
„Kleine Paschas“, „Sozialtourismus“, „Stadtbild“: Der Kanzler gilt seinen Gegnern als quartalsirrer Rassist. Dabei zeichnet es Politiker aus, gelegentlich den Volkstribun zu geben – im Wettstreit mit den wahren Volksverführern rechts und links. Eine Polemik
Helmut Kohl war ein Meister darin, dem Volk aus der Seele zu sprechen. Wenn der Pfälzer lästerte: „Manche bestreiten alles, nur nicht ihren Lebensunterhalt“ und die Angesprochenen schäumten, konterte er trocken: „Was schert es die deutsche Eiche, wenn ein Hund dran pinkelt?“ Politische Schönheitspreise gewann er damit nicht. Aber er führte noch wirklich eine Volkspartei, holte für sie einmal fast die absolute Mehrheit und überdauerte 16 Jahre als Kanzler der Einheit.
Sein Nachfolger Gerhard Schröder war ebenfalls nie um einen ätzenden Spruch verlegen, z.B. über Lehrer, die als „faule Säcke“ titulierte. Er trat in TV-Shows auf, regierte mit „Bild, BamS und Glotze“ und zelebrierte sich als sozialer Aufsteiger mit dicker Zigarre. Wie Kohl flogen ihm dafür die Herzen vieler Wähler zu, nicht jedoch die des politischen Feuilletons und linker Besserwisser. Die fanden so etwas degoutant und eines Kanzlers unwürdig.
Selige Zeiten, als noch nicht Hypersensibilität und Sprachpolizistende den schiefen Ton vorgaben. Heute reagiert das linksliberal gebildete Viertel der Republik pikiert, wenn der Amtsinhaber so redet, wie es der gemeine Mann oder die Frau tut. In Berlin gingen gar 2000 Entrüstete ob seiner „Stadtbild“-Bemerkung auf die Straße und bezeichneten sich selbst als solches. In entlarvender Selbstverklärung: Getroffene Hunde jaulen, könnte man mit Kohl dazu sagen.
Hypersensible Erregungsgemeinschaft
Wer sich als Vertreter des richtigen Volksempfindens versteht, ob rechts oder links, braucht keine Mehrheit. Die Völkischen beanspruchen ohnehin zu wissen, was „das Volk“ will, in ihrem Fall das urdeutsche. Die Antivölkischen auf der Linken dagegen sehen sich nicht nur als Repräsentanten eines diversen Volksgemischs, sondern des Weltgewissens. Darunter machen sie es selten.
Regierende einer äußerst pluralen Erregungsgesellschaft haben es da wesentlich schwerer. Sie müssen ständig um Mehrheiten kämpfen, bei stark geschrumpftem Rückhalt, und sollen dabei niemanden verprellen. Und das in einem Volk, das ständig übel nimmt. Sei es, dass die Bahn nicht pünktlich fährt, es in der Schule ihrer Kinder von der Decke tropft, die Bundeswehr entweder nicht schießen kann oder für die anderen auf Krieg getrimmt wird, es an Wohnungen mangelt oder „die Ausländer“ ständig Ärger machen. Mit feinziselierten Antworten kommt man da nicht weit.
Merz hat offensichtlich Gespür dafür. Anders als seine beiden Vorgänger ist er ein emotionaler Bolzen. Er neigt dazu, schneller zu reden als zu denken. Während Merkel gerne im Wolkigen blieb und Scholz lieber gar nichts sagte, redet er bisweilen frei von der Leber weg. Das Ergebnis sind dann Sätze, deren Botschaft im Undeutlichen bleibt, deren Sinn aber die, die ihn verstehen wollen, sofort kapieren. Schließlich erleben sie z.B. selbst, wie sich das Bild der Städte und Gemeinden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert hat, in ihren Augen und die des Kanzlers nicht unbedingt zum Guten. Und sie verstehen, was er mit Migranten meint, die Sozialleistungen erschleichen, auch wenn das in dieser Pauschalisierung natürlich falsch war. Wie bei anderen seiner inkriminierten Aussprüche.
Das wissen diejenigen, die ihm zustimmen, in der Regel selbst. Er wohl auch. Aber für sie wirkt es befreiend, wenn ein führender Politiker mal ausspricht, was auch sie empfinden: Dass vieles im Land nicht gut läuft. Dass der gepriesene Fortschritt nicht selten auf ihre Kosten geht. Dass die fröhlich-bunte Einwanderungsgemeinschaft ein Wokenkuckucksheim ist.
Avantgarde mit geringer Gefolgschaft
Für die Antipopulisten ist das weit weg. Sie leben in einer anderen, abgehobenen Welt und sehen Migranten, gerade die nicht Eingepassten, als Segen für das in ihren Augen bornierte, intolerante Land. Und als Erlösung von dem, was sie hassen: den ganz normalen Traum biederer Leute von einem unaufregendem Leben ohne weltstürzende Veränderungen und Zumutungen.
Kohl verkörperte dieses Volkstümliche durch seine stilisierte wohlleibige Spießigkeit. Schröder durch seine antibildungsbürgerliche Wurstigkeit. Merz tut es, indem er den linken Moralaposteln hin und wieder kräftig auf die Füße tritt.
Alle drei kamen und kommen nicht zufällig aus der Provinz: Kohl aus der Saumagengegend, Schröder aus dem Lipperland, Merz aus dem Sauerländischen. Für ihre Gegner war und ist allein das schon Widerspruch zu ihrer eingebildeten Weltläufigkeit. Weshalb sie auch im Fall von Merz stets darauf hinweisen. Aus dem Bauch des Landes kann für sie nichts Gutes kommen. Das aufgeklärte Volk, glauben sie, sind nur sie.
Was aber, wenn sie sehen müssen, dass sie trotz allen Geschreis in Wahrheit in der Minderheit sind, eine selbst erklärte Avantgarde, der nur wenige folgen möchten? Dass selbst die breite Mehrheit der Eingewanderten, als deren Fürsprecher sie sich sehen wollen, genau dieses kleine konservative Glück einfacher Menschen antrebt, mit einem sauberen Stadtbild, Recht und Ordnung, ohne Gender-Gedöns und klimagerechter Weltrettung? Und dass Merz gerade deshalb auch bei ihnen womöglich populärer ist als ihnen lieb ist?
Für sie ginge dann wahrscheinlich die Welt unter. Der Rest fühlt sich ganz wohl damit.

Zitat: „Der Kanzler gilt seinen Gegnern als quartalsirrer Rassist.“
Stimmt teilweise. Denn Leute mit sichtbarem Migrationshintergrund – nur um die kann es gehen, denn den deutschen Pass, die Aufenthaltserlaubnis, das Sprachzertifkat, den Arbeitsvertrag, den Studienabschluss usw. usf. sieht man nicht „im Stadtbild“ – zu „Problemen im Stadtbild“ zu erklären, die durch Abschiebungen zu lösen seien, ist nun mal purer Rassismus.
Es ist sachlich genau dieselbe Aussage wie „Ausländer raus“, nur ein bisschen bürgerlicher verklausuliert.
Das „quartalsirre“ glaube ich allerdings nicht, ich halte das für seine tatsächliche wohlkalkulierte Haltung.
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Zitat: „Er [Merz] neigt dazu, schneller zu reden als zu denken.“
Ich möchte Merz keinen solchen Idiotenbonus geben. Denn erstens sind Politiker für das verantwortlich, was sie sagen, und wenn jemand tatsächlich so ein Idiot wäre, wäre er als Politiker schlicht ungeeignet. Zweitens halte ich Merz aber auch nicht für so einen Idioten, sondern denke, dass er ganz genau weiß, was er sagt. Und drittens hätte er ja nun auch mehrfach Gelegenheit gehabt, seine Aussage zurückzunehmen oder zu relativieren, aber er hat ja nur noch nachgelegt.
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Zitat: „Selige Zeiten, als noch nicht Hypersensibilität und Sprachpolizistende den schiefen Ton vorgaben.“
Ja genau. Denn es ist ja sooo schlimm, wenn man es nicht als Qualitätsmerkmal eines Politikers ansieht, links und recht ganze Bevölkerungsgruppen (bevorzugt die unten) oder Berufsgruppen zu beleidigen. Irgendwann mal war es angeblich ein Zeichen einer bürgerlichen oder konservativen Haltung, sich eines anständigen Benehmens ohne beleidigende Ausfälle zu befleißigen. Vielleicht bin ich da aber auch nur fälschlich nostalgisch und Konservative fanden sowas immer schon OK, sofern es denn gegen die Richtigen ging.
(Nebenbei zu „Sprachpolizistende“: Von einem Nomen kann man kein Partizip I bilden, und deswegen benutzt so etwas auch niemand, der Partizipien als genderneutrale Ausdrucksmöglichkeiten verwendet. Gute Journalisten können Polemik auch ohne Strohmänner in Form schlicht erfundener falscher Grammatik.)
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Zitat: „Was aber, wenn sie sehen müssen, dass sie trotz allen Geschreis in Wahrheit in der Minderheit sind, eine selbst erklärte Avantgarde, der nur wenige folgen möchten?“
Seit wann richten sich Moral und Wahrheit nach der Mehrheit?
Wer in so einer Diskussion das Empfinden der angeblichen Mehrheit als Argument benutzt, hat inhaltlich kapituliert. Sicher, in einer Demokratie wird die Entscheidung letztlich von der Mehrheit getroffen – in der Hoffnung (!), dass sich in einer freien Debatte das beste Argument durchsetzt. Das sagt aber nichts darüber aus, ob ein Argument in der Debatte vor der Entscheidung moralisch oder logisch vertretbar ist.