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Tagebuch aus Cherson

Cherson im Mai 2023 Foto: National Police of Ukraine Lizenz: CC BY 4.0

Cherson gehörte zu den ersten Städten, die von der russischen Armee nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erobert wurden. Ein Buch beschreibt nun das Leben seiner Bürger im Krieg.

Die Hunde, sie hören nicht auf zu bellen und zu heulen. Sie haben Hunger und Durst. In ganz Cherson sind sie zu hören und doch wagt anfangs niemand, den Tieren zu helfen. Es sind Kampfhunde. Sie gehören der Grenzpolizei und die hat sich drei Tage nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine längst aus Cherson zurückgezogen. Das Radio ruft Hundetrainer auf, sich der Tiere anzunehmen.

Cherson gehörte zu den ersten Städten, die von der russischen Armee nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar erobert wurden. Die ukrainischen Truppen hatten die Stadt zu Beginn des Krieges aufgegeben und konzentrierte sich darauf, Kiew zu schützen. Im Herbst sollte Cherson dann befreit und die Russen vertrieben werden, aber davon ahnt Juri damals noch nichts. Juri, dessen Name geändert wurde, ist Arye Shalicars Schwiegervater. Shalicar, in Deutschland geboren und heute für die israelische Regierung tätig, hat aus Gesprächen die Juri nachdem ihm die Flucht nach Israel gelang mit seiner Tochter führte, ein Buch gemacht. Sie wurden in Briefe verwandelt und beschreiben Juris Weg vom Beginn der Invasion bis zu seinem späteren Leben in Israel.

Cherson vor dem Angriff Russlands Foto: Oleksandr Malyon Lizenz: CC BY-SA 4.0

Der 73-Jährige ist weder ein Held noch ein ukrainischer Patriot und auch kein frommer Jude. Er ist Chersoner, liebt seine Stadt, will in Ruhe leben und die Russen sah er zeit seines Lebens als Brüder: Man wuchs gemeinsam in der Sowjetunion auf, diente zusammen in der Roten Armee und die hatte ja die Nazis geschlagen. Mit jedem Tag, den der Krieg dauert wird, stirbt in Juri etwas ab: Die Russen führen sich in Cherson auf wie faschistische Besatzer, Ukrainer arbeiten mit ihnen zusammen und verraten ihre Landsleute und von der eigenen Armee ist nichts zu sehen. Kadyrows Tschetschenen übernehmen die Polizei. Menschen verschwinden, werden gefoltert und ermordet. Juri gehört zu denen, die sich vorstellen können, auch in einem russischen Cherson zu leben. Nationalismus ist ihm fremd, in der Sowjetunion galt er als übel. Aber Normalität will sich nicht einstellen. Der Terror und die Angst sind überall. Sein Sohn flieht nach Deutschland. Eine Ärztin, mit der er befreundet ist, stirbt, als die Russen das Krankenhaus in dem sie arbeitet mit Raketen beschießt. Immer mehr Bekannte verlassen die Stadt. Juri bleibt. Cherson, seine Stadt, will er nicht verlassen. Er stellt sich für Brot an und lernt damit zu leben, dass es weder Wasser noch Strom gibt. Der Leser lernt einen trotzigen, wütenden, traurigen, verzweifelten Mann kennen, der nur überleben will. Am Ende gibt er auf. Nach der Befreiung Chersons nehmen die Russen die Stadt und Dauerfeuer. Es hält bis heute an. Er verlässt den Ort, den er liebt und flieht nach Israel. Das Land ist nicht sein Land. Es ist ihm fremd. Nur eine Hoffnung bleibt ihm: „Wer weiß, vielleicht wird es doch noch positive Überraschungen geben und Cherson wird sich irgendwann wieder zu vergangener Größe und Freude entwickeln. Mein Leben würde ich nämlich genau dort fortsetzen und zu Ende bringen wollen, wo ich es begann – in meiner geliebten Heimat Cherson.“

Auch wenn man den Krieg in der Ukraine vom ersten Tag an verfolgt hat, zeigt einem das Buch eine neue Perspektive auf: Die eines ganz normalen Menschen, der aus seinem Leben gerissen wird und alles verliert, was er hat Vor allem die Gewissheiten, die ihn sein Leben lang begleiteten und ihn ausmachten. Ein Buch, das man in einem Zug liest.

Arye Sharuz Shalicar, Juri Vinograd: Tagebuch aus Cherson – Vom Leben und Überleben im Krieg in der Ukraine, FinanzBuch Verlag

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