus und hörte Musik. Sexuelle Unmoral, Trunkenheit, Lügen, Habgier, unanständiges Reden, Missbrauch von Blut (in Form von Blutwurst), Genuss von Tabak „und so genannten Freizeitdrogen“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 122) – sieben von 14 Todsünden der Zeugen erfüllt. Es war Zeit für eine Waschung.

Herr Schlange goss sich ein neues Glas Glas Whisky ein, griff zum Telefon und rief Herrn Joswig an. Dessen erster Kommentar zur Aussicht auf Vergebung aller Sünden: „Geile Scheiße.“ (unanständiges Reden)

Joswig kicherte, und beide steckten sich eine Kippe an. Damit war es besiegelt. Touri-Fahrt zum Abendmahl. Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle schlagen Haken ins Paradies.

Gründonnerstag, die Anfahrt ins Himmelreich

Kurz nach 19 Uhr, Treffpunkt Redaktionsräume: Herr Joswig betritt das Großraumbüro gewappnet, um Gott auf eine neue Partie Mensch ärgere Dich nicht zu fordern – dunkle Stoffhose, blauer Pullunder, weißes Poloshirt und ein Scheitel, der jeder Brisk-Werbung geschmeichelt hätte.

Hinter zwei Flachbildschirmen entdeckt er Herrn Schlange. Ebenfalls gläubig gestylt: weißes Hemd, schwarzer Cord-Anzug, Rasur, nettes Lächeln. Joswig ist beruhigt. Wenn man Erlösung versprochen bekommt, sollte man sich auch in Schale werfen.

„Durch regelmäßige persönliche, aber unaufdringliche Besuche wollen wir erreichen, dass Medienvertreter erkennen, dass … wir keine grauen Mäuse sind, sondern durch schickliche Freizeitkleidung uns so geben, wie wir wirklich sind: nett, adrett und weltoffen (…); wir wie ‚Heintje’ sind – die netten Jungs und Mädels von nebenan.“ (Wachturm 15. Aug. 2000 S. 4)

Nach einer halben Stunde der Aufbruch. Vom Hauptbahnhof bis Hombruch per Auto gut zwanzig Minuten. Angespannte Heiterkeit erfüllt Joswigs Bulli. Erste Bedenken keimen auf.

Mit straff organisierten Drückerkolonnen lege man sich da an, hartnäckig und überzeugend. 20 Stunden macht ein Zeuge pro Woche auf Klingelmännchen. Jede Energiereserve wird der Verkündung der Wahrheit geopfert. Einmal in die Organisation gerutscht werden die sozialen Kontakte auf die eigenen Reihen beschränkt, der Ausstieg so immer weiter verbaut. Die Zeugen Jehovas werden Sinn, Zweck und Inhalt deines Lebens.

Ein Zigarettenstummel nach dem anderen landet im Aschenbecher oder auf dem vorbei ziehenden Asphalt. (Genuss von Tabak)

„Hilf den Brüdern zu erkennen, dass die Beteiligung am Verkündigen der guten Botschaft eine heilige Pflicht ist, ein Erfordernis, von dem unser Leben abhängt…“ („Gebt acht auf Euch selbst und auf die ganze Herde“ – Lehrbuch für die Königreichsdienstschule, Wachturmgesellschaft: 1991, S. 35)

Sie sind fast da. Schlange bekommt feuchte Hände, Joswig trommelt auf dem Lenkrad. An diesem Abend geht es um Leben und Tod, oder um 23 Besuche der „Verkünder“ vor der Haustür. Missionierung ist die Existenz eines jeden „Auserwählten“. Und die zwei verlotterten Tausendsassa sind auf direkten Wege in die Kommandozentrale der religiösen Staubsaugervertreter.

Ihr einziges Schutzschild gegen die ambitionierten Glaubensjünger: eine ausgefeilte Geschichte und zwei neue Identitäten (Lüge): Martin Glotz (Herr Schlange), trockener Alki, sucht Halt im Leben. Als ihm die süße Maus am Bahnhof wie ein Engel vom Himmel herab erschienen war und ihn zur Feier einlud, erfüllte ihn Hoffnung. Er ist auf der Suche. Als getretenener Hund natürlich auch vorsichtig. Deswegen die Begleitung durch seinen guten Freund Marcel Natas (Herr Joswig).

Aus anschwellender Paranoia wird ihr Wagen 750 Meter entfernt vom Königreichssaal geparkt. Die Zeugen dürfen niemals ihr Kennzeichen erfahren oder Flugblätter hinter die Scheibenwischer klemmen. Als sich die Wagentüren öffnen, steigen schwere Rauchschwaden in den milden Abendhimmel. Joswig hustet und steckt sich die nächste Kippe an, Schlange zieht nach. Dann Contenance, Jackett zuknöpfen, Ruhe finden – kein Lachen während der Zeremonie und kein Käsedipp zu den Oblaten.

An der Behringstraße 9, dem Hort der Königsreichskinder, steht ein massiger Typ, hellgrauer Anzug, gelbe Krawatte, Axel Schulz in zwanzig Jahren – nur besser gekleidet. Er entdeckt die zwei verunsicherten Gestalten an der Straßeneinfahrt, nimmt Blickkontakt auf. Die Schlinge zieht zu.

Kein Entrinnen, nur noch Hoffnung auf Erlösung.

Schlange und Joswig tapern wie eingeschüchterte Köter zum himmlischen Tor.

„Satan behauptete interessanterweise: Alles, was ein Mensch hat, wird er für seine Seele geben“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S.120; Hiob 2:4)

Das Abendmahl des Herrn, dem Himmel so nah

Durch die Milchglastüren zum Königsreichssaal klingen gedämpft Gebete.

Joswig zu dem Türsteher mit der gelben Krawatte: „Oh, schon angefangen. Dürfen wir überhaupt noch rein?“

„Selbstverständlich“, antwortet er mit sonorer Stimme und schiebt die zwei Sünder sanft ins Königreich.

Am Kopfe des Saales steht am Rednerpult ein Bruder mit Halbmond-Brille und feinen Gesichtszügen und erklärt in einleuchtender Klarheit, dass Wir alle Sünder sind und sich niemand davon selbst befreien kann. Der vollkommene Mensch ist nur eine Illusion der Werbeindustrie, niemand ist rein und perfekt. Der einzige Ausweg der Menschheit: Jehova. Logisch.

Schlange und Joswig schauen sich um. Auf den Stühlen, die den kleinen Saal füllen, sitzen rund 70 Personen jeglichen Alters und lauschen den Worten, die von vorn auf sie eindringen. Die Luft ist rein und sündenfrei.

Auf der rechten Seite sind die ersten beiden Stuhlreihen in vorderster Front unbesetzt. Offensichtlich die Besucherplätze. Die verirrten Himmelhunde schlurfen mit gesenktem Haupt über den beigefarbenen Teppichboden – vorbei an Drei-Generationen-Familien in perfekt sitzenden Anzügen und Kostümchen.

Die Präsenz der Zeugen schüchtert ein und beeindruckt zugleich. Eine junge Generation von Alpha-Menschen wächst hier heran. Athletische Körper, selbstbewusste Blicke, makellose Gesichter. Frauen in genetischer Schönheit und durchtrainierte Männchen, denen man unterwürfig die Kehle präsentieren will. Vielleicht ist ein Leben nach Gottes Wille doch förderlich für die Gesundheit von Körper und Geist.

Die zwei Ungläubigen umgibt eine Dunstwolke, als hätten sie in Aschenbechern gebadet. Im Antlitz der Designerstoffe wirkt Schlanges Cord-Jackett, das zerknitterte Hemd (beides H&M) und die ausgewaschene Cord-Hose (C&A) erbärmlich, Joswigs Pullunder gar indiskutabel. Obwohl die zwei auf alles vorbereitet schienen, kamen sie sich selten so deplaziert vor, zwei Hippies spielen auf dem Golfplatz Hacky-Sack.

Als sie sich setzen, steht an der gegenüberliegenden Seite ein dunkelhaariger Bursche mit breiten Schultern und kräftigen Oberschenkeln auf und verschwindet im Hinterzimmer. Wenig später kehrt er auf seinen Platz zurück, und ein freundlicher Teddybär setzt sich mit einem väterlichen Lächeln neben die beiden. Bei jeder Bibelstelle schlägt er die geheiligte Schrift auf, zeigt auf die richtige Stelle und hält das Buch der Weisheit in der ausgestreckten Hand den Unwissenden rüber, damit sie lesen können.

„Als Du zum ersten Mal gehört hast, was die Bibel wirklich lehrt, hat da dein Herz vor Freude, Begeisterung und Liebe zu Gott auch Feuer gefangen?“ (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 188)

Die weisen Worte hallen durch den Saal. Das Ende allen Lebens steht kurz bevor, die endzeitliche Entscheidungsschlacht im Krieg des Allmächtigen, das biblische Armageddon, bei den Zeugen das Harmagedon, bei den beiden Wölfen im Schafspelz in der ersten Reihe das unvermeidliche Karmageddon.

„Harmagedon nicht auf die leichte Schulter nehmen – Die Frage ist, auf welcher Seite jeder Einzelne in diesem entscheidenden Konflikt letztlich steht.“ (Wachturm 1. April 2008)

Nur 144 000 geistgesalbte Wesen gesammelt seit Anbeginn der Zeit wird ein Leben im Himmel gewährt. Bedingung u.a.: ein jungfräulicher Abgang. Joswig und Schlange senken ihre Häupter zu Boden. „Drecksscheiße“, hämmert es in ihren Köpfen. „Das kam zwei Jahrzehnte zu spät.“

„Wer flucht, missachtet den Schöpfer der Sprache. Angenommen, du hast einem Freund ein Hemd geschenkt oder einer Freundin eine Bluse. Was würdest Du denken, wenn er oder sie dein Geschenk als Fußabtreter missbrauchen würde? Was denkt wohl unser Schöpfer, wenn wir sein Geschenk – die Sprache – missbrauchen?“ (WTG März 2008, S.20)

Den besten Zeugen gehört der Himmel, den Rest (laut Wachturmgesellschaft leben derzeit 6,5 Millionen Zeugen Jehova auf der Welt) erwartet ewiges Leben auf Erden in der Kolchose der Glückseligkeit, den übrigen Rest (rund 6,75 Milliarden) der endgültige Tod.

Das Abendmahl: Der einzige religiöse Feiertag der Zeugen Jehovas ist das Abendmahl des Herrn, das auch Gedächtnismahl oder Feier zum Gedenken an den Tod Christi genannt wird. Dieses Fest wird einmal jährlich am 14. Nisan, dem Tag des alt-jüdischen Passahs, nach Sonnenuntergang gefeiert. Während der Feier wird eine Ansprache gehalten. Anschließend werden die Symbole, ungesäuertes Brot und Rotwein, herum gereicht. Nur eine Minderheit mit himmlischer Hoffnung (144 000) nimmt von den Symbolen. Die anderen geben sie weiter, ohne davon zu nehmen. (Was lehrt die Bibel wirklich? S. 206)

Der Höhepunkt des Abends: Die Symbole werden gereicht. Das stattliche Alpha-Männchen mit den kräftigen Oberschenkeln und ein nicht minder attraktiver Bruder Ende zwanzig stehen auf und reichen den ersten Reihen Schüsseln mit trockenem Brot. Richtige Heintjes hatten sich die zwei Sünder anders vorgestellt.

Schlange beobachtet Joswig, wie er nervös auf das Brot stiert, nach der Schüssel greift und sie schnell weiter reicht. Bei dem bauchigen Rotweinglas, in dem verführerisch der Traubensaft schwenkt, denkt er länger über eine Kostprobe nach. Als er das Glas schließlich aus der Hand gibt, atmet Schlange durch. Die Weinrebe der Erkenntnis hätte ihnen fast ihren Platz im Paradies gekostet. Geschafft. Nichts gegessen, nichts getrunken. Eine ziemliche scheiß Party so ein Abendmahl.

Nach fünf Minuten hinkt ein älterer Herr zum Gabentisch und stellt Brot und Wein zurück. Kein Krumen wurde angerührt, kein Schluck genippt. In Hombruch gibt es keine Auserwählten – und keine Jungfrauen.

Auszug aus dem Paradies

Zum Abschluss wird noch ein Liedchen geträllert, die zwei Himmelhunde bekommen ein eigenes Gesangsbuch. Die Gemeinde hat sie aufgenommen.

Nach einer Stunde und fünfzehn Minuten löst sich das Fest der Feste. Die Kinder dürfen wieder rumtollen, es wird gelacht und geredet. Joswig beobachtet, wie die zwei jungen Vorzeige-Zeugen nach vorn gehen und die Weingläser abwischen. Er entspannt sich wieder. Er würde bei den Zeugen keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Schließlich beugt sich der hilfsbereite Teddy rüber und fragt die beiden Sünder zu seiner Rechten, wie es ihnen gefallen habe.

Joswig von der Last der Paranoia befreit reagiert als Erster: „n bisschen viel auf einmal.“

Schlange schweigt betreten und reibt sich die Handknöchel. Irgendwann stammelt er mit belegter Stimme: „Es ging ziemlich an die Substanz. Kann ich mich denn auch – unabhängig von der Erbsünde – von all den Sünden befreien, die ich im Leben begangen habe?“ (Sexuelle Unmoral, Trunkenheit, Lügen, Habgier, unanständiges Reden, Missbrauch von Blut (Grützwurst und Blutwurst), Genuss von Tabak „und sogenannten Freizeitdrogen“)

Der Teddy: „Jesus hat sein Leben als Lösegeld für unsere Sünden gegeben.“

Joswig immer unbeschwerter: „Also quasi als zweite Chance.“

Der Teddy: „Ähm, quasi. Kein Mensch ist frei von Sünde, müsst ihr wissen. Niemand kommt als vollkommener Mensch auf die Welt.“

Ein wohliges Gefühl macht sich breit. Es scheint nicht alles für die zwei Sünder verloren. Immer mehr Zeugen scharren sich um die beiden, lächeln sie an, reichen ihre Hände, stellen sich vor. Wie eine himmlische Familie. Kleine Kinder werden von ihren Müttern geschickt, die verirrten Lämmer zu begrüßen. Auch die Frau des Teddys gesellt sich zu den ärmlichen Gestalten, eine adrette Mittfünzigerin mit eingeschnittenem Rock und straffen Waden (Schlanges Blick blieb an ihrem Oberschenkel hängen, als ein kleiner Junge sich an ihr vorbei zwängte und ihr rosiges Fleisch bis weit übers Knie freilegte, (Sexuelle Unmoral)).

Sie zieht ihre Tochter an die Seite, damit sie sich ebenfalls vorstellen kann. Den Sündern bleibt der Mund offen. Eine göttliche Blondine im strengen Rock, hauteng, der ihr knapp übers Knie reicht, dünne Nylons und schwarze Stilettos. Eine Frau zum Schänden und Niederknien (Sexuelle Unmoral). Zwei Sünder ein Gedanke – so schön könnte das Paradies sein.

Nachdem sie ein kleines Büchlein (Was lehrt die Bibel wirklich?) zugesteckt und jede erdenkliche Hilfe zugesichert bekommen haben, und ihnen der sympathische Teddy diskret und zurückhaltend eine Nummer für mögliche Bibelbesprechungen gereicht hat, werden die zwei aus dem himmlischen Reich geführt. Die Ferien auf der Paradiesinsel sind vorüber.

Sie schreiten vorbei an bezaubernden Frauen in provokanter Strenge (Sexuelle Unmoral), an Männern, die hinter ihren Rücken die Sonne verdunkeln könnten, Lächeln werden ihnen entgegen gebracht, Hände gereicht – Herzlichkeit wie Jesus bei seiner Ankunft in Jerusalem am Palmsonntag.

Epilog

Und die zwei Sünder haben, nachdem sie das göttliche Licht erblicken duften, nichts besseres im Sinn als die nächste Kneipe anzusteuern und den verschmähten Rotwein mit einem Glas Bier zu vergessen, feixend das Buch der Weisheit zu zerreißen und nachts den himmlischen Geschöpfen in ihren Röcken zu gedenken.

„Die Sünder werden von der Erde beseitigt werden; und was die Bösen betrifft, sie werden nicht mehr sein.“ (Psalm 104: 35)

See you in Hell, ihre Wattenscheider Schule.