Premiere in Oberhausen: Amok nach Emmanuel Carrère

Clemens Dönicke, Dietmar Nieder in AMOK (Foto: Isabel Machado Rios)

Es ist der Abend von Clemens Dönicke und Dietmar Nieder. Die unbedingte Spiellust der beiden Schauspieler dominiert die zweite Premiere am Theater Oberhausen in der Intendanz von Florian Fiedler. Dabei ist „Amok“ nach dem Roman von Emmanuel Carrère keine echte Premiere, sondern eine Übernahme vom Theater Osnabrück. Es ist nicht ungewöhnlich beim Start einer neuen Intendanz, bestehende Produktionen zu zeigen, um erstmal Spielplanpositionen zu besetzen. Mit „Amok“ wurde auch der neue Saal 2 – der ehemalige Malersaal – eingeweiht.

Carrère erzählt in seinem Roman die Geschichte von Jean-Claude Romand, der sich ein Leben samt Doktortitel und Anstellung bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf zusammengelogen hat. Jahrelang fuhr er statt zur Arbeit täglich hunderte von Kilometern mit dem Auto im Kreis, finanzierte sich ein großbürgerliches Leben, indem er Gelder von Freunden veruntreute. Als sein Lügengebäude zusammenzubrechen drohte, tötete er kaltblütig seine Familie und ihm Nahestehende und zündete sein Haus an, überlebte aber als einziger und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Bühnenbreit erhebt sich vor den Zuschauern ein Stahlregal mit Pappkartons und Aktenordnern, zwischen denen die beiden Darsteller zunächst wie Beweisstücke des grausamen Verbrechens liegen. „Amok“ wird auf die Wand projiziert und dann „Nach wahren Ereignissen“. Ein Satz, den man besonders aus dem Vorspann von Horrorfilmen kennt. Da soll er den Schrecken des Films noch etwas steigern und ist doch längst zum Klischee verkommen. Hier jedoch, im Theater, ist er gänzlich fehl am Platz und verweist in paradoxer Weise auf die Gemachtheit dessen, was da kommt. Macht es denn wirklich einen Unterschied, ob eine Geschichte sich wirklich ereignet hat und gut nacherzählt wird oder ob sie nur gut erfunden ist? Und was ist die Wahrheit, wenn es um einen Menschen geht, der sein ganzes Leben nur erlogen hat? Regisseur Jan-Christoph Gockel und seine Dramaturgin Patricia Nickel-Dönicke machen bereits mit dieser Einblendung klar, dass sie nicht einfach ein kleines bisschen Horrorshow zeigen wollen, sondern noch ganz andere Fragen an Carrères Roman haben.

Dann klettern Dönicke und Nieder aus dem Regal, behaupten sie seien Carrère und Romand und fangen an den Roman auf dem Theater zu spielen. Das hat etwas Holperiges und Hölzernes. Blutleer wird zwischen Dialogfetzen und aufgesagtem epischem Text hin und her gesprungen, mal ein Satz durch ein hervorgekramtes Requisit illustriert und dann sogar ein alter Diaprojektor aufgestellt, um Bilder vom Genfer See zu zeigen. Ein Horrokabinett der missglückten Romanadaption, aus dem uns Dönicke/Carrère nach zehn Minuten erlöst, indem er konstatiert „So geht das nicht. Fangen wir noch mal von vorne an“.

Beim zweiten Anlauf klappt es. Warum? Weil sich nun Carrère (und die Inszenierung) über ihre Erzählerposition im Klaren ist. Die wahre Geschichte ist immer noch der Untergrund, aber auf dieser Folie wird ein Roman erfunden und der wird auf der Bühne gespielt. Und das funktioniert immer besser, je mehr Romand und Carrère zu einer Person fusionieren. Mal ist Dönicke der eine, dann ist es wieder Nieder, dann wechseln sie die Rollen, dann sind beide eine Person, dann muss Nieder mit blonder Perücke die Geliebte mimen. Es wird gespielt, was das Zeug hält und der Zuschauer erlebt die „wahre“ Geschichte. So wird „Amok“ auch zum Stück über das Theater und dessen paradoxe Wahrheit im Spiel.

Jan-Christoph Gockels Konzept geht nur deshalb auf, weil er zwei Schauspieler zur Verfügung hat, die sich voll in das Stück hineinwerfen. Die komisch sind, ohne die Geschichte der Lächerlichkeit preis zu geben. Die auch unter der billigen Langhaarperücke noch überzeugen können. Und die sich zuletzt auch zweimal hintereinander in umgekehrten Rollen brutal und quälend lange umbringen. „Amok“ ist gut gemachte Theaterunterhaltung und ein klug gebauter Abend für zwei großartige Schauspieler.

Termine und Tickets: Theater Oberhausen

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