Werbung

J-Pop – eine Polemik

Letztes Jahr war ich sechs Monate in Japan. Ich habe mich dort ganz doll amüsiert. Aber jetzt, wo ich längst wieder da bin, muss ich doch noch was loswerden, das mir schon lange auf der Seele brennt. Also raus damit: Ich verabscheue japanische Popmusik aus ganzem Herzen! Alles, ja wirklich alles, was unter dem Label „J-Pop“ durch den Äther geistert, ist widerlicher, unerträglicher, musikalischer Müll. Ausnahmen gibt es keine, diese Regel bestätigt sich ganz von alleine. Von unserem Gastautor Hanno Jentzsch

Zu meinem großen Glück habe ich die meiste Zeit auf dem Land verbracht, fernab von der Dauerbeschallung, die in den urbanen Ballungsgebieten herrscht. In den großen Städten sägen die aktuellen Hits 24/7 an den Nerven, via Großleinwand am besten, denn J-Pop ist weniger ein Geschäft mit der Musik als vor allem mit den geifernden Lolita-Träumen einer ganzen Gesellschaft: Hoch mit dem Rock, Schulmädchen! Brich mir das Herz, Teenager-Junge!

Matschig, mulsch und harmlos

Aber auch auf dem Land ist man nicht sicher. In gewisser Hinsicht ist es fast schlimmer: Statt einer „Szene“, in die man sich vielleicht flüchten könnte, gibt’s nur den Fernseher, und der ist gnadenlos. Ich habe eine Weile in einer abgeschiedenen Herberge gearbeitet. Mein Chef hieß Ryô, er ist ein toller Typ, der auf Umwegen über Afrika und Südamerika Herbergsvater auf Kyûshû geworden ist. Er hat eine Weltreise auf dem Buckel, humanitäre Arbeit in der Sahel-Zone geleistet, zwei Kinder in die Welt gesetzt und eine herzzerreißend reizende Herberge eröffnet, in der sich alle Gäste wohl fühlen. Man sollte meinen, dass so eine Vita auch einen breiten musikalischen Horizont mit sich bringt. Aber nein: Ryô liebt japanische Musik. Punkt. In seiner Jugend hat er selber in einer Band gesungen, und zwar J-Rock. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: J-Rock ist exakt das gleiche wie J-Pop, nur dass jemand verzerrte, matschig-synthetische E-Gitarren in den Sound gemixt hat, die so harmlos und weichgespült, so falsch und mulsch klingen, dass einem schlecht davon werden kann. Zu allem Überfluss scheinen J-Rock-Fans wie Ryô zu meinen, dass sie mit diesem Sound auf der „harten Seite“ stehen. Naja, immerhin kann man im J-Rock auf lächerliche Choreographien weitgehend zu verzichten. Das hilft aber nix. Ich verabscheue J-Rock aus ganzem Herzen.

Hohle Imitationen

Auch nach einem halben Jahr Japan kann ich den einen nicht vom anderen J-Pop-Song unterscheiden. Sie sind alle gleich furchtbar. Harmonien und Melodieführung sind grundsätzlich vollkommen identisch. Zwei Themen bestimmen die Lieder: erstens Liebe und zweitens Allegorien auf das Leben an sich, abgeleitet vom Anblick einer schönen Blume, einer schönen Wolke, einer schönen Felsformation, et cetera, pepe. Die Kombination beider Themen ist möglich und wird leider auch nur zu gerne bemüht, mit ausnahmslos ekelhaften Ergebnissen.

Gelegentlich, in besonders schrecklichen Momenten, kommt es zu Anleihen an angesagte westliche Genres. Dann wird zum Beispiel mal eine Strophe gerappt: unerträglich. Mehr noch – ehrverletzend für jeden, der Rap je ernst genommen hat. Noch im gleichen Song mag unter Umständen eine kurze Metal-Core-Episode ihren tragischen Verlauf nehmen, selbstverständlich ebenfalls getragen von besagtem E-Gitarren-Matsch und somit schon allein soundtechnisch zum völligen Scheitern verurteilt. Das größte Problem mit diesen und allen anderen musikalischen Ausflügen ist, dass sie lediglich hohle Imitationen sind, völlig losgelöst vom musikalischen Kontext und damit eben auch frei von jeder Form von Authentizität. J-Pop ist die Vollendung der Retortenmusik. Er verarbeitet alles, was die Populärmusik zu bieten hat, zu einem klebrigen Brei. Je keimfreier die Stimmen der Interpreten dabei klingt, desto besser, das passt ideal zum charakterlosen Hintergrundgeräusch. Jede Form von „Soul“ sucht man vergebens. J-Pop ist niemals organisch und klingt immer nach Kitsch. Er ist das musikalische Äquivalent zu einer pinken Neonröhre.

Wo ist das alternative Japan?

Na klar: Es gibt auch in Japan eine unabhängige Musikszene, und ich muss zugeben, dass ich mich auf diesem Gebiet nicht sehr gut auskenne. Experten könnten mir bestimmt aus dem Stehgreif 20 Bands aus Japan nennen, die in dem einen oder anderen Genre Großes geleistet haben. Ich kann das nicht. In Kyoto habe ich aber zum Beispiel die Jazzband „Shibusa Shirazu“ live gehört – die Band ist auch außerhalb Japans viel unterwegs, vor ein paar Jahren spielten sie zum Beispiel einen umjubelten Gig auf dem Jazzfestival Moers, in Düsseldorf hab ich sie auch schon gesehen. Niemals würden diese Musiker auf die Idee kommen, in Bezug auf sich von „J-Jazz“ zu reden. Obwohl J-Jazz natürlich sehr beliebt ist – weichgespülte japanische Versionen von seelenlosen Schmuse-Standards aus Europa und den USA, der Inbegriff von Fahrstuhlmusik, muss ich es überhaupt noch schreiben? Einmal noch: Ich verabscheue J-Jazz aus ganzem Herzen! Auf dem Konzert von Shibusa Shirazu dagegen habe ich ein einziges Mal für zwei kurze Stunden ein „alternatives Japan“ gefunden: einen Ort, der mit japanischer Musik zu tun hat und an dem trotzdem weder Schulmädchenuniformen noch Mascara-Massaker, weder Quietschestimmen noch Matschgitarren eine Rolle spielen – auch nicht auf ironische Art und Weise. Überhaupt habe ich ja den Eindruck, dass viele Kulturexporte aus Japan vor allem von einem  intellektuellen Hang zur Ironie leben, der hier unbedingt zum guten Ton gehört: Hör mal, Trash! Das kommt in mein CD-Regal direkt neben Alexander Marcus. Ich weiß, ich weiß, ich habe keine Ahnung.

Frisches Blut fürs J-Monster

Aber eigentlich schreibe ich hier ja auch gar nicht vom alternativen Deutschland, und erst recht nicht vom alternativen Japan, sondern vom alltäglichen. Nur eine Woche nach dem Konzert folgte nämlich die Ernüchterung. Ermutigt von Shibusa Shirazu habe ich einen Live-Club besucht, in dem sich junge Nachwuchsbands präsentieren können. Und was machen die da, die hoffnungsvollen jungen Stars von morgen? Alle? J-Rock! Singen von Blumen, die sie an das Leben erinnern, schleimen sich fädenziehend durch ihre süßlichen Harmonien, schütteln ihre bicolor gefärbten Strähnen schmachtend aus der Stirn, rühren mit ihren E-Gitarren den gefürchteten Soundmatsch an und füttern das J-Monster mit ihrem frischen Blut. Alles wie gehabt, sogar in einem schummerigen Keller in downtown Osaka, in dem doch eine Menge möglich wäre. Viele junge Musiker träumen trotz Talent von einem Einstieg in den J-Pop-Zirkus. Das erzählt mir nicht nur einer der Nachwuchsmusiker im Live-Club beim Aftershow-Bier, sondern auch der coole Kellner in meinem Lieblingscafé in Osaka. Der  jobbt dort nämlich nur, bis seiner Band der Durchbruch gelingt, sagt er. Er ist wirklich ein hübscher Junge. Schon bevor er mir die Musik seiner Band vorspielt, weiß ich, wie sie klingen wird. Ich muss es nicht nochmal schreiben, oder? Meine eigene Band, deren Songs ich ihm im Gegenzug zeige, fand er übrigens auch scheiße.

Die sehen ja aus wie Mädchen! Na und?

Musik ist selbstverständlich nur ein kleiner Teil des Geschäfts mit dem J-Pop. Das gilt ganz besonders für die männlichen Szene-Helden, die als Popstars nicht nur die Kleiderordnung vorgeben, sondern möglichst auch noch eine ganz bestimmte Geste als Markenzeichen etablieren, die dann für ein paar Monate die Öffentlichkeit heimsucht. Wenn zum Beispiel ein J-Pop-Beau eine  besondere Art hat, sich erst an die Stirn zu tippen, bevor er zwei Finger mit einem verschmitzten Gesicht zur unvermeidlichen Foto-Pose erhebt, kann diese Geste innerhalb weniger Tage zum absoluten Renner werden. Alle müssen das dann nachmachen, ob im TV oder auf der Straße. Mit ein, zwei Handbewegungen wird der J-Pop-Beau so zum Kurzzeit-Star, und seine Band macht den Soundtrack zur Geste.

Eine ganze J-Pop-Sparte lebt ausschließlich vom mauen Gag, dass die männlichen Bandmitglieder so androgyn wie möglich aussehen. Die verschiedenen Projekte um den Künstler Gackt gelten als Aushängeschilder dieses bereits etwas überholten Trends, mit zahlreichen Fans auch in der deutschen Visual-Kei und Manga-Szene. Wer hier aktiv ist, kann nicht einmal die Ironiekarte spielen. Diesen Menschen ist einfach nicht zu helfen. In ihrer Musik unterscheiden sich Gackt, Kattun und Co übrigens trotz ihres extravaganten Auftretens nicht im Mindesten vom Rest der J-Pop-Mischpoke: Sie sind absolut schauderhaft. Googelt es mal und überzeugt euch selber. Oder  besser, glaubt mir einfach und erspart euch den Quatsch.

Ist sie niedlich, ist sie heiß

Weibliche Stars haben vor allem süß zu sein. Verstörenderweise wirkt es anscheinend verkaufsfördernd, wenn die Sängerinnen nicht nur stimmlich, sondern vor allem visuell den Anschein erwecken, als seien sie weit unterhalb der Altersgrenze, ab der Sex mit ihnen legal wäre. Kawaii – niedlich – müssen sie sein. Ob sie sich dabei anhören wie eine aufgedrehte 12-jährige Mittelschülerin auf ihrer ersten Pyjama-Party, ist egal. Kawaii ist mehr als Aussehen, es ist eine Lebenseinstellung – für Mädchen und Männer. Selbst der harte, kettenrauchende, wettergegerbte Landwirt, für den ich eine Weile gearbeitet habe, kann sich dem nicht entziehen. Einmal rege ich mich in seiner Anwesenheit über eine Werbung auf, in der ein Mädchen mit ihrem Freund Baseball spielt. Der Reiz des Mädchens besteht darin, dass sie sich dabei unfassbar ungeschickt anstellt. Dafür kann sie ganz toll verschämt kichern. Kawaii! Dann läuft ein Clip, in dem ein anderes Mädchen im Negligé verträumt durch die Straßen schlendert und singt: „Ich nehme mir ein Radiergummi. Ich möchte ab jetzt nur noch schöne Dinge tun.“ Ich schnaube. Mein Chef dagegen, der harte Hund, ist hin und weg. Von wegen albern! Ist doch kawaii! Wie könne ich das nicht toll finden?

J-Pop und die Beatles

Den Grad an kultureller Intoleranz, den J-Pop in mir auslöst, hätte ich mir eigentlich vorher gar nicht zugetraut. Aber siehe da: Es geht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man sich diesen Unsinn ernsthaft reinziehen kann. Dabei weiß ich ja eigentlich, dass es anderswo nicht besser ist. Hier zum Beispiel, in Silbermond-Land, Ich+Ich-Stadt, Jimmy Blue Ochsenknecht-Straße 12. Auch schlimm. Aber es hilft nix: J-Pop ist für mich nicht zu entschuldigen.

Wikipedia sagt, der Ursprung des J-Pops liege bei den Beatles. Kann sein. Jede und jeder in Japan kennt und liebt jedenfalls die Beatles. Und zwar, weil sie „Let it be“ geschrieben haben. Wann immer ich allerdings ein Gespräch über die Beatles führen wollte, stieß ich schnell an die Grenzen. Nicht einer der vielen selbst ernannten Beatles-Fans, die mir begegnet sind, teilte meine Begeisterung für „Abbey Road“, die meisten haben nämlich von dem Album schlicht noch nie etwas gehört, geschweige denn von so großartigen Songs wie „Oh, Darling“. Immer nur „Let it be“, unter Umständen noch „Yesterday“, echte Experten mögen ganz vielleicht sogar „Hey Jude“.

Und genau das ergibt dann ja auch wieder Sinn. J-Pop hat mit Musik so viel zu tun wie „Let it be“ mit dem Gesamtwerk der Beatles: sehr, sehr wenig. Da hat die Musik aber noch mal Glück gehabt!

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
5 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Oedipa Maas
Oedipa Maas
12 Jahre zuvor

„Ausnahmen gibt es keine“

Naja. Was ist z.B. mit 椎名林檎?

Tobias
Tobias
12 Jahre zuvor

Hanno
Hanno
12 Jahre zuvor

#1: Die Einschätzung, die ich in diesem Text wiedergebe, ist ja eher subjektiv. Vorsichtig ausgedrückt…

Thomas
12 Jahre zuvor

Stück erfreut Herz. Würde Ling-Ling dazu vermutlich sagen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Drawn_Together#Ling-Ling

Übrigens sind die Shibusen, die Du, wie angedeutet, während der D’dorfer Japantage seinerzeit wohl gesehen hast, natürlich auch Kawaii.

Guck Dir nur mal die Budotänzerinnen an:

comment image

All Things Kawaii!

Nedorus
12 Jahre zuvor

Ich hab herzlich gelacht! Ja wirklich, das habe ich. Gut geschrieben, schön pointiert, ironisch und mit einem funken Wahrheit… Ja, das sage ich als bekennender J-Pop Fan. „wota“ würden sie mich in Japan wohl nennen *lol*

Aber zum Glück sind Geschmäcker verschieden und es gibt Alternativen (suchtest Du nicht das Alternative Japan?) zum Drogen-verseuchten, depressiven und immer gleich klingenden „Alternativ“ aus Ami- und Euro-Land (Goth, Death-metal, Indi und wie sie sich alle schimpfen…).

Und dass für Dich ein Ska-Stück von Morning Musume genauso klingt wie eine Sould Nummer von TGS kann ich leider nicht nachvollzehen, aber vllt kommt das ja daher, dass Du vom Eropäischen-Einheits-Alternativ versaut bist?

Nedorus (mit viel Augenzwinkern und immernoch lachend)

Werbung