Arye Sharuz Shalicar: Überlebenskampf – Kriegstagebuch aus Nahost

Arye Sharuz Shalicar, Mai 2024 (Foto: Peter Ansmann)
Arye Sharuz Shalicar, Mai 2024 (Foto: Peter Ansmann)

Als am 07.10.2023 die ersten Nachrichten über den Terrorangriff aus Gaza eintreffen und in den deutschen Medien online zu lesen sind, bin ich komplett ahnungslos auf meiner damaligen Arbeitsstelle.

Genau vier Wochen zuvor waren meine Freundin und ich noch in Israel – in Jerusalem, Tiberias, Akko, Haifa und an anderen Orten. Nicht jeder in meinem Freundeskreis hatte offensichtlich mitbekommen, dass wir wieder in Deutschland und „sicher“ waren: Dementsprechend sahen meine WhatsApp-Nachrichten am Morgen des 7.10.2023 aus. Nach der dritten WhatsApp-Nachricht mit einem Inhalt wie „Hoffe es geht euch gut und ihr seid in Sicherheit! Passt auf!“ und weitaus verstörenderen Fragen, besuchte ich, etwas irritiert, irgendein Nachrichtenportal und erfuhr vom Terrorangriff der Hamas.

Die Nachrichtenlage war noch unklar, ich schickte drei WhatsApp-Nachrichten an Bekannte und Freunde in Israel und frage nach ihrem Status. Eine dieser Nachrichten ging an Arye Sharuz Shalicar, der die Situation in Israel schockiert beobachtete, mir aber mitteilte, dass seine Familie und er in Sicherheit seien.

Am Vormittag des 8.10.2023, auf der Facebookseite von Arye Sharuz war inzwischen zu lesen, dass er ab sofort wieder als Sprecher (der Reserve) der israelischen Verteidigungskräfe (IDF) aktiv ist, konnte ich, für die Ruhrbarone, mit ihm telefonieren.

Er schilderte, wie er den Morgen des siebten Oktobers 2023 erlebt hatte, wie es von seiner Frau Liel an diesem schwarzen Sabbat aus dem Schlaf gerissen wurde und was über die damalige Lage bekannt war.

8. Oktober 2023: Arye Sharuz ist wieder Sprecher (d.R.) der IDF (Screenshot Facebook)
8. Oktober 2023: Arye Sharuz ist wieder Sprecher (d.R.) der IDF (Screenshot Facebook)

5. September 2023

Fast auf den Tag genau einen Monat vor dem Angriff aus Gaza, am 5. September 2023, waren meine Freundin und ich noch bei Arye und seiner Familie zu Besuch, saßen auf der Terrasse seiner Wohnung im 15. Stock, irgendwo in der Nähe von Tel Aviv. 

Die Anfahrt, wir hatten den Nachmittag am Strand von Tel Aviv verbracht, mit dem Taxi war katastrophal: Wir sind auf den letzten Drücker losgefahren. Der Taxifahrer wollte uns abziehen und irgendwann nicht mehr weiterfahren. Arye lotste ihn über mein Mobiltelefon zu einer Bushaltestelle in der Nähe seines Wohnortes und war hörbar genervt, weil der Fahrer sich absichtlich doof stellte. Aus unerfindlichen Gründen war der Taxifahrer dann doch plötzlich sehr freundlich, extrem kooperativ und die Taxifahrt am Ende nahezu kostenfrei. Eher untypisch in Israel. Keine Ahnung, was Arye ihm am Telefon gesagt hatte. Einer der klassischen „Ich muss nicht alles wissen“-Fälle. Wir stiegen in Aryes Auto um und waren wenige Minuten später in seiner Wohnung.

Arye kocht gerne und sehr gut persisch, wir hatten ein vorzügliches Essen und nette Gespräche mit Arye und Liel, seiner Frau. Die beiden Kinder waren mit dabei und erzählten von ihren sportlichen und schulischen Aktivitäten. Der Ausblick von Aryes Terrasse ist phänomenal, er zeigte uns wo gerade was im Ort neu gebaut wird. In seiner Nachbarschaft entstand gerade ein Schwimmbad, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.

Der Abend ging länger als geplant: Liel hatte offensichtlich eine effektivere Bahn-App als wir, zeigte uns diverse Verbindungen nach Jerusalem, wo wir an diesem Abend noch hinmussten. Aryes Frau machte etwas Druck mit Blick auf die letzte Bahn, wir saßen bis zur letzten Minute zusammen auf der Terrasse. Die Abfahrt war extrem hektisch: In letzter Sekunde, kamen wir mit Aryes Auto am Bahnhof an. Eine richtige Verabschiedung fiel komplett aus. Kurz vor Abfahrt des Zuges nahmen wir, nach der Sicherheitskontrolle, einen Platz im menschenleeren Wagon ein und fuhren, über Herzlia, nach Jerusalem.

Als ich am 8.10.2023 mit Arye telefonierte, erwähnte er diesen Abend am 5. September 2023 und bemerkte, dass dieser Tag so „unendlich weit weg wäre“ und dass, mit dem 7.10.2023, irgendwie die Zeit stehen geblieben sei.

7. Oktober 2023

In seinem, letzte Woche erschienenen, Buch Überlebenskampf fasst Arye Sharuz Shalicar, auf 372 Seiten, 600 Tage Krieg zusammen: 

Wie er den Angriff der Hamas erlebt hat, was er damals ähnlich bei uns um Blog schilderte, über die Einberufung als Sprecher (der Reserve) der IDF, Besuche an den Orten, an denen Hamas und einfache „Zivilisten aus Gaza“ unvorstellbare Massaker begangen haben, Reaktionen der Politik und Medien in Deutschland, die Angriffe aus dem Iran, dem Libanon und dem Jemen und die Maßnahmen Israels, die Drahtzieher des 7.10.2023 aus dem Verkehr zu ziehen.

Falls man alle Vorträge von Arye Sharuz nach dem 7. Oktober 2023 zum schwarzen Sabbat und den Folgen gehört hat, ich war bei zwei Vorträgen in Düsseldorf und Duisburg und mehreren Online-Vorträgen (z.B. bei Tacheles)  dabei, und seinen Podcast „Nahost Pulverfass“ ab dem 19. Oktober 2023, wirklich täglich (Ich habe im ersten Jahr, als noch täglich ein neuer Podcast online ging, nicht jeden gehört!) konsumiert hat: Vieles in Überlebenskampf wird einem dann bekannt vorkommen.

Aber: Was das Überlebenskampf aus- und sehr lesenswert macht, ist die prägnante Zusammenfassung von 600 Tagen Krieg.

9. Juni 2024: Arye Sharuz in Duisburg (Foto: Peter Ansmann)
9. Juni 2024: Arye Sharuz in Duisburg (Foto: Peter Ansmann)

Die Kapitel sind relativ kurz gehalten, ohne großes Federlesen thematisiert Arye Sharuz die Folgen des 7. Oktober 2023. Während in den Medien, nur wenige Wochen nach dem schlimmsten Massaker an Juden nach der Schoah, Täter-Opfer-Umkehr betrieben wurde – und immer noch wird – thematisiert Arye die menschliche Katastrophe in Israel. Die Massaker, die sexualisierte Gewalt, die Angriffe aus dem Libanon, die Nordisrael zeitweise unbewohnbar gemacht haben, die Angriffe aus dem Jemen, die Angriffe aus dem Iran, Israels Schlag gegen das iranische Atomwaffenprogramm, die Angriffe von islamistischen Milizen im Irak und in Syrien und – natürlich – die Geiseln.

In den nächsten Tagen erscheint hier im Blog eine Rezension zu Feuer – Israel und der 7. Oktober von Ron Leshem, die eigentlich vor genau einem Jahr hier erscheinen sollte. Ein wichtiges Buch zum 7. Oktober 2023, durch das man, das was Israel in den letzten zwei Jahren macht, besser versteht. Der herausstechendste Teil dieses Buches ist die „Chronik eines Tages“ – dem 7.10.2023 – in dem Morde und unvorstellbare Gewalttaten auf 46 Seiten geschildert werden. Ich habe, wegen der detailliert beschriebenen Gewalt, länger – viel länger – für dieses Buch gebraucht.

Arye Sharuz hat, dankenswerterweise, in Überlebenskampf auf diese expliziten Schilderungen von Gräueltaten verzichtet. 

Arye Sharuz Shalicar in Duisburg (Foto: Peter Ansmann)
Arye Sharuz Shalicar in Duisburg (Foto: Peter Ansmann)

Mit den deutschen Medien und der (angeblich) deutschen „Staatsräson“ geht Arye hart ins Gericht: Am Tag 22 thematisiert er Deutschlands Abstimmungsverhalten in der UN, als Deutschland sich, bei der Verabschiedung einer Resolution, in der ein „sofortiger Waffenstillstand“ gefordert wurde, ohne die Hamas als Täter zu benennen, enthalten hat. Die deutschen und israelischen Geiseln und die von der Hamas ermordeten Menschen erhalten werden in Überlebenskampf immer wieder beim Namen genannt: Shani Louk, Shiri, Kfir und Ariel Bibas.

Bildlich schildert Arye seine Besuche im Kibbuz Be’eri, im Kibbuz Nir Oz und in der Militärbasis Shura in Ramla, wo Leichen und Leichenteile „gesammelt“ werden um sie irgendwie einer Person zuordnen zu können.

12. Dezember 2023

Auch privat hat der 7. Oktober 2023 bei Arye einiges verändert. Für die Familie hat Arye sich, seitdem, nahezu in Luft aufgelöst. Liel und die Kinder haben Fragen. Nicht nur sie: Hunderte von Familienmitgliedern, deren Angehörige nach Gaza verschleppt wurden, für hunderttausende von Partnern und Familienangehörigen von Reservisten, für die Menschen, die aus Nordisrael evakuiert wurden, weil sie aus dem Libanon mit Raketen beschossen wurden – all diese Menschen haben Fragen und wissen nicht, wie es weitergeht.

Arye, deutschsprachiger IDF-Sprecher der Reserve, ist im Dauereinsatz: Im Grenzgebiet von Gaza, im Grenzgebiet zum Libanon, in den überfallenen Kibbuzim. Mit Alexander Dobrindt, jetzt Bundesinnenminister, besuchte Arye das Kibbuz Be’eri. Über 130 Kibbuzbewohner wurden am 7. Oktober 2023 entführt oder ermordet. Unter den Entführten gibt es Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Arye beschreibt die Begegnung von Alexander Dobrindt mit Yarden, die nach Gaza verschleppt wurde und für 54 Tage als Geisel gehalten wurde und ihrem Ehemann Alon Roman, der mit der dreijährigen Tochter am 7.10.2023 den Terroristen und „Zivilisten“ aus Gaza entkommen konnte und den Überlebenskampf zweier Generationen: Yardens Großeltern flohen, nach der Machtübernahme der NSDAP, aus Deutschland.

600 Tage Krieg

Der Kampf gegen die Hisbollah, von der Hamas gebrochene Feuerpausen, Hass-Emails aus Deutschland, Besuche bei Einheiten der IDF, wie der Einheit 504 des AMAN, das Tunnelsystem der Hamas, der Tod von Ismail Haniyehs, das Ableben von von Yahya Sunwar, der Zwölftagekrieg, Demonstrationen antisemitischer Fanatiker in Deutschland, die zweifelhafte Berichterstattung der Medien, wie z.B. zum al-Shifa-Krankenhaus: All das thematisiert Arye Sharuz in Überlebenskampf und er bezieht klar, was jetzt nicht wirklich verwundert, Stellung.

Für Israel, für den Westen, und seinen Überlebenskampf. Als Beteiligter, Arye Sharuz war während dieser 600 Tage zweimal als Pressesprecher der Reserve im Dienst, gewährt der Autor einen subjektiven, aber klaren Blick auf den Konflikt, der immer noch anhält.

Ein Grund, weshalb ich Überlebenskampf in zwei Zügen durchgelesen habe, ohne sowas wie Langeweile zu empfinden, ist – zugegeben – auch mein persönlicher Bezug, meine Freundschaft, zum Autoren:

27. November 2024

Hart schmunzeln musste deshalb ich bei einer Schilderung eines weiteren Besuchs von Alexander Dobrindt, diesmal in der Wohnung Arye Sharuz.

Gemeinsam mit Dobrindt und seinen drei engsten Beratern saßen wir um meinen Wohnzimmertisch herum und tauschten Meinungen zur aktuellen Lage aus. Mein zwölfjähriger Sohn und meine zehnjährige Tochter kamen zwischendurch kurz aus ihren Zimmern, um meine Gäste in gebrochenem Deutsch zu begrüßen. Zur Belohnung gab es ein kleines Gebäck. Schnell waren sie wieder in ihren Zimmern verschwunden.

Eine Szene, die mir, was die freundlichen Kinder Michelle und Raphael betrifft, bekannt vorkommt. Ich sehe Alexander Dobrindt bildlich an Aryes Mega-Kühlschrank, der mit Fotos und Magneten zugepflastert ist, stehen. Ein Bild von Arye und Flottenadmiral Daniel Hagari, bis März 2025 Sprecher der IDF, dürfte auch ihm sofort ins Auge gefallen sein. Ebenso, eventuell, das Solidaritätsschreiben eines Ortsverbandes der Jungen Union, irgendwo im Bereich der Theke.

Das Gespräch wurde übrigens, durch einen Raketenangriff der Hisbollah, unterbrochen: Man begibt sich in den Schutzraum, dem Schlafzimmer von Michelle.

Überlebenskampf - Kriegstagebuch aus Nahost (Foto: Hentrich & Hentrich)
Überlebenskampf – Kriegstagebuch aus Nahost (Foto: Hentrich & Hentrich)

Überlebenskampf

Vielleicht – vielleicht – wäre die Stimmung, die aktuell in der Öffentlichkeit zu Israel herrscht, eine andere, wenn das, was der 7. Oktober 2023 in Israel bewirkt hat, und immer noch bewirkt, Thema in Politik und Medien wäre. Statt die „Täter“ – in Gaza – zu Opfern zu stilisieren. Überlebenskampf ist eine Abrechnung mit den Feinden Israels: Den islamistischen Terrorgruppen Hamas und Hisbollah und dem „Kopf der Schlange“, dem Mullah-Regime im Iran.

Es ist eine Abrechnung mit westlichen Medien und Politikern, die blind Zahlen und Berichten der Hamas aka „Gesundheitsministerium in Gaza“ vertrauen.

Die den versuchten Genozid vom 7. Oktober 2023 kleinreden. Die versuchen einen normalen Verteidigungskrieg, den Israel nie wollte, der in Gaza, dem Libanon und dem Jemen geführt wurde und wird, zu einen „Genozid“ zu stilisieren.

Es ist eine Abrechnung mit jenen im Westen, die gemeinsam mit den Feinden des Westens und der Freiheit aktuell auf der Straße stehen und demonstrieren.

Trotz der Lage ist der Autor sicher: Frieden ist möglich. Noch am 4. Oktober 2023, drei Tage bevor Israel überfallen wurde, schrieb Arye Sharuz hoffnungsvoll auf Instagram: Bald ist es soweit – Frieden zwischen Israel und Saudi-Arabien ist nur eine Frage der Zeit. Danach wird es dann hoffentlich auch mit den Palästinensern klappen. Euer ARO

Das Resümee von Arye Sharuz Shalicar, am Ende von Überlebenskampf, ist nicht pessimistisch und thematisiert auch die „jüdische Resilenz“:

Frieden ist möglich! Definitiv. Nicht mit allen Widersachern und Feinden gleichzeitig. Aber möglich. Davon bin ich fest überzeugt. Aus einer Position der Stärke. Ich bin aber auch fest davon überzeugt, dass der Judenhass in weiten Teilen der westlichen, weißen und christliche geprägten Welt sowie im muslimischen Lebensraum immer genug Anhänger finden wird. Einen Hitler oder Khameni wird es unter anderem Namen auch immer wieder geben. Die Illusion einer „Endlösung der Judenfrage“ auch. So bleibt den Juden und dem jüdischen Staat nur eins: das Leben leben und lieben, und jederzeit bereit zu sein, wenn es wieder heißt – Überlebenskampf.

Überlebenskampf – Kriegstagebuch aus Nahost

  • 372 Seiten
  • 25,90 Euro
  • Hentrich und Hentrich Verlag Berlin

Bei Amazon (längere Lieferzeit) oder direkt bei Hentrich und Hentrich bestellen.


Arye Sharuz ist bis zum 12.10.2025 auf Deutschlandtour:

Oktober 2025: Arye Sharuz Shalicar stellt auf einer kleinen Deutschlandtour sein neues Buch vor

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
1 Kommentar
Älteste
Neueste
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Thomas Hoffmann
Gast
Thomas Hoffmann
1 Monat zuvor

Vielen Dank für diesen Beitrag! Das Buch werde ich lesen. Es ist unfassbar, wie das Leid der Israelis hier bei vielen Menschen keine Resonanz gefunden hat. Ich bete für Frieden und Sicherheit für Israel und für alle Juden in der Welt!

Werbung