Nachhaltig, aber nicht naiv: Europa braucht eine andere Industrie- und Klimapolitik

Jochen Ott Foto: SPD-Fraktion NRW


Man kann ein Virus killen, indem man den Patienten umbringt. Und man kann die CO2-Emissionen der Industrie auf null zwingen, indem man die Industrieproduktion auf null zwingt. Beides funktioniert todsicher und ist gleichermaßen aberwitzig. Von unserem Gastautor Jochen Ott. Jochen Ott ist Fraktionsvorsitzender der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag.

Ersteres ist natürlich nur ein abwegiges Gedankenspiel, letzteres aber leider Realität. Durch die CO2-Zertifikate, die europäische Industrieunternehmen für ihre Emissionen kaufen müssen, steigen die ohnehin hohen Energiekosten immer weiter und machen industrielle Produktion unwirtschaftlich. Wertschöpfungsketten brechen weg, Fachkräfte verlieren ihren Job. Besonders bitter: Die CO2-Emissionen verschwinden nur aus der deutschen bzw. europäischen CO2-Bilanz, nicht aber aus der Atmosphäre, weil die hier dichtgemachte Produktion im außereuropäischen Ausland wieder aufgebaut wird.

Selbstverständlich war das anders geplant. Die Idee ist so schön schlicht wie marktwirtschaftlich: Wenn Industrieunternehmen für jede Tonne CO2-Ausstoß ein Zertifikat kaufen müssen, dann werden sie über kurz oder lang in klimaschonende Produktionsverfahren investieren. Erst recht, wenn der Preis der Zertifikate jedes Jahr steigt. Der Markt wird das regeln. Ja, macht er, nur anders als gedacht. Als Unternehmen, das im internationalen Wettbewerb steht, kann ich mir die teuren Zertifikate auch sparen, wenn ich ins außereuropäische Ausland gehe (fast 90% der weltweiten CO2-Kosten werden in Europa fällig). Das kostet zwar auch, verteuert aber auf Dauer nicht meine Produkte. Zudem: Geld, das ich für Zertifikate ausgeben muss, kann ich nicht mehr investieren: weder in den Bestand am deutschen Standort noch in neue, ökologische Technologien. Das ist der Grund, warum die energieintensive Industrie gerade ihre Investitionen einstellt.

Kurzum: Der europäische Zertifikate-Handel ist politische Fehlsteuerung par excellence – und er ist überhaupt nicht nachhaltig. Auch und gerade die in NRW regierenden Grünen müssen endlich begreifen, dass Nachhaltigkeit viel größer ist als nur CO2-Reduktion. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet Wertschöpfung im eigenen Land. Nachhaltigkeit bedeutet den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen mit Tarifbindung und Mitbestimmung. Nachhaltigkeit bedeutet strategische Souveränität: Lebenswichtige Medikamente müssen bei uns hergestellt werden. Elementare Grundstoffe und Technologien (Stahl, Chemie, Chips, KI) müssen auch aus Deutschland und Europa kommen. Wir dürfen uns nicht dem Wohlwollen von Amerikanern und Chinesen ausliefern. Umso wichtiger ist die Sicherung strategisch wichtiger Industriekerne. Ohne die Versorgung z.B. mit Chemieprodukten aus heimischer Produktion (Ammoniak, Ethylen etc.) brechen auch die Wertschöpfungsketten für nicht-energieintensive Branchen zusammen.

Nachhaltigkeit verlangt also, wirtschaftlichen Erfolg, soziale Gerechtigkeit und Ökologie zusammenzudenken. Nur so entsteht gesellschaftlicher Wohlstand.

Damit habe ich dann aber auch gesagt, dass Klimaschutz ein Ziel von hoher Priorität bleiben muss und nicht von der Agenda fallen darf. Das ist der Vorwurf, den ich der rechten und konservativen Seite des politischen Spektrums mache. Dort scheint man Klimaschutz für ein rein „linkes“ Projekt zu halten. Aber die Klimakrise ist weder linke Ideologie noch „Moral“. Die Klimakrise ist Physik. Sie wird Folgen haben: Naturkatastrophen, Dürren, Lebensmittelknappheiten, Gesundheitsschäden usw. Es soll Menschen geben, denen die Natur genauso egal ist, wie die Gesundheit ihrer Mitmenschen oder die Lebensqualität ihrer Kinder. Aber rechnen können sie vielleicht noch: Um 2050 verursacht die Klimakrise weltweite volkswirtschaftliche Schäden in Höhe von 38 Billionen Dollar pro Jahr, schätzt das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung. Und selbst wenn es nur die Hälfte sein wird (die Studienlage ist nicht eindeutig), so muss uns allen klar sein: Die Klimaerwärmung wird richtig teuer. Jedes Zehntel Grad werden wir bezahlen müssen: in Form von höheren Versicherungsprämien, Gesundheitskosten, Wärmeschutzmaßnahmen, Steuern oder Lebensmittelpreisen.

Dazu muss man wissen, dass die oberen zehn Prozent der Gesellschaft ein Vielfaches an CO2-Emissionen verursachen als die untere Hälfte. Damit sollte klar sein, wer die Hauptlast des Klimaschutzes tragen muss – und wer nicht.

Ich bin mir sicher: Chinesen, Inder und Amerikaner können rechnen. Der Klimawandel wird eher früher als später einen Markt für klimafreundliche Industrieprodukte erzwingen. Dann sollte es aber auch noch eine deutsche Industrie geben, die diesen Markt bedienen kann.

Was ist bis dahin zu tun?

Erstens: Die CO2-Bepreisung in Form des europäischen Zertifikatehandels muss ausgesetzt werden, bis es einen wirksamen Schutz vor Öko-Dumping-Importen aus dem außereuropäischen Ausland gibt („CBAM“ – funktioniert noch nicht) und bis es einen Ausgleich der höheren Kosten für Unternehmen gibt, die im internationalen Wettbewerb stehen.

Zweitens: Die CO2-Bepreisung sollte dauerhaft für alle Industrieunternehmen entfallen, die a) Standortgarantien geben und b) die Mittel der eingesparten Zertifikate in neue, klimaneutrale Technologien investieren.

Drittens, das Wichtigste: Grüne Industrie braucht einen Markt! Die gezielte Subvention von Produktionsanlagen in Schlüsselbranchen (z. B. Direktreduktion mit Wasserstoff bei ThyssenKrupp oder Chipproduktion) ist wichtig, aber nicht ausreichend. Die Industrie wird erst dann dauerhaft in ökologische Produkte investieren, wenn es sie auch mit großer Sicherheit verkaufen kann. Wir müssen einen Markt schaffen: durch öffentliche Nachfrage und durch das Ordnungsrecht. Grüner Stahl und grüne Chemie müssen verlässliche Abnehmer finden: zum Beispiel über verpflichtende Anteile bei öffentlichen Bauvorhaben oder in Produkten für den europäischen Markt.

Wem das alles nach zu viel Staat klingt, dem sei gesagt: Amerikaner und Chinesen betrieben längst aktive Industriepolitik. Für deutsche und europäische Ordnungspolitik im Stil des gegenwärtigen Zertifikatehandels spotten sie nur. Es wird Zeit, dass wir umsteuern und aufholen.

 

 

 

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hase12
hase12
15 Tage zuvor

Klimawandel und steigende Lebensmittelpreise miteinander zu verbinden is Unsinn. Wenn man statt Biolandwirtschaft auf industrielle Landwirtschaft setzt, verbunden mit dem Einsatz von Gentechnik, anstatt diese zu Tode regulieren, würden so viele Lebensmittel vorhanden sein, dass man (nahezu) alle Menschen auf der Welt versorgen könnte.

Michael Niegel
Gast
Michael Niegel
14 Tage zuvor

Das Gegenteil ist richtig. Amerikaner, Chinesen und viele andere Staaten steigen in den Zertifikatehandel ein. Zu tun wäre für die deutsche Industrie und Wirtschaft, runter mit Energiesteuern, Wiedereinführung der Atomkraft, Entbürokratisierung, Steuersenkungen, Investitionen in Infrastruktur

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