Apotheken vor Ort sind nicht überflüssig

Antje Jelinek Foto: Hofereiter & Jacobsen Lizenz: Copyright

Vorgestern erschien hier im Blog der Text „Apotheken vor Ort: Teuer, träge, überflüssig“. Man fragt sich wirklich, ob der Kollege sich überhaupt Gedanken über das Apothekenwesen gemacht hat oder einfach seine spontanen, oberflächlichen Ideen in die Welt hinausposaunen wollte. Weder kommt das Durchfallmittel pünktlich per Post, noch flattert das dringend notwendige Antibiotikum am Sonntag von allein ins Haus. Die individuell für das kranke Kind dosierten Kapseln kann man auch nicht online bestellen. Fachkompetenz gibt es wohl auf Knopfdruck – aber eben nicht, wenn die Probleme überhaupt erst einmal erkannt werden müssen. Wem es nur kurzfristig um ein paar Euro Einsparung geht, darf sich später nicht beschweren, dass es irgendwann kaum noch Vor-Ort-Apotheken gibt.

Das Apothekensterben in Deutschland findet seit Jahren statt. Ich war schon zweimal selbst betroffen. 2004 wurde in Deutschland der Versandhandel mit Arzneimitteln erlaubt. Das betrifft bis heute leider auch die rezeptpflichtigen Arzneimittel. Das ist in Europa eher eine Ausnahme, denn in den meisten europäischen Ländern ist der Versand von rezeptpflichtigen Arzneimitteln aus gutem Grund verboten. Nur vier Jahre nach dieser politischen Entscheidung, gegen die sich die Mehrheit der deutschen Apotheker vergeblich wehrte, schloss die Zweigapotheke, in der ich als Apothekenleiterin beschäftigt war. Ihr folgten dann in der betroffenen Kleinstadt die beiden Geschäfte, die sich im gleichen Haus befanden: ein Bäcker und ein Fleischer – Geschäfte, die es dort nun nicht mehr gibt. Der kleine Platz wirkt heute völlig ausgestorben. Ende letzten Jahres wurde dann auch die kleine Dorfapotheke, in der ich Filialleiterin war, geschlossen. Auch dieses Dorf bedauert, dass es nun dort keine Apotheke mehr gibt. Es fand sich leider niemand, der das finanzielle Risiko der Übernahme auf sich nehmen wollte – mich eingeschlossen.

Wucherpreise für Standardware?

Hierzu ein Facebook-Kommentar von Stefan Reichensperger:
„Die Vor-Ort-Apotheke lebt von der Mischkalkulation. Wenn die Rosinen herausgepickt werden, schmeckt der Kuchen nicht mehr. Was heißt das? Zeitaufwändiger Arbeitsaufwand ist nicht mehr finanzierbar … Beschaffung knapper Arzneimittel bei schwierig zu findenden Lieferanten, Hautarztrezepturen, individuelle Rezepturen für Notfallpatienten mit Sondenapplikation, Vorhalten knapper Antibiotika in der Winterperiode, Notfallhilfe Freitag nachmittags und samstags, wenn Arztpraxen ab Freitag um 12 geschlossen haben, unkompliziert erreichbarer Ansprechpartner bei neu auftretenden Gesundheitsproblemen, Erstversorgung von aus dem Krankenhaus entlassenen Patienten, Kontrolle des Medikationsplans bei Neueinstellung des Patienten auf Doppeltverordnung hin, Schnellstlieferfähigkeit bei kranken Kindern, Stabilität in Krisenzeiten (Pandemie schon vergessen?) … Wo bekam man noch Desinfektionsmittel, Fiebersäfte, Zäpfchen? Wie schnell wurde ein Testmanagement, Antigentests und PCR-Testen aufgebaut? Vor-Ort-Apotheken. Ganz schön kurzsichtig, die Vor-Ort-Apotheke wegen Rosinenpickerei aufzugeben.“

Ergänzen möchte ich, dass für die fachlich kompetente Beratung in jeder Vor-Ort-Apotheke immer ein Apotheker anwesend sein und bezahlt werden muss. Auch bei kleinen Apotheken mit sehr geringem Umsatz ist das Vorschrift. Online-Apotheken kommen mit wesentlich weniger studiertem Personal bei wesentlich höheren Erträgen aus. Zudem sind auch echte Gespräche mit den Patienten in der Apotheke und natürlich auch eine fachlich kompetente Beratung der Ärzte im Einzugsgebiet deutlich aufwendiger als das, was Online-Apotheken in Sachen Beratung tun.

Mit den „Wucherpreisen“ wird eben der kostenlose Service an anderer Stelle und die hohe Fachkompetenz bezahlt.

 

Online ist schneller, einfacher – und ehrlicher?

Dass Apotheken so viel bestellen müssen, liegt an der Überregulierung und der Sparpolitik der Krankenkassen. Online-Apotheken haben natürlich mehr vorrätig. Es wird ja auch viel mehr umgesetzt. Gibt es Lieferengpässe, sind sie aber genauso betroffen. Sie kümmern sich nur nicht darum. Wer versucht denn, in Zusammenarbeit mit den Ärzten Lösungen zu finden, wenn lebenswichtige Medikamente durch andere ersetzt werden müssen? DocMorris? Shop-Apotheke? Zu uns kommen dann die Patienten mit den zurückgeschickten Rezepten bzw. zurückgegebenen E-Rezepten. Den Aufwand haben wir hier vor Ort – ohne jegliche Vergütung. Es ist für uns selbstverständlich, den Patienten zu helfen.

Im Übrigen dauern Bestellungen über den Apotheken-Großhandel maximal einen Tag. Das heißt also: Am Vormittag bestellt, wird am Nachmittag beliefert – oder von einem zum nächsten Tag ist das Arzneimittel da. Viele Apotheken bieten Bringdienste an, auch wenn das ausgesprochen teuer für die Apotheke ist.

Was nun an Online-Apotheken ehrlicher sein soll, ist mir schleierhaft. DocMorris hat sich in unser System eingeklagt, erfolgreich Lobbyarbeit geleistet und mit massiven Werbekampagnen Kunden abgeworben. Das nötige Kapital ist ja bei der Aktiengesellschaft aus der Schweiz vorhanden. Die Apotheker in Deutschland sind zwar in Kammer und Verband organisiert, können dem aber kaum etwas entgegensetzen. Von Beginn an war es das Ziel derartigen Versandhändlern aus dem Ausland, unser Apothekensystem zu zerstören – ein System, das auf Fremd- und Mehrbesitzverbot beruht. Das bedeutet, dass Apotheken in Deutschland von Einzelpersonen geleitet werden müssen, die nur eine Apotheke und maximal drei Filialen haben dürfen. Die Filialregelung war ein vernünftiger Kompromiss, da sich kleinere Apotheken für eine Einzelperson nicht mehr rechnen und so als Filiale mitlaufen können – auch wenn sie nur sehr wenig Umsatz bringen. Dadurch konnten auf dem Land wenigstens einige Apotheken überleben. In jeder Filiale muss im Übrigen ein Apotheker als Leiter beschäftigt sein. Die Apothekenbesitzer und die Filialleiter sind studierte Pharmazeuten. Um Apotheker zu werden, muss man ein sehr anspruchsvolles Pharmaziestudium an einer Universität absolvieren. Apotheker stehen mit anderen Naturwissenschaftlern wie Physikern, Biologen oder Chemikern auf gleicher Stufe.

Ausländische AGs mit viel Kapital in der Hinterhand stehen also gegen eine Apothekerschaft aus hochgebildeten, mittelständischen Kleinunternehmern, die lose in Berufsverbänden organisiert sind.

 

Alte Strukturen klammern sich an Privilegien?

Das ist nun eine klassische Täter-Opfer-Umkehr, denn die Privilegien haben nicht die alten, sondern die neuen Strukturen. Versandapotheken können sich ja – wie oben bereits ausgeführt – die Rosinen rauspicken.

Online-Apotheken stellen keine Rezepturen her. Das sind Arzneimittel, die von Hand individuell für einen Patienten angefertigt werden müssen. Rezepturen sind fast immer ein Minusgeschäft für die Apotheke, denn Ausgangsstoffe müssen im Labor aufwendig geprüft werden, und für die Herstellung gelten die gleichen Anforderungen wie in der pharmazeutischen Industrie. Das Rühren einer Salbe wird kaum von dem Geld gedeckt, das man dafür berechnen darf – bei Zäpfchen und Kapseln zahlt der Apotheker immer drauf.

Online-Apotheken beliefern keine BTM-Rezepte. Für Betäubungsmittel (BTM) – dazu gehören z. B. starke Schmerzmittel oder die ADHS-Medikation für Kinder – sind der Dokumentationsaufwand und das finanzielle Risiko der Belieferung wesentlich höher als bei normalen Rezepten. Elektronische Rezepte sind nicht möglich.

Regelmäßige Notdienste vor Ort werden von Online-Apotheken nicht durchgeführt. Weder die Kosten noch der organisatorische Aufwand werden durch die Bezahlung vernünftig abgedeckt.

Online-Apotheken impfen nicht. Seit der ehemalige Gesundheitsminister Lauterbach es ermöglicht hat, impfen einige Apotheker gegen Grippe und Corona – ich im Übrigen auch. Dieses niederschwellige Angebot wird gern angenommen. Lukrativ ist es nicht.

Ob Online-Apotheken mit den Arztpraxen in Kontakt treten, wenn dies dringend erforderlich ist, wage ich zu bezweifeln. Rezeptänderungen sind aber manchmal nötig – z. B. bei Falsch- oder Doppelverordnungen. Diese kann eine Versandapotheke bei ihren vielen anonymen Kunden gar nicht erkennen.

Vor-Ort-Apotheken kümmern sich – wie erwähnt – um adäquaten Ersatz, wenn mal wieder etwas nicht lieferbar ist, Online-Apotheken nicht.

Hochpreisige Medikamente mit extrem hohem Risiko bei Verlust, aber ohne nennenswerten Umsatz, werden von Online-Apotheken meist abgelehnt.

Online-Apotheken übernehmen also die einfache, lukrative Rezeptbelieferung, während Vor-Ort-Apotheken verpflichtet sind, finanziell ungünstige Angebote mit abzudecken. Wer ist hier also privilegiert? Alte Strukturen, wie die Apotheke, in der ich zurzeit arbeite, die versucht, auch diese ganze unbezahlte Arbeit zu verrichten – oder die Online-Apotheken, die das eben einfach nicht machen? Ist der Einzelunternehmer privilegiert, der manchmal nicht viel mehr als seine Angestellten verdient – oder die ausländischen Großkonzerne?

 

Die Arbeit der Vor-Ort-Apotheken besteht nicht nur darin, Hustenbonbons und Wick MediNait zu verkaufen. Wir sehen, hören und riechen unsere Patienten. Wir erkennen Symptome, die ärztliche Behandlung erfordern, und empfehlen Arzneimittel individuell. Wir reden mit den Leuten. Oft ist schon ein persönliches Gespräch hilfreich und heilungsfördernd. Wir erkennen vor Ort Fehlverordnungen, Wechselwirkungen und Arzneimittelmissbrauch. Wir finden Lösungen bei Nebenwirkungen und bei Bedarf auch die passende Arzneizubereitung. Wenn es nötig ist, stellen wir Arzneimittel individuell für unsere Patienten her. Wir üben die Anwendung von besonderen Arzneiformen wie Spritzen, wirkstoffhaltigen Pflastern oder Asthmasprays mit den Patienten. Das kann ein Online-Angebot niemals ersetzen.

An dieser Stelle möchte ich allen PTAs (Pharmazeutisch-technischen Assistenten) danken, die uns Apothekern jeden Tag zur Seite stehen und uns bei unserer Arbeit unterstützen. Wir kämpfen gemeinsam jeden Tag diesen ungleichen Kampf der Vor-Ort-Apotheken gegen die übermächtigen Online-Apotheken. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen – aber unsere Patienten sind es uns wert.

 

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Waldemar Becker
Gast
Waldemar Becker
1 Monat zuvor

Vielen Dank für Ihre ebenso ausführliche wie kenntnisreiche Replik auf die oberflächliche Polemik von Herrn Patzwald! Sie haben mir gleichsam „den Text von der Tastatur genommen“ …
Den Onlinefetischismus der RUHRBARONE habe ich noch nie verstanden: Bei meiner Buchhandlung kann ich bis 18.00 anrufen und am nächsten Tag ab 11.00 das gewünschte Buch abholen. Ohne dann tagelang zuhause rumsitzen zu müssen, um den Zusteller abzuwarten, der dann doch wieder nur die gelogene Mitteilung, daß ich nicht anzutreffen war, unter die Haustür schiebt, weil das für ihn schneller geht, und ich dann einen Tag später wieder durch die Stadt radeln muß, um irgendwo mein Paket abzuholen. Zudem werden die Mitarbeiter im lokalen Buchhandel fair und nach Tarif bezahlt.
Mein REWE Markt hat mit einem breiten Sortiment bis 21.30 geöffnet, und selbst wenn mir nachts um 23.30 irgendwas Lebensnotwendiges fehlen sollte, gibt es hier im Ruhrgebiet überall eine Nachttanke in der Nähe.
Den Luxus, mir frühmorgens beim Bäcker um die Ecke frische Brötchen zu kaufen, möchte ich ebenfalls nicht missen.
Die Reihe ließe sich fortsetzen.
Eine Welt, in der es keinen lokalen Einzelhandel mehr gibt, in der aber die Straßen ständig von irgendwelchen Lieferdiensten verstopft werden, weil schlecht bezahlte Hilfsarbeiter den Leuten alles Mögliche vor die Tür stellen, weil die das gerade besonders hip finden, möchte ich nach Möglichkeit vermeiden.
Und wenn mehr Leute so denken würden, sähe die von Herrn Patzwald bei den RUHRBARONEN oft und wortreich beklagte Situation in Waltrop wohl auch anders aus …

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