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„Religionskritik eine wertvolle Errungenschaft der Aufklärung“

Kind in Afghanistan Foto: Sgt. Ken Scar (U.S. Armed Forces) Lizenz: Gemeinfrei

Zahlreiche Frauenrechtlerinnen haben sich am Internationalen Frauentag an die Spitzen von SPD; Linken und Grünen gewandt:


Offener Brief an die Parteivorsitzenden, die unsere Interessen vertreten wollen

Sehr geehrte Frau Kipping, sehr geehrte Frau Baerbock, sehr geehrte Frau Esken,

sehr geehrter Herr Riexinger, sehr geehrter Herr Habeck, sehr geehrter Herr Walter-Borjans,

wir sind Frauen, muslimisch sozialisierte Deutsche mit Migrationshintergrund, Migrantinnen sowie Geflüchtete, und appellieren nachdrücklich an Sie, an Ihre Vernunft und Ihre Solidarität, endlich unsere Interessen zu vertreten.

Sei es in unseren Herkunftsländern oder in der Bundesrepublik, sei es in unserem familiären oder sozialen Umfeld: Fortwährend müssen wir beobachten, wie sich der fundamentalistische und politische Islam unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit und des Minderheitenschutzes verbreitet. So werden kontinuierlich Menschenrechte von drei besonders verwundbaren Gruppen bedroht: Säkulare oder atheistische MigrantInnen aus sogenannten muslimischen Ländern; LGBTQI; Mädchen und Frauen, die in patriarchalen Strukturen verhaftet sind und nicht frei, selbstbestimmt und gleichberechtigt leben können.

Seit mehr als einem Jahrzehnt verfolgen hierzulande die VertreterInnen des konservativen und politischen Islams eine identitäre und kommunitaristische Politik: Mit der Aufwertung der religiösen Identität sowie dem damit einhergehenden Zwang, sich einem ethnischen Kollektiv zugehörig zu fühlen bzw. fühlen zu müssen, fördern sie eine Abspaltung von der Gesellschaft und setzen schrittweise ihre archaischen Normen in den sogenannten muslimischen Gemeinschaften durch.

Bereits seit Jahren weisen wir, säkulare Migrantinnen, unermüdlich darauf hin, dass nicht wenige muslimisch sozialisierte Mädchen und Frauen zahlreichen Diskriminierungs- und Gewaltformen ausgesetzt sind. Sie leiden unter der Nichtteilnahme an sportlichen, kulturellen und schulischen Aktivitäten, unter Früh- und Zwangsverheiratungen, sowie unter Früh- und Zwangsverschleierung und vielem mehr. Dies kommt noch zu den ausländerfeindlichen Ausgrenzungen und rassistischen Angriffen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft hinzu. Für uns rechtfertigen weder Kultur noch Tradition oder Religion geschlechtsspezifische Diskriminierungen.

Wir sind verwundert, dass Ihre Parteien, die einst unsere Interessen vertreten wollten, heute mit reaktionären und ideologischen Kräften in den Dialog treten und ihnen eine politische Bühne bieten und somit dazu beitragen, dass die religiösen und traditionellen, frauenverachtenden Moralvorstellungen, welche uns fesseln, verfestigt werden. Es kann nicht sein, dass Sie uns nicht unterstützen, wenn wir uns dafür einsetzen, dass muslimisch sozialisierte Mädchen und Frauen dieselben Rechte wie ihre nicht-muslimischen Mitbürgerinnen erhalten. Noch unfassbarer ist für uns, wenn viele aus Ihren Reihen die Frühsexualisierung und Objektifizierung von Mädchen und Frauen aus falsch verstandener Toleranz zulassen.

Müssen wir Sie daran erinnern, dass Frauenrechte universal, unteilbar und unverhandelbar sind? Sie gelten für alle – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Konfession oder Kultur.

Die Rechte von Mädchen und Frauen aus den sogenannten muslimischen Gemeinschaften und Familien dürfen weder hier in der Bundesrepublik noch woanders auf dem Globus ignoriert werden. Mädchen und Frauen können nur dann mündige Bürgerinnen werden, wenn sie die Chance erhalten, kritisch zu denken und ihre Lebensrealität dadurch zu hinterfragen.

Dafür müssen sie zunächst offen über ihre Erfahrungen sprechen und diese reflektieren dürfen. Aktuell wird uns – säkularen und atheistischen, muslimisch geprägten Frauen – dieser Prozess auch von Teilen Ihrer Parteien verwehrt. Nicht selten wird uns „antimuslimischer Rassismus“, „Islamophobie“ oder „rechte Hetze“ vorgeworfen. Diese Rhetorik ähnelt sehr der der Islamisten. Sie wird als Knebel verwendet, um die Diskussion und die Kritik an chauvinistischen Unterdrückungsmechanismen zu verhindern. Religionskritik wird als Rassismus denunziert. Müssen wir Sie daran erinnern, dass Religionskritik eine wertvolle Errungenschaft der Aufklärung ist, die dazu beigetragen hat, dass Frauen und Männer sich von jeglichem Dogmatismus emanzipieren konnten, um eine moderne und humanistische Gesellschaft aufzubauen?

Unsere Ziele sind

– die Einstellung aller Kooperationen mit politisch-religiösen und nationalistischen Akteuren,

– die Einstellung aller finanzieller Förderungen für islamistische Verbände und Vereine,

– der Schutz aller Kinder vor sexistischer Indoktrinierung und vor religiösem Mobbing,

– eine kritische Auseinandersetzung mit allen Religionen sowie die aktive Förderung des Säkularismus.

Konkret fordern wir von den angesprochenen Parteien und von allen AkteurInnen der Zivilgesellschaft, Religion grundsätzlich als Privatsache zu behandeln und Religionsfreiheit – d.h. eine Religion auch ablegen sowie frei von Religion leben zu dürfen – als Grundrecht auf alle Kinder zu beziehen. Weiterhin fordern wir das Verbot aller vermeintlich religiösen, geschlechtsspezifischen Kleidungsvorschriften wie Kinderkopftuch und Vollverschleierung. Zuletzt muss ein Konzept für einen bundesweiten, verpflichtenden Ethikunterricht für alle SchülerInnen ausgearbeitet werden, unabhängig von der Konfession der Eltern. Denn nur so können die Gleichheit aller BürgerInnen sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden.

Dem Rassismusvorwurf gegen säkulare und atheistische MigrantInnen muss Einhalt geboten werden!

Mit säkularen Grüßen

1.    Aghdas Shabani, Sozialarbeiterin, Hannover

2.    Ameneh Bamedi, Frauenrechtlerin, Stuttgart

3.    Dalile Sarhangi , Frauenrechtlerin, Essen

4.    Farsaneh Parizadehgan, Frauenrechtlerin,Stuttgart

5.    Fariba Cheraghloo, Frauenrechtlerin, Dortmund

6.    Fariba Farnousch, Heilpraktikerin, Bonn

7.    Farrokh Ashrafi, Frauenrechtlerin, Essen

8.    Fatma Keser, Studentin, Offenbach am Main

9.    Fateme Tadjdini, Krankenschwester und Mediatorin, Köln

10.  Hamideh Kazemi, iranische Menschenrechtsinitiative, Hamburg

11.  Hamila Vasiri, Mitarbeiterin 2. Autonomes Frauenhaus, Köln

12.  Hellen Vaziri, Informatikerin,  Köln

13.  Hourvash Pourkian, Vorsitzende des Vereins Kulturbrücke e. V., Hamburg

14.  Jale Borji, Frauenrechtlerin, Dortmund

15.  Khatereh Karimi, Pädagogin, Mönchengladbach

16.  Mahbube Peukert, Frauenrechtlerin, Dortmund

17.  Mahshid Pegahi, Frauenrechtlerin, Langen (Hessen)

18.  Maryam Alizadeh, Frauenrechtlerin, Essen

19.  Maryam Mousavi, Krankenschwester, Hamburg

20.  Mina Porkar, Architektin, Hamburg

21.  Mitra Fazeli, Informatikerin, Dortmund

22.  Manijeh Erfani-Far, Frauenrechtlerin, Frankfurt am Main

23.  Manijeh Zahedian, Frauenrechtlerin, Dortmund

24.  Mona Eslami, Angestellte, Müllheim am Main

25.  Monireh Kazemi, Frauenrechtlerin, Frankfurt am Main

26.  Naila Chikhi, unabhängige Referentin, Berlin

27.  Nassrin Amirsadeghi, Exiliranerin, DaF – und DaZ-Dozentin, Berlin

28.  Niloofar Beyzaie, Theaterautorin und -regisseurin, Frankfurt am Main

29.  Nosrat Feld, Psychotherapeutin, Hamburg

30.  Pouran Amiry, Frauenrechtlerin, Essen

31.  Rezvan, Moghaddam, Frauenrechtlerin, Berlin

32.  Shaghayegh Kamali, Frauenrechtlerin, Berlin

33.  Shahla Karim Manesh, Frauenrechtlerin, Essen

34.  Shamla Sarabi, Frauenrechtlerin, Essen

35.  Sima Asgari, Frauenrechtlerin, Essen

36.  Turan Nazemi, Menschenrechtlerin, Frankfurt am Main

37.  Vajiheh Monadi, Frauenrechtlerin, Essen

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Paula Möllers
Paula Möllers
4 Jahre zuvor

Als Deutschlehrerin in Integrationskursen machte ich auch entsprechende Erfahrungen, jede Diskussion um Benachteiligungen von Frauen, die schon im allgemeinen Unterrichtsgeschehen auffielen, bis hin unterdrückerischer Behandlung von Frauen und Anders- oder Nichtgläubigen wurde totgeschwiegen. Wer sich äußerte, wurde auch schon mal als rückwärtsgewandt (!) bezeichnet. Als ich in einer Dienstbesprechung meinem Ärger Luft machte, stimmten mir im Anschluss Angestellte und Kollegen des Bildungsträgers zu – einige hatten einen muslimisch-arabischen Hintergrund, es waren auch ein orientalischer Christ und eine iranischstämmige atheistische Kollegin dabei.

Gerald Schwetlik
Gerald Schwetlik
4 Jahre zuvor

Dazu kann man nur immer wieder den Text des Islamwissenschaftlers Ralph Ghadban in Erinnerung rufen. Ein absoluter Fachmann auf dem Gebiet und nicht die Orgelpfeife irgendeines Verbandes oder einer politischen Vereinigung.
https://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/50370.pdf
Das letzte Mal, als ich den aufgerufen habe, war der noch auf den Servern der Bundesregierung. Da finde ich den nicht mehr. Das Wegschauen hat eine klare Systematik.
Der Text ist übrigens fast 20 Jahre alt, die Herrschaften können nicht behaupten, sie hätten das alles nicht gewusst.

paule t.
paule t.
4 Jahre zuvor

Hmmja, im Namen der Religionsfreiheit fordern wir dieses Verbot und jenes, nee klar. Alte Leier.
Könnten die Leute sich nicht zumindest ehrlich machen und sagen: "Zum Schutz anderer wichtiger Rechtsgüter, nämlich … (?), fordern wir diese und jene Einschränkungen der Religionsfreiheit"? Dann könnte man sachlich diskutieren, ob die Abwägung zwischen Religionsfreiheit und den zu nennenden Rechtsgütern die gewünschten Verbote hergibt.
Bei den explizit genannten Verbotswünschen "Kopftuch bei Kindern" und "Vollverschleierung" (da nicht anders genannt, wohl immer und überall) sehe ich das zwar nicht (hatten wir ja schon in der Diskussion zu diversen Artikeln), aber man könnte dann zumindest diskutieren. Aber Verbote religiöser Ausdrucksformen ausgerechnet mit Religionsfreiheit zu begründen, ist nun mal schlicht Unsinn.

Mehrere der Aussagen sind auch reinste Strohmann-Argumente; denn – als Beispiele – muslimische Frauen und Mädchen haben selbstverständlich dieselben Rechte wie nichtmuslimische, und Religionsfreiheit, auch die negative Religionsfreiheit, gilt selbstverständlich für muslimische Kinder im genau gleichen Rahmen wie für andere Kinder (mit eben den für alle gleich geltenden Altersgrenzen, ab wann Kinder religionsmündig werden).

Und dass "uns – säkularen und atheistischen, muslimisch geprägten Frauen – dieser Prozess auch von Teilen Ihrer Parteien verwehrt" würde, nämlich "offen über ihre Erfahrungen sprechen und diese reflektieren [zu] dürfen", ist ja nun Unsinn. Auch dieses Recht besteht völlig eindeutig, ohne dass irgendein relevanter Politiker das in Frage stellen würde. Dieser offene Brief wäre ja sonst nicht möglich. Nur muss man bei entsprechenden öffentlichen Äußerungen eben auch mit Gegenmeinungen leben.

Es ist sicherlich so, dass diese bestehenden Rechte durch manche Familien oder andere Bezugspersonen eingeschränkt werden. Dafür brauchen die Menschen, denen das passiert, dann die volle Unterstützung des Staates und der Gesellschaft, sei es durch konkrete Hilfen für die Einzelpersonen, im Extremfall durch Strafverfolgung, vor allem aber durch Aufklärung und Prävention. Dafür müsste man aber konkrete Vorschläge machen, die auch einer grundrechtlichen Abwägung standhalten, und nicht eine allgemein "islamkritische" Agenda verfolgen, die sich der grundgesetzlich zur Neutralität verpflichtete Staat nun mal nicht zu eigen machen kann.

Was den Dialog und die Kooperation mit bestimmten Verbänden angeht: Bei konkreten Verbänden kann man sicherlich diskutieren, ob das mit ihnen möglich ist oder wegen problematischer Tendenzen (etwa der Nichtachtung von Grundrechten) unterlassen werden müsste. Zunächst aber gilt ganz einfach: Der Staat redet und kooperiert mit den Verbänden, die da sind, und zwar je nach ihrer konkreten Bedeutung. Wie bedeutsam nun konservative Islamverbände sind oder liberale oder auch dezidiert nicht-religiöse Verbände, hängt zu einem wesentlichen Teil an der Zahl der Mitglieder, die sie vertreten.

————————————————-

@#1, Paula Möllers:

Geschätzte Kollegin (ich erlaube mir, Sie so anzureden, auch wenn ich im Moment gerade keine Integrationskurse, sondern allgemeine Deutschkurse unterrichte), wenn in Integrationskursen "jede Diskussion um Benachteiligungen von Frauen, die schon im allgemeinen Unterrichtsgeschehen auffielen, bis hin unterdrückerischer Behandlung von Frauen und Anders- oder Nichtgläubigen […] totgeschwiegen" wird, ist das empörend, und die entsprechenden Lehrkräfte kommen ihren Aufgaben nicht nach. Selbstverständlich dürfen in keinem Kurs Frauen oder Andersgläubige benachteiligt werden, und es ist Aufgabe der Lehrkräfte, das sicherzustellen. Ich habe derlei aber in meinen Kursen auch noch nicht erlebt. Ebenso gehören die Gleichberechtigung von Frauen, LGBTI-Rechte und Religionsfreiheit ja nun bekanntermaßen zum Unterrichtsinhalt, der behandelt werden muss – diese Dinge nicht zu behandeln, wäre also ebenfalls ein Pflichtversäumnis.

Allerdings haben wir da vielleicht auch verschiedene Vorstellungen. Ich vertrete zwar im Unterricht selbstverständlich die genannten Freiheitswerte des Grundgesetzes und auch die Gleichstellung von Frauen – aber wenn ich mitbekomme, dass Teilnehmer*innen in ihren Familien eine konservative Rollenverteilung pflegen, muss mir das nicht gefallen (tut es auch nicht), aber es ist nun mal wiederum deren gutes Recht. Würde ich gegen solche persönlichen Lebensentwürfe Stellung beziehen, würde ich meine Rolle überschreiten.
In dieser hinsicht konservative Werte vertreten übrigens keineswegs nur viele Muslim*innen, sondern auch viele Migrant*innen aus ganz anderen Kulturkreisen.

Negative Äußerungen über Nicht- oder Andersgläubige habe ich übrigens auch nur ganz selten erlebt – und zwar in der Tat einmal vonseiten einer Muslimin gegenüber religionskritischen Ideen, einmal aber auch ausdrücklich antimuslimisch. Unschöne Ausgewogenheit also auch da.

Berthold Grabe
Berthold Grabe
4 Jahre zuvor

Verschleierung als Ausdruck religiöser Zughörigkeit steht im Widerspruch zum freiheitlichen und vor allem säkularen Rechtsstaat. Nicht Umsonst ist das verpflichtende Tragen von Kopfbedeckungen für Frauen im Abendland aufgegeben worden!
Das noch bis weit indie 50ziger Jahre hinein in großen Teilen der Bevölkerung bestand hatte.
Hier konkurriert das religiöse Interesse mit dem freiheitliche Rechtsstaat!
Letztlich wäre das belanglos, wenn die Rechtsfiktion der Selbstbestimmung immer und überall durchsetzbar wäre.
Die Tatsache ist, das dies grundsätzlich nicht gewährleistet werden kann. Womit sich die Frage des wichtigeren übergeordneten Interesses stellt, nämlich der nach der Garantie der freien Entscheidung im Konflikt mit freiwilliger religiöser Bedeckung.
Es ist also nur die Frage, welcher Freiheitsbeschränkung der Vorzug eingeräumt wird. Dem nicht sichtbaren aber unbestreitbaren massenhaften Zwang oder der sichtbaren Religionsfreiheit.
Beider Abwägung der Rechtsgüter kann objektiv die Entscheidung eigentlich nur eindeutig zu Lasten jeder Verschleierung fallen.
Denn während der Verschleierungszwang massiv repressive Wirkung entfaltet, gilt dies bezogen auf die für die Lebensführung wichtigen Eigenschaften für das Recht auf das freiwillige Tragen des Kopftuches eben nicht. Es ist nicht mit grundrechtsrelevanten Nachteilen verbunden sondern lediglich mit Äußerlichen.
Deshalb ist nach meiner Auffassung eine Verschleierungsverbot mit höherer Priorität zu betrachten als das Selbstbestimmungsrecht aufgrund von Religion oder Persönlichkeit.
Allein schon aus Solidarität und zur Bekämpfung des Missbrauchs.
Es kann nicht sein, das der Religionsfreiheit eine höherer Stellenwert eingeräumt wird, als den Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates.
Das wäre ein Verfassungsparadoxon der Unvereinbarkeit

paule t.
paule t.
4 Jahre zuvor

@#4 Berthold Grabe, Zitat:
"Verschleierung als Ausdruck religiöser Zughörigkeit steht im Widerspruch zum freiheitlichen und vor allem säkularen Rechtsstaat."

Das ist nett dahinbehauptet, aber Unsinn. Im Gegenteil ist gerade der Schutz der Religionsfreiheit eine Aufgabe des freiheitlichen Staates; und zu dieser Religionsfreiheit gehört eben genauso wie die negative Religionsfreiheit (die Freiheit, sich nicht an Religion zu beteiligen), die Sie betonen, auch die positive Religionsfreiheit (die Freiheit, eine Religion zu haben). Zu letzterer gehört selbstverständlich auch das Recht zur Ausübung der Religion (vgl. GG Art. 4,1.2) und dazu wiederum das Recht, sich auch durch äußere Zeichen zur Zugehörigkeit zu einer Religion zu bekennen.

Eingeschränkt wird dieses Recht nur dann, wenn durch seine Ausübung konkret Grundrechte anderer eingeschränkt werden. Das "konkret" ist wichtig, denn ihre Argumentation für ein Verbot zeigt eine konkrete Gefährdung der Grundrechte anderer durch das Tragen einer Verschleierung eben nicht auf (bzw. versucht es nicht einmal), Zitat:

"Letztlich wäre das belanglos, wenn die Rechtsfiktion der Selbstbestimmung immer und überall durchsetzbar wäre.
Die Tatsache ist, das dies grundsätzlich nicht gewährleistet werden kann. Womit sich die Frage des wichtigeren übergeordneten Interesses stellt, nämlich der nach der Garantie der freien Entscheidung im Konflikt mit freiwilliger religiöser Bedeckung."

Diese Argumentation ist ja sinngemäß: Weil manche Frauen zum Tragen einer Verschleierung gezwungen werden und dieser Zwang eine Verletzung der Rechte dieser Frauen ist, darf der Staat Verschleierung grundsätzlich verbieten.
Das ist aber Unsinn. Religionsfreiheit heißt für diese Diskussion, dass jede Person selbst entscheiden darf, ob sie sich durch äußerliche Zeichen zu einer Religion bekennen will oder nicht. Beides ist gleichrangig, keines von beidem ist ein dem anderen "übergeordnetes Interesse".

Für den Staat heißt das hauptsächlich: Er darf solche Zeichen im Allgemeinen weder verbieten noch vorschreiben (außer vielleicht für spezielle Situationen oder spezifische Zeichen mit jeweils gesonderter Begründung).
Und zweitens muss er seine Bürger*innen vor Rechtsverstößen, hier vor der Einschränkung ihrer Religionsfreiheit durch andere, schützen. Das kann er tun durch Strafverfolgung (z.B. von Nötigung u.ä.); durch Maßnahmen zur sozialen und sonstigen Absicherung von Frauen, die sich solchem Zwang entziehen; durch Beratung, Aufklärung und Bildung; vielleicht gibt es noch mehr sinnvolle Maßnahmen.

Was der Staat aber nicht darf, ist, – wie Sie sich das wünschen – beliebig die Freiheitsrechte der einen gegen die der anderen ausspielen und eine Sache allen verbieten, weil manche dazu gezwungen werden. Mit dieser "Begründung" könnte man auch das Heiraten verbieten, weil es Zwangsehen gibt; Musikschulen verbieten, weil es Eltern gibt, die ihr Kind zum Erlernen eines Instruments zwingen; den Genuss von Alkohol verbieten, weil es Gruppen gibt, in denen erheblicher sozialer Druck dazu ausgeübt wird; usw.
Ich hoffe, die Absurdität dieses "Begründungsweise" wird deutlich.

Helmut Junge
4 Jahre zuvor

@Paule t. "Religionsfreiheit heißt für diese Diskussion, dass jede Person selbst entscheiden darf, ob sie sich durch äußerliche Zeichen zu einer Religion bekennen will oder nicht. "
Dieser Satz ist logisch fehlerhaft.
Denn, wenn das so klar wäre, wie Sie es formulieren, gäbe es keine Diskussion.
Es gibt sie aber, und zwar hammerhart, und Sie @Paule t. beteiligen sich seit mindestens 5 Jahren daran. Und zwar absolut meinungsstabil.
Ok, vielleicht ist es aus Ihrer Sicht auch keine Diskussion, sondern ein Meinungsumdieohrenhauen. Aber immerhin, Sie beteiligen sich so, als wäre es eine Diskussion

Romy Czyborra
4 Jahre zuvor

Mindestens 10% dieses wichtigen Debattenbeitrags würde ich zwar diametral als zu religiös widersprechen, aber ich weise hier gerne darauf hin, dass sich diesen Freitag, den 13-ten März 2020 um 16 Uhr im Berliner Kurt-Schumacher-Haus der Arbeitskreis "Säkuläre und Humanistische Sozialdemokrat:inn:en in Berlin" gründen will und Euch herzlich einlädt: https://spd.berlin/termin/gruendung-des-arbeitskreises-saekulare-und-humanistische-sozialdemokratinnen-berlin/

paule t.
paule t.
4 Jahre zuvor

@Helmut Junge, #6:

Ja nun, gut, offensichtlich haben in dieser Diskussion andere Leute eine andere Auffassung davon, was Religion "für diese Diskussion" zu heißen habe, als ich. Allerdings kann ich (und habe es oben getan) meine Auffassung aus dem GG herleiten und aus der auch sonst (In Menschenrechtsdeklarationen etc.pp.) üblichen Definition von Religionsfreiheit, bei der ihre beiden Seiten (positive und negative Religionsfreiheit) gleichrangig gelten und nach der diese Freiheit genau (!) dann ihre Grenze findet, wenn durch ihre Ausübung die Rechte anderer konkret (!) gefährdet sind.

Die Gleichrangigkeit von positiver und negativer Religionsfreiheit ist mE weitgehender juristischer Konsens (Gegenbelege wären willkommen), und wenn eine Frau Kopftuch trägt, schränkt das keine Rechte einer anderen Person konkret ein.

Vielleicht könnte die Gegenposition ihre Meinung ja mal ebenso klar herleiten. Sowohl der Ausgangsbeitrag als auch #4 tun das aber nicht, sondern schweben lediglich in allgemeinen Gefährdungen (unbestritten: Es gibt Frauen, die zum Kopftuch gezwungen werden), statt konkret zu zeigen, inwiefern es konkret die Rechte einer anderen Person einschränkt, wenn eine Frau Kopftuch trägt (und das wäre für ein Verbot nun mal nötig). Ebenso zeigen sie nicht, warum die negative Religionsfreiheit dazu, kein Kopftuch zutragen, schwerer wiegen sollte als die positive, es eben doch zu tun.

Insofern: Ohne bessere Begründung der Gegenposition bleibe ich bei meiner Position. Dass vielen Leuten eine saubere Begründung einer solchen Forderung eher wurscht ist, ist leider so.

paule t.
paule t.
4 Jahre zuvor

Nebenbemerkung: Bei solchen offenen Briefen ist es ja recht häufig so, dass sie ihre Unterschriften nicht ausschließlich durch persönliche Kontakte bekommen, sondern im Zusammenhang mit Institutionen wie einem Verein o.Ä. Wenn das hier der Fall sein sollte, fände ich es erfreulich, das offen zu legen.

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