Vom moralischen Kompass zur geopolitischen Beliebigkeit

Carlo Masala Foto: Hochschule der Bundeswehr/christophbusse.de Lizenz: Copyright


Warum deutsche Sicherheitsexperten wie Carlo Masala und Claudia Major die Ukraine verteidigen – und Griechenland ignorieren. Von unserem Gastautor Andreas Papakonstantinou.

In der Ukraine gilt das Völkerrecht – in der Ägäis offenbar nicht. Während Griechenland unter militärischem Druck steht, empfehlen deutsche Sicherheitsexperten wie Carlo Masala und Claudia Major, die Türkei in europäische Verteidigungsprojekte wie REARM Europe einzubinden. Wer so denkt, verteidigt nicht das Völkerrecht – er bewertet es nach geopolitischem Nutzen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts in seiner brutalsten Form: Ein revisionistischer Staat überfällt ein kleineres, souveränes Land – nicht aus Notwehr, sondern aus imperialem Kalkül. Die Botschaft: Wer stark genug ist, setzt sich über das Recht hinweg. Wer schwach ist, verliert seine Sicherheit.

Die Lehre daraus sollte klar sein: Europas Verteidigungsfähigkeit muss auf der Verteidigung des Rechts beruhen. Doch genau hier zeigt sich eine wachsende Schieflage. Wenn Akteure wie die Türkei, die selbst internationale Regeln unterlaufen, nun in europäische Rüstungs- und Sicherheitsarchitekturen eingebunden werden, stellt sich eine unbequeme Frage: Geht es tatsächlich um die Wahrung von Recht und Demokratie – oder nur um die Absicherung deutscher und (im besten Fall) nordosteuropäischer Interessen?

Kein Folklore-Zank, sondern ein Konflikt ums Recht
Der Streit zwischen Griechenland und der Türkei wird in Deutschland oft als „historischer Dauerzank“ zweier Erzfeinde verharmlost – auch Carlo Masala hat das sinngemäß mehrfach suggeriert. Doch diese Lesart greift zu kurz. Hier geht es nicht um Mentalitäten, sondern um internationales Recht.

Die Türkei droht Griechenland – weltweit einmalig – offen mit Krieg (casus belli von 1995), sollte Athen die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) vollständig anwenden. Ankara erkennt das UN-Seerecht selbst nicht an, stationiert Truppen vor griechischen Inseln – und droht öffentlich, man könne „über Nacht kommen“. Zugleich erklärt die Türkei völkerrechtlich eindeutig griechisches Territorium zu „grauen Zonen“, die angeblich auch ihr gehören könnten. Gleichzeitig verfolgt die Türkei mit der Doktrin der „Blauen Heimat“ (Mavi Vatan) ein strategisches Konzept, das große Teile des östlichen Mittelmeers als exklusive türkische Einflusszone beansprucht – auf Kosten griechischer Rechte.

Noch brisanter wird es, wenn der Ukrainekrieg in einem Friedhofsfrieden endet – mit annektierten Gebieten und ohne Konsequenzen. Wer glaubt, Recep Tayyip Erdoğan würde daraus keine Schlüsse für sein eigenes Vorgehen ziehen, verkennt die geopolitische Realität (in Zeiten russischer Aggression – und amerikanischer Unberechenbarkeit).

Drei Beispiele, die man nicht ignorieren sollte
Dass es sich nicht um „Theorie“ handelt, zeigen konkrete Entwicklungen:

  1. Als Griechenland kürzlich ein Untersee-Strom- und Datenkabel von Kreta nach Israel verlegen wollte, entsandte die Türkei fünf Kriegsschiffe vor die Insel Kasos und drohte offen, das Forschungsschiff zu versenken. Das Projekt wurde vorerst gestoppt.
  2. 2019 schloss Ankara ein Seeabkommen mit Libyen – obwohl die beiden Staaten geografisch nicht gegenüberliegen. Auf türkischen Karten erscheint seither ein Seekorridor, der griechische Hoheitsgewässer ignoriert. International wurde das Abkommen als völkerrechtswidrig eingestuft – Ankara beharrt dennoch darauf.
  3. Griechenland plant die Ausweisung sogenannter „grüner Zonen“ in den Meeresräumen der Kykladen und Ionischen Inseln, ein umweltpolitisches Vorhaben nach EU-Recht. Auch hier reagiert die Türkei mit Eskalationsdrohungen.

In der deutschen Öffentlichkeit findet diese Dimension der europäischen Sicherheitslage kaum statt.

Die türkische Aufrüstung als europäisches Projekt?
Griechenland investiert seit Jahren über 3 % seines BIP in die Verteidigung – deutlich mehr als die meisten NATO-Staaten. Das geschieht nicht aus Militarismus, sondern aus Notwendigkeit.

Wenn die Türkei nun Zugang zu europäischen Rüstungsgeldern erhält, bedeutet das faktisch: Ein autoritärer Staat, der offen mit Krieg droht, wird durch EU-Mittel weiter aufgerüstet. Und das auf Kosten eines demokratischen Mitgliedsstaats.

Dass die deutsche Sicherheitspolitik Bedrohungslagen systematisch unterschätzt, ist nicht neu. Auch Warnungen aus Osteuropa vor dem russischen Imperialismus wurden jahrelang abgetan. Heute passiert in der Ägäis genau dasselbe.

Ich war lange beeindruckt von der Klarheit, mit der Carlo Masala und Claudia Major den Ukrainekrieg analysierten. Für mich standen sie für Prinzipientreue und die Verteidigung des Rechts. Doch mein Blick ist inzwischen getrübt. Beide treten regelmäßig in deutschen Talkshows auf – und betonen mit Nachdruck, wie wichtig es sei, die Türkei (neben Norwegen und Großbritannien) in europäische Sicherheitsstrukturen einzubinden. Dass sie dabei die Parallelen zur neoimperialen Außenpolitik der Türkei ignorieren – und trotzdem bedenkenlos auf sicherheitspolitische Zusammenarbeit setzen – ist ernüchternd.

Zum Schluss ein Zitat
Abschließend noch ein Zitat von Carlo Masala im aktuellen SPIEGEL-Talk vom 23. Mai 2025:

„Ich war am Wochenende in Estland. Die Esten haben Angst vor einer […] russischen Invasion!
Den Fehler, den wir gemacht haben vor 2014, war, dass wir die Warnungen der baltischen Staaten nicht ernst genommen haben. […]
Sie kennen die Pascalsche Wette: besser auf etwas vorbereitet sein, das nicht eintritt, als nicht vorbereitet sein auf etwas, das dann doch passiert.“

Vielleicht sollte Carlo Masala einen Moment über seine eigenen Worte nachdenken – und überlegen, wie sich der Konflikt in der Ägäis politisch entschärfen lässt, bevor es wieder zu spät ist. Zum Beispiel, indem eine künftige Beteiligung der Türkei an europäischen Sicherheits- und Rüstungsprogrammen an klare Bedingungen geknüpft wird: ein verbindliches Bekenntnis zum Völkerrecht, zur UN-Seerechtskonvention – und zum Respekt vor den Grenzen ihrer Nachbarn.

Nichts Wildes, Herr Masala. Nur etwas Selbstverständliches.

Links:

Türkisch-libysches Seeabkommen (2019):

Die Doktrin des blauen Heimatlandes:

Konflikt Griechenland-Türkei:

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