Westfälische Rundschau: „Du bist Zeitungskrise“

wrEs ist wie mit einer schweren Krankheit. Leute im Fernsehen, entfernte Bekannte – das sind Menschen, die typischerweise unter schweren Krankheiten leiden. Irgendwen kennt man da bestimmt, aber selbst? Nein. Von unserer Gastautorin Anna Mayr.

Ich kenne Leute, die Leute kennen bei der Financial Times, bei der Frankfurter Rundschau. Ich kenne Journalisten, die nicht wissen wohin mit ihrer Arbeit.

Ich bin Journalistin. Ich glaube, dass ich das schon immer war. Es ist Teil meiner Identität – Schwester, Freundin, Studentin, Journalistin. Aber ich könnte noch umdrehen. Wenn ich jetzt schnell handle, dann kann ich noch Unternehmensberaterin werden, oder irgendwas auf Lehramt studieren. Rosige Aussichten also.

Fast drei Jahre habe ich mit der Westfälischen Rundschau verbracht. Auf die Kürze meines bisherigen Lebens bezogen sind das eine ganze Menge Jahre. Man unterstellt meiner Generation ja gerne, sie könne sich mit nichts länger als 30 Sekunden beschäftigen.

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Homöopathie, Impfskepsis, Reiki – Wie gefährlich ist NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens?

Grüne Gesundheitsministerin  Barbara Steffens
Grüne Gesundheitsministerin Barbara Steffens

Barbara Steffens ist „Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter“ der rot-grünen Landesregierung in NRW. Als solche ist die Grüne  für die Gesundheit im bevölkerungsreichsten Bundesland zuständig. Es sollte an ihr sein, den Wildwuchs pseudo- und paramedizinischer Umtriebe kritisch im Blick zu haben und zu unterbinden, dass Quacksalberei sich „Medizin“ nennt. Sollte. Von unserem Gastautor Sebastian Bartoschek.

Denn im Oktober 2012 erklärte die Ministerin dem Magazin Stern:

“Ich mache mich als Ministerin dafür stark, dass in unserem Gesundheitssystem und damit in der Schulmedizin auch Alternativmedizin wie die Homöopathie integriert wird. Ich denke, das ist wichtig, damit nicht nur einzelne Symptome behandelt werden, sondern der Mensch als Ganzes. Zum Glück gibt es schon viele Ärztinnen und Ärzte, die genauso arbeiten, bei denen auch Arnica C30 längst fester Bestandteil der Praxis ist.”

Das klingt blödsinnig und schrecklich uninformiert. Oder esoterisch und wissenschaftsfremd. Beides eigentlich undenkbar für eine Ministerin, die eine Administration von Fachleuten unter und um sich hat. Deswegen: flugs nachgefragt bei der Pressesprecherin von Frau Steffens.

Gehe ich richtig in der Annahme, dass Frau Steffens diese Meinung in ihrer Tätigkeit

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Baden-Württemberg: Gesoffen wird immer – Kretschmanns Klassenkampf von oben

Winfried Kretschmann Foto: Grüne Baden-Württemberg Lizenz: CC
Winfried Kretschmann Foto: Grüne Baden-Württemberg Lizenz: CC

 

Ist Baden-Württemberg wegen der ständigen Saufgelage in der Öffentlichkeit mittlerweile schon so vollständig verlottert, dass die Landesregierung jetzt endlich etwas dagegen unternehmen muss? Nein. Natürlich nicht. Ganz im Gegenteil: Baden-Württemberg ist so sauber und adrett, dass die armen Schwaben und Schwäbinnen wegen ihrer sprichwörtlichen Spießigkeit schon von leibhaftigen stellv. Bundestagspräsidenten als Feindbild Berlins präsentiert werden. Von unserem Gastautor Christian Soeder.

Trotzdem verfolgen Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) und die CDU wider alle Vernunft das Ziel, für Kommunen durch ein Gesetz die Möglichkeit zu schaffen, ein Alkoholkonsumerbot für öffentliche Plätze auszusprechen.

„Moment!“, werden jetzt vielleicht die Leser denken, „regiert in Baden-Württemberg nicht Grün-Rot und sind nicht Grüne und Rote gegen dieses Gesetz?“ Das stimmt. Die Grünen haben diese CDU-Idee in ihrem Wahlprogramm abgelehnt. Die SPD hat auf zwei Landesparteitagen (lange Geschichte) mit jeweils breiter Mehrheit gegen entsprechende Anträge gestimmt.

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Otto Müller „Einfach.Eigen.Einzig“ Mein Erlebnis am Neujahrstag 2013

Otto_MuellerUnser Gastautor Helmut Junge hatte sich entschlossen zum Neujahrstag 2013 der Werbung des Museumsleiters des Lehmbruck Museums Raimund Stecker zu einem Sektempfang anlässlich einer Einführung in die Otto Müller Ausstellung „Einfach.Eigen.Einzig“ nachzukommen.

Also früher aufstehen als sonst am 1.Januar, 12 km  durch die Stadt gurken, einen Parkplatz suchen, an der Kasse 8 Euro Eintritt zahlen, dann vorbei an der Ausstellung Duisburger Künstler, vorbei an den Metamaschinen von Jean Tingueli, die mich vor 30 Jahren so begeistert hatten, mir heute aber lediglich durch ihre riesigen Dimensionen in den Blick geraten, weiter durch den Verbindungsgang zum nächsten Ausstellungskomplex, wo der Museumsleiter Raimund Stecker an der Sekttheke stand und mich direkt nach dem Neujahrsgruß darüber informierte, dass sie mit dem Sekt noch etwas warten wollten, bis mehr Besucher da wären.

Ich war tatsächlich etwas früh und beschloss mir die Ausstellung in aller Ruhe zunächst einmal alleine anzusehen. Bilder von Otto Müller hatte ich gelegentlich schon zwischen denen anderer expressionistischen Künstlern sehen können, aber hier, diese Ausstellung war allein ihm gewidmet, und mit etwa 150 Bildern überwältigend groß. Die zwanzig Minuten, die ich bis zu Eröffnungsrede hatte, reichen  natürlich nicht um das Lebenswerk eines Künstlers in seiner Fülle zu würdigen.  Deshalb hatte ich mich vorher schon ein wenig auf diese Ausstellung vorbereitet. Otto Müller gehörte zu den Malern der Künstlergruppe“ die Brücke“, die vor mehr als 100 Jahren die Welt damit provozierte, dass sie Frauen, die keine mystischen Hintergrund hatten, nackt darstellte. Die Maler der Künstlergruppe „Die Brücke“, und damit auch Otto Müller, malten Frauen, die sich  nackt in der freien Natur bewegten. Das war in der prüden bürgerlichen Gesellschaft  des beginnenden 20. Jahrhunderts ein Tabubruch! So weit sind nicht einmal die französischen Fauvisten gegangen. Wie die meisten Expressionisten, malte auch Otto Müller nach  der von Emile Bernard und Paul Gauguin  entwickelten Technik des Cloisianismus, der den den Figuren eine schwarze Begrenzungslinie gegeben wird. Bei Müller ist diese allerdings weniger scharf abgrenzend, als beispielsweise bei Kirchner oder Heckel.

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Berliner helfen dem Ruhrgebiet II – So geht arm und sexy!: Drei Geister

Klaus Wowereit Foto:  Dontworry Lizenz: CC 3.0
Klaus Wowereit Foto: Dontworry Lizenz: CC 3.0

Das Ruhrgebiet hat es geschafft: Das ehemalige Industriezentrum ist so arm wie Berlin. Doch Armut alleine ist nur die halbe Miete – “arm, aber sexy” ist das gebot der Stunde. Wir haben Berliner gefragt, wie das geht. Unser Gastautor Frank Muschalle vom Blog Frontmotor hat geantwortet.

Klaus Wowereit könnte heute Nacht Besuch von drei Geistern bekommen. Der von der vergangenen Weihnacht zeigt ihm dann Berlin 2001, in dem wir noch arm, aber sexy waren. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht erzählt vom Allzeithoch der Grunderwerbsteuereinnahmen (Dank an die EURO Krise und Rettungspakete!) und dem Allzeittief deutscher Projektplanung in Schönefeld. Eigentlich ein Unentschieden, aber nach dem Tiefschlag der Tip Redaktion ihn zum peinlichsten Berliner 2012 auszurufen und dem letzten Platz im Armutsbericht eine gefühlte Niederlage. Das törnt ab. Sind wir jetzt alle „planlos und kraftlos, also unsexy“? Deshalb wird Klaus W. die künftige Weihnacht nicht mehr interessieren. Er kuriert lieber seinen Kater aus und rekapituliert, wie das alles anfing.

Nur Kapitalisten wussten von Anfang an, dass „arm, aber sexy“ ein genialer Marketinggag von Immobilienanalysten war. Der nächtliche Lärm vor Wowereits Tür könnte deshalb auch von Dieter Gorny stammen, der ein neues Wachstumsmärchen für die Gründung eines neuen „Centers für irgendwas“ sucht. Wowereit träumt. Vom „Fluch der kreativen Klasse“ und von chronisch unzufriedenen Kommunalpolitikern. Mit „Arm, aber sexy“ ging doch endlich mal ein Impuls von Berlin aus. Den verstand jeder und da fühlte sich jeder angesprochen. Vielleicht auch im Ruhrgebiet. Also Zeit für ein „European Center for Urban Sexappeal“ oder so? Der Projektantrag ist sicher schon aufgesetzt. Wenn nur dieser Lärm nicht wär, denkt Wowereit und fällt zurück in den Winterschlaf.

Mal sehen, was sich da für Gornys Bewerbungsfolien eignet: Kommt man z.B. von Westen mit dem ICE nach Berlin rein, sieht man zuerst den Funkturm und dann das rote Neonlicht von „Artemis“. Viele Wilmersdorfer hielten das anfangs für ein griechisches Restaurant. Als die Eurokrise anschwoll und die Berliner Mieten und Immobilienpreise, argwöhnten sie dann, es sei eine Beratungsstelle für griechische Baranleger.  Doch erst seit den Räuberpistolen aus Großburgwedel wissen alle, welches Franchisemodell sich dahinter verbirgt. Trotzdem: Wenn die Wilmersdorfer Witwen und Alt-68er wieder von Sexappeal reden, meinen sie eher den Immobilienmarkt in der Morgenpost.

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Duisburg: Müllsammlung für Lehmbruck-Chef Stecker

Das angekündigte Event zur Unterstützung von Raimund Stecker als Museumsleiter war doch stärker besucht, als ich ursprünglich dachte. Von unserem Gastautor Helmut Junge.

Wie man auf den Fotos sehen kann, haben sich die Teilnehmer an die Bitte der Organisatoren gehalten keine Großgeräte ins Museum zu schleppen. Sie haben sich, es ist ja ein Kunstmuseum, sogar sehr bemüht, ihre Müllsammlung irgendwie ästethisch zu arrangieren.
Der Grund für diese überraschend kurzfristig angesetzte Aktion:
Heute früh tagt übrigens das Kuratorium der Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum. Stecker ist erstmalig nicht zur Sitzung eingeladen. 5 Leute, davon 2 Spd, 2 Cdu, 1 Die Linke.

Mehr zu dem Thema:

Das Lehmbruckmuseum in Duisburg am Tag vor dem Maya-Kalender Weltuntergang

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Berliner helfen dem Ruhrgebiet I: So geht arm und sexy!

Das Ruhrgebiet hat es geschafft: Das ehemalige Industriezentrum ist so arm wie Berlin. Doch Armut alleine ist nur die halbe Miete – „arm, aber sexy“ ist das gebot der Stunde. Wir haben Berliner gefragt, wie das geht. Unser Gastautor Hergen Albus hat geantwortet.

„Berlin ist arm, aber sexy“, sagte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, in einem Fernsehinterview im Jahr 2004. Daran hat sich offensichtlich nicht viel geändert, denn im Jahr 2011, im Vorfeld der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, sagte er: „Wir wollen, dass Berlin reicher wird und sexy bleibt.“ Wie macht man das, arm zu sein, und gleichzeitig sexy, diese Frage wurde jetzt im Ruhrgebiet aufgeworfen, einer Gegend Deutschlands, die Berlin in vielem gleicht. Wie Berlin hatte das Ruhrgebiet einmal einen industriellen Kern, der Arbeit schaffte für viele und Menschen nicht nur aus Deutschland, sondern gesamt Europa anzog. Wie Berlin hatte das Ruhrgebiet unter dem Wandel der Zeiten zu leiden, und so gehört die wirtschaftliche Hochphase hier wie dort der Vergangenheit an. Dennoch, die Geschichte bleibt.

Und damit kommen wir zum ersten Teil der Beantwortung der Frage. Um arm, aber gleichzeitig sexy zu sein, sollte man sich erst einmal darauf besinnen, was man hat, auf seine Geschichte, auf seine Landschaft, auf seine Kulturszene, und auf die Standortfaktoren, die einen auszeichnen. Man sollte all das haben. Eine Einöde kann reich sein, aber sexy ist sie noch lange nicht. Berlin hat in dieser Hinsicht einen unvergleichlichen Vorteil. Berlin hat Geschichte, Landschaft und Kulturszene. Es ist eine Weltmetropole, deren Lebenshaltungskosten ganz am unteren Ende vergleichbarer Weltstädte liegen. Dies zieht Kreative an, diejenigen Menschen, die einerseits die Provinz leid sind, aber sich gleichzeitig die Mieten und sonstigen Kosten der Metropolen wie London, New York, aber auch bereits München oder Hamburg nicht leisten können.

Dazu kommt eine bereits lebendige Kulturszene, die sich aus der Insellage Berlins während des kalten Krieges herleitete, als eine bunt durcheinander gewürfelte Szene entstand, die sich vor allem durch einen tief empfundenen Non-Konformismus auszeichnete, und auf die Berlin vor allem auch deswegen anziehend wirkte, weil man durch seinen Wohnsitz in Berlin den Wehrdienst vermeiden konnte. Diese Kulturszene mit Brennpunkten wie Kreuzberg oder Friedrichshain kann inzwischen in einem Atemzug mit ähnlichen Künstlervierteln wie dem Quartier Latin in Paris oder Soho in New York genannt werden. Das sind im Endeffekt zwar auch nur Markenkerne, wenn man sie nicht mit Leben erfüllt, aber man kann darauf aufbauen.

So entsteht eine Kulturszene, aber es steht gleichzeitig ein Ruf, eine Marke, und diese Marke verkauft sich nicht schlecht. Berlin ist ein Ort, an dem man als Künstler gewesen sein sollte, ob es sich nun um eine australische Garagenband oder einen New Yorker Gelegenheitskünstler handelt – die beide angenehm davon überrascht sind, wie günstig man in Berlin leben kann, die aber möglicherweise negativ davon überrascht sind, dass man in Berlin sehr viel Kunst erleben kann, aber selbst selten dazu kommt, sich künstlerisch zu entwickeln, weil man zu beschäftigt ist. In Berlin kann man an sieben Tagen pro Woche Konzerte erleben. So mancher hoffnungsvoller Künstler hat nach Monaten in Berlin festgestellt, dass er in dieser Zeit viel erlebt, aber wenig geschafft hat. Aber auch dies trägt dazu bei, eine Marke zu schaffen. Die Marke lebt, und ihr Ruf wird durch jeden Menschen, der von anderen Plätzen nach Berlin gegangen ist, um sich kreativ weiter zu entwickeln, weiter verbreitet.

Berlin erinnert also an eine nicht mehr ganz junge, aber immer noch sehr attraktive  Blondine mit einem ausgedehnten Vorleben, die sehr selbständig und auch selbstbewusst ist, aber sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie ganz genau weiß, was sie nicht will, und ansonsten keinen wirklichen Plan hat, was die Zukunft bringen soll. Das ist zwar durchaus interessant, vielleicht auch amüsantt, aber nicht lukrativ, und sexy ist es nur begrenzt.

Daraus folgt die zweite Antwort auf die Frage. Um arm, aber gleichzeitig sexy, hilft es, wenn man sich selbst und sein Leben schönredet. Eine der Lieblingsbeschäftigungen des Berliners, und auch aller Menschen, die aus der Ferne, aus Quakenbrück oder Emmendingen, nach Berlin gezogen sind, ist es, sich selbst und jedem, der bereit ist zuzuhören, immer wieder zu erklären, warum es so geil ist, in Berlin zu leben. Beispielsweise trat einmal in einem der führenden Berliner Radiosender, Radioeins, ein Vertreter eines Berliner Debattierclubs auf. Dieser erklärte, was sein Club so treibe, und erzählte von der letzten Debattensession. Thema des Abends – Warum ist es so schön, in Berlin zu leben.

Dabei ist der Berliner an sich eigentlich ein vollständiger Misanthrop und bereits gestresst, wenn er morgens aus dem Bett steigt. Wenn man ihm dann im Berufsverkehr vor die Stoßstange kommt oder ihm im Bus oder der U-Bahn gegenüberseht, sollte man sich sehr vorsehen. Der Berliner ist auch gerne nur zu bereit, seine Stadt im Detail zu kritisieren, ob es sich um den Nahverkehr, die innere Sicherheit oder die Hertha handelt.

Generell aber lässt der Berliner auf seine Stadt nichts kommen. Es ist fast unmöglich, einen Berliner aus seiner Stadt wegzubekommen, weil für ihn das Leben nur in Metropolen lebenswert ist – komischerweise, denn in der Realität ist Berlin keine Metropole, sondern eine Ansammlung von als „Kiez“ bezeichneten Siedlungen – und dies trifft ebenfalls auf all jene Neu-Berliner zu, die auf der Suche nach kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten nach Berlin gekommen sind. Diese kehren Berlin entweder innerhalb eines halben Jahres den Rücken, oder sie bleiben für immer und erzählen für den Rest ihres Lebens sich und allen ihren Freunden, warum es so geil ist, in Berlin zu leben.

Unsere Blondine ist sich also durchaus unterbewusst im Klaren darüber, dass in ihrem Leben etwas falsch läuft, aber grundsätzlich geht sie davon aus, dass sie ein wunderbares Leben führt, und abgesehen davon hat sie Spaß dabei. Das ist ihr Selbstbild, und sie trägt dieses Selbstbild nach außen, damit auch alles es mitkriegen und selbst davon überzeugt sind, dass sie eine tolle Type ist. Berlin ist in der Hinsicht zwar gealtert, aber immer noch in der Pubertät, was sich auch daran zeigt, dass jeder Mensch, selbst wenn er bereits in den Fünfzigern ist, in der lebendigen Berliner Szene noch einmal jung zu sein, wenn er sich selbst für jung hält. Viel davon ist im Endeffekt Selbstbetrug, aber niemanden stört es, solange alle diesen Selbstbetrug leben.

Nun gut, irgendwie muss man das Ganze aber auch bezahlen, wird so mancher jetzt einwenden. Wovon leben all die Leute, die sich kulturell entwickeln und „etwas mit Medien“ machen, die seit Jahren dabei sind, irgendwelche Projekte zu entwickeln und vermarkten, ohne allerdings irgendeines dieser Projekte jemals fertig zu stellen. In dieser Hinsicht ist Berlin seinen Bürgern sehr ähnlich, wie der neue Flughafen Berlin Brandenburg International zeigt. Erfolgreiche Projekte wurden in Berlin schon immer fremd finanziert, und im Normalfall auch von Außenstehenden realisiert, oder es besteht die Gefahr, dass sie nie fertig gestellt werden.

Wie man das macht, nun, das führt uns direkt zur dritten Antwort auf die Frage, wie man es schafft, arm, aber sexy zu sein – Schulden machen und im Zweifel Mutti um Geld angehen. Das ist im Großen nicht anders als im Kleinen. Auch die sexy Blondine, die sich von einem Teilzeitjob zum Nächsten hangelt, aber nicht auf ausgedehnte Shoppingtouren oder Discobesuche verzichten möchte, weiß ganz genau, dass man durchaus mal bei Mutti einen Schein abstauben kann, wenn man die richtigen Argumente bringt oder ersatzweise eine Träne aus dem Augenlid rollt, oder dass man durchaus auch das Konto überziehen kann, oder die Kreditkarte. Im Zweifel kommt dann halt Peter Zwegat und darf hinter einem aufräumen.

Bundesländer haben es da noch besser, denn ihr Dispokredit ist deutlich höher. Berlin verfügte gleichfalls in seiner Geschichte über einen entscheidenden Vorteil – Im Kalten Krieg war Berlin das Bollwerk des Westens mitten im bösen Osten, weswegen keiner so genau darauf achtete, wie viel Geld man dort für Vorzeigebauten versenkte, weil Berlin vor allem immer noch das Schaufenster des Westens war, mit dem man den armen Menschen, die unter dem Kommunismus litten, mal zeigte, auf was sie alles verzichten mussten. Ost-Berlin hingegen genoss den Bonus, dass es Hauptstadt war, ein Vorteil, der inzwischen nach dem Ende des Kalten Krieges auf ganz Berlin ausgedehnt wurde. Altgedienten DDR-Bürgern aus Erfurt oder Schwerin kriecht immer noch der Hass in die Augen, wenn man sie auf Berlin anspricht, weil sie mit Berlin die Millionen verbinden, die nach Berlin geschleust wurden, um der Hauptstadt der DDR ein modernes Antlitz zu verleihen, während rundherum alles vor sich hinmoderte.

Das ist heutzutage nicht ganz anders, denn Berlin hat sich an diesen Zustand gewöhnt. Berlin ist daran gewöhnt, erst Geld auszugeben und sich erst dann Sorgen darum zu machen, wer die Rechnungen bezahlt. Ganz Berlin ist eine einzige Baustelle, die aus irgendeinem Grund niemals fertig wird, und trotzdem wird Klaus Wowereit nicht müde, darauf hinzuweisen, welche Kosten und vor allem auch Repräsentationspflichten mit dem Hauptstadtstatus Berlins verbunden sind, und welche Bundesmittel daher zusätzlich nach Berlin umgeleitet werden müssen. Auch wenn er politisch eine andere Grundhaltung vertritt als sie, hat auch Klaus Wowereit kein Problem, Mutti um Geld anzugehen, wenn er sich sein Operhaus nicht selbst leisten kann, oder wenn er unbedingt aus drei Flughäfen einen machen muss und dabei völlig überraschend die Kosten explodieren. Mutti oder ersatzweise Peter Zwegat werden schon helfen.

Und für die laufenden Kosten macht man halt Schulden. Irgendwer wird das Konto immer wieder ausgleichen, abgesehen davon, dass dieses chronische Abgebrannt-Sein ja auch sexy an sich ist, wenn man es passend in Szene setzt. Berlin gleicht auch in dieser Hinsicht seinen Bürgern und bemisst seine Ausgaben an dem Leitspruch „Wer nicht über seine Verhältnisse lebt, lebt unter seinem Niveau“. Ob das mit dem Niveau in dieser Hinsicht wirklich so passt, bedarf keiner näheren Überprüfung, denn, wie Antwort Zwei belegt, geil ist man eh, und wenn man nicht geil ist, redet man sich geil.

Und hier beginnt sich die Geschichte im Kreis zu drehen. Man hat auf seine Situation aufgebaut, hat sich diese Situation schön geredet, wo es nötig war, und dadurch hat man sich einen Markenkern geschaffen, den man sich selbst und anderen verkaufen kann. Dann hat man mit teuer Geld seine Situation verbessert und weitere Standortvorteile hinzugebaut, oder man hat mit dem teurem Geld einfach nur dafür gesorgt, dass die laufenden Kosten gedeckt wurden. Das macht im Einzelnen nur einen graduellen Unterschied. Das Wichtige daran ist, dass man aufgrund der daraus entstehenden Rechnung nicht in Depressionen verfällt, sondern die Rechnung entweder weiterreicht, sie ignoriert oder sie schön redet, dass man also entweder die Rechnung klein- oder das, was man gekauft hat, groß redet. Damit geht es einem dann wieder gut, und man kann sich und allen anderen wieder erzählen, wie schön es ist, in Berlin zu leben.

Um mit der Grundlage der gesamte Betrachtung zu enden, die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat mit Ihrer Betrachtung, NRW müsse sexier werden, das Thema klar verfehlt, denn Ihre Feststellung beinaltet das Eingeständnis des Defizits, wo ein fröhliches Bekenntnis zu sich selbst notwendig gewesen wäre. „NRW ist verdammt sexy,“ das wäre richtig gewesen, oder „NRW ist viel sexier, als man es gemeinhin annimmt.“ Und dann auf mit dem Staatssäckel und weiter Projekte in Angriff nehmen. Mutti wird schon bezahlen. Aufgrund der Bevölkerungszahl von NRW hätte Frau Kraft hier zudem  die entschieden besseren Argumente.

Hergen Albus ist promovierter Anglist und arbeitet als Übersetzer und Online-Redakteur in Berlin. Seit 9 Jahren während der Woche in Berlin, verbringt er seine Wochenenden immer in der nordhessischen Provinz, um die Realität nicht vollständig aus den Augen zu verlieren.

 

Praktika: „Machen sie das auch umsonst?“

Büro. Foto: Bundesarchiv Lizenz: CC

Machen sie das auch umsonst? Nööööö, sollte man sagen. Von unserer Gastautorin Anne Winterhagen.

Bei den „Praktikumsinformationsveranstaltungen“ an der Uni sagen Sie einem, dass man dankbar sein soll, ein Praktikum machen zu dürfen: etwas lernen zu dürfen, – auch wenn man kein Geld dafür bekommt. Wo das Geld herkommen soll, sagen sie einem nicht.

Der doofe Comicpraktikant auf der Powerpointfolie grinst den Betrachter widerlich an – und hält ihm eine Kaffeetasse entgegen.

„Noch mehr Zucker? Ich geh schon, Chef!“ steht in einer Sprechblase. Darunter steht: „Cartoon“, als ob das eine Erklärung dafür sei, dass es schlecht ist.

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In 5 Minuten um 40 Jahre altern

Wir tun Dinge, die uns wie selbstverständlich erscheinen. Wir stehen morgens auf, weil wir es können. Wir ziehen uns an, weil wir es können. Wir steigen in ein Auto und fahren zur Arbeit. Wir arbeiten am PC und lesen Mails. Wir gehen einkaufen. Wir gehen zu Abend Essen. Und wir gehen schlafen. Weil wir es können. Das alles sind für uns kaum körperliche Herausforderungen, nicht anders als für andere auch. Und wir machen uns keinen Kopf. Von unserem Gastautor Robert Basic.

Was ist aber, wenn wir das alles nicht mehr einfach so erledigen können? All diese Dinge des Alltags? Weil wir alt geworden sind. Weil wir nicht mehr in der Lage sind, ohne größte Mühsal und Körperbeschwerden, diese banalen Alltagsdinge zu erledigen.

Wie aber sollen wir das wissen, was es heißt „alt“ zu sein? Woher sollen wir wissen, was Ältere im Alltag behindert? Woher sollen wir – wenn wir dazu in der Lage sind – in Unternehmen Entscheidungen – sei es beim Design eines Produktes bis hin zum Verfassen einer Produktbeschreibung – treffen, die auch Älteren keine Probleme bereiten?

Wir können es nicht. Und daher scheitern wir! Wir scheitern darin, Ältere zu berücksichtigen. Und dabei wäre es sehr einfach. Dürfen Senioren nicht ebenso wie wir „Jungspunte“ Anspruch darauf haben, dass das Produkt in

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Das Lehmbruckmuseum in Duisburg am Tag vor dem Maya-Kalender Weltuntergang

Lehmbruck Museum Foto: Hans Peter Schaefer Url: http://www.reserv-a-rt.de Lizenz: GNU FDL

Ursprünglich wollte ich mir für diesen Artikel über die diesjährige Ausstellung Duisburger Künstler im Lehmbruckmuseum etwas Zeit lassen. Von unserem Gastautor Helmut Junge.

Es ist nämlich schwierig genug, über eine Ausstellung zu schreiben, für die man sich selbst beworben hatte und ausgeschieden ist. Aber diese Ausstellung hat es in sich, sowohl vom Konzept, als auch wegen der zeitgleichen Zuspitzung um die Person des Ausstellungsmachers und Museumsleiters Raimund Stecker. Dass Zuspitzungen von Ereignissen im Zusammenhang mit Personaldebatten nie zufällig sind, ist eine Lebensweisheit, an der ich festhalte, weil sie manch eine schmerzhafte Lebenserfahrung immer wieder aufgefrischt hat. Aber zunächst einmal zur Ausstellung. Noch nie habe ich so viele Menschen bei einer Ausstellungseröffnung Duisburger Künstler gesehen, wie bei der Vernissage zur Ausstellung “ 47/12-Kunst aus Duisburg“.

Von der Besucherzahl bei der Vernissage jedenfalls war diese durchaus sehenswerte und künstlerisch zukunftsweisende Ausstellung ein Riesenerfolg. Auch viele Exponate machten auf mich einen frischen, der weltweiten Entwicklung der Kunst Rechnung tragenden Eindruck. Ich kann jetzt an dieser Stelle, weil es eben diese oben genannte Zuspitzung um die Person des Museumsleiters Raimund Stecker geht, nicht auf jedes einzelne Exponat dieser Ausstellung eingehen, und möchte mich auf wenige, mir besonders in Erinnerung gebliebenen

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