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Über das Wünschen

wuenschen

Vor nunmehr fast fünf Wochen habe ich im Kulturteil der Dortmunder Ruhr Nachrichten eine Kolumne veröffentlicht, in der ich – augenzwinkernd, aber doch bestimmt – auf eine Verflechtung von Marktinteressen und öffentlicher Hand hingewiesen habe. Die Protagonisten dieser Verflechtung waren eine Biene namens Emma, der Chemiekonzern Evonik und das Familienbüro der Stadt Dortmund – obwohl sie genauso gut Bobby Bolzer, Netto und Stadt Bochum oder Erwin, Gazprom und Stadt Gelsenkirchen hätten heißen können. Von unserem Gastautor  Alexander Kerlin.

Emma, Bobby Bolzer und Erwin sind die KidsClub-Maskottchen der örtlichen Fußballvereine. In allen drei Städten (und sicherlich auch in anderen Fußballstädten der Republik) bekommen Säuglinge in einem Begrüßungsbrief von der Stadt ein kleines Gastgeschenk angeboten, das sie auf Erden willkommen heißt: Schnuller, Lätzchen und Rasselball – in den jeweiligen Vereinsfarben, flankiert von einem „persönlichen“ Brief des Maskottchens samt dickem Logo des Hauptsponsors. Meine schlichte Diagnose in der Kolumne: Ein Brief von der Stadt, in dem es um bürokratische Vorgänge, ein paar nette Worte und Hilfsangebote für frischgebackene Eltern geht, hat werbefrei zu sein – und die Stadt hat den Namen meiner Tochter nicht an Dritte weiterzugeben. Wie um Himmels Willen kommen die Verantwortlichen darauf, dass das eine gute Idee sei?

Auf die Glosse folgte ein kleiner aber unangenehmer Shitstorm im Netz. Die Ruhr Nachrichten legten mit einem kurzen Interview nach, in dem ich mich noch einmal positionieren durfte. Anfragen von WDR 3 Mosaik und WAZ, weiter öffentlich über das Thema zu sprechen lehnte ich dann aber ab – in erster Linie mit Rücksicht auf meine Familie, da es im Zuge des Shitstorms Gewaltandrohungen nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Kinder gegeben hatte.

Als am vergangenen Wochenende die WAZ trotzdem überregional und im Mantelteil ausführlich aus meiner Kolumne zitierte und es das Thema sogar bis auf den Titel der Samstagsausgabe geschafft hatte, sah ich eigentlich nur noch eine mediale Blase auf dem Höhepunkt – und mein Anliegen zwar nicht völlig, aber doch in einem entscheidenden Detail missverstanden: Die Bienenpost ist für mich nur insofern von Interesse, als sie pars pro toto für einen weiter reichenden gesellschaftlichen Zusammenhang herangezogen werden kann.

Doch noch mal etwas genauer: Die Anfrage von WDR 3 Mosaik habe ich nicht sofort abgelehnt, sondern den zuständigen Redakteur darum gebeten, den Schwerpunkt der Diskussion vom Vereinsfußball weg, hin zum Thema „Kinder als Objekt von Werbestrategien“ zu verlagern. Meine Hoffnung war, mit dem Redakteur über Marketing und Wunschproduktion ins Gespräch zu kommen, über Fragen nach Freiheit und Programmierung des Bewusstseins, also über relevante Fragen. Vielleicht auch über die These, dass der Markt den Kleinsten eine Schonfrist einräumen müsste – im Bewusstsein, wie hoffnungslos naiv eine solche Forderung wäre; aber vielleicht gilt für Forderungen ja dasselbe wie für Fragen: die naivsten sind die besten.

Die Marketingangriffe der KidsClub-Maskottchen (vor denen man auch an anderen Orten nicht sicher ist, z.B. im Zoo, in den örtlichen KiTas und Grundschulen, auf Kindergeburtstagen) stehen ja nur beispielhaft für wirkliche Schweinereien, wie z.B. „Happy Donazz & Co“ (neu in der Dortmunder Shopping-Mall Thier-Galerie), die mit ihren pinken Plakaten, von denen uns glückliche schokoverschmierte Kindergesichter anlächeln, schon den Allerkleinsten einen unstillbaren Wunsch nach purem Zucker implementieren wollen – um nur ein Beispiel unter tausenden zu nennen. (An vielen Krankenhäusern tragen freudestrahlende und vom Geburtsvorgang noch völlig verstörte Eltern, wenn sie mit ihrem Säugling unter dem einen Arm aus dem Kreissaal treten, bereits ein Geschenk-Paket mit Alete-Produkten, Penaten-Crème, NUK-Fläschchen und Rabatt-Gutscheinen für Baby-Fachmärkte unter dem anderen Arm). Zurück zum WDR: Der etwas geknickte Redakteur meldete sich am folgenden Tag bei mir mit der Nachricht, dass die Mosaik-Redaktion unter meinen Bedingungen nicht mehr an einem Gespräch interessiert sei.

Aber von vorn: Worum geht es hier eigentlich? Und welche Rolle spielt in dem Gedankengang die öffentliche Hand? Gilles Deleuze, der französische Philosoph, hat in einem Interview einmal deutlich gemacht, das es einen Wunsch im Singular überhaupt nicht gibt. Wünsche kommen in Trauben, Ensembles, Schichten. Sie sind wiederum an andere Wünsche geknüpft und sind in sich facettenreich und an Bilder und Gefühle gekoppelt. Ein Beispiel: Wenn eine junge Frau von einem bestimmten weißen Kleid träumt, denn meint sie eigentlich: Ein Sonnenstrahl, der sich in einem Schaufenster bricht, ein beschwingter Schritt über das Großstadtpflaster, türkiser Himmel, ein lauwarmer Windstoß, der sich im Stoff des Kleides verfängt, ein begehrender Blick, ein elegant zurückgeworfener Kopf und ein Lächeln. Ein Ensemble von Gefühlen und Bildern eben. Wenn jemand anderes an nichts anderes denken kann als an seine neue Kreissäge mit sieben Geschwindigkeitsstufen, dann sieht er vielleicht ein stoppelbärtiges Männergesicht mit markanten Sägespanspuren, ein paar Kratzer auf der Handfläche und ein wuchtiges selbstgezimmertes Gartenhäuschen unter Schäfchenwolken. Und: einen bewundernden Blick.

Ist Wünschen nun eine Fähigkeit unter anderen? Eine besondere Gefahr? Ein Geschenk? Eine Last? Eine Notwendigkeit? All das? Von Anfang an ist das Wünschen da, und es sucht sich Objekte. Je mehr Erfahrungen wir machen, desto differenzierter werden die Wünsche, und desto unzugänglicher die genaue Beschaffenheit der Wunschensembles, ihr „Duft“. Es ist verteufelt schwer, gerade das selbstverständlich Gewordene, das Vertraute, das Bekannte überhaupt als das wahrzunehmen: was es ist: gemacht, hergestellt, entwickelt, künstlich erschaffen, eingepflanzt, in keiner Weise „natürlich“. Zumindest wird es auf Anhieb kaum zu erkennen sein, welcher der vielen Aspekte eines Wunschensembles nun „natürlich“ oder „ursprünglich“ wäre, und welcher nicht.

An unseren Wunschensembles wird von allen Seiten, die fast nie interesselos sind, beständig mitgebastelt. Das Hollywood-Kino etwa, so die berühmte These von Slavoj Žižek, bildet keineswegs unsere Sehnsüchte ab, sondern lehrt uns vielmehr, wie und was wir zu begehren haben (bestimmte Liebesmodelle, Einkommensmodelle, Wohnmodelle, Rollenbilder). Die Werbeindustrie produziert Lebensgefühle, die sie so geschickt mit bestimmten Produkten verknüpft, dass uns gar nicht mehr auffällt warum wir beim Anblick eines Bauernhauses im Grünen plötzlich den drängenden Wunsch nach Männerfreundschaft, Steinofenbrot und Landleberwurst verspüren. Moralvorstellungen und Gesetze, seien sie religiös motiviert oder nicht, schaffen uneinholbare Ideale und regulieren unser Verhalten über Gefühle wie Scham und Schuld.

Wer meint, in diesem Wirrwarr aus Bildern, Gefühlen, Produkten, Angeboten, Idealen, Idolen und verworrenen Sehnsüchten an der Grenze zum Unbewussten auch nur ansatzweise einen spontanen Zugriff auf so etwas wie einen freien Willen zu haben, der ist schon … verloren. Mag sein, dass er oder sie halbwegs zufrieden durchs Leben schlafwandelt – frei wird er/sie nicht werden. (Wer einen Beweis dafür sucht, sehe sich noch mal George A. Romeros „Zombies im Kaufhaus“ an und verbringe direkt im Anschluss einen Samstagnachmittag in einer Shoppingmall. Da wird der Zusammenhang sinnlich erfahrbar.)

Wunschensemble ist nicht gleich Wunschensemble. Was wir wünschen, und wie und ob es sich erfüllen lässt, bestimmt unser Verhalten, unser Glück, unseren Kontostand, unsere Freundschaften, unser Zusammenleben. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, unsere Freiheit wäre erst mit den NSA-Lauschangriffen in Gefahr geraten. Freiheit war immer schon prekäres Gut.

Der Terror der Bilder und Slogans in den Innenstädten, die Beschriftung der Welt, die Leuchtreklamen, Litfasssäulen, Plakatwände – wir lesen bei unseren täglichen Gängen und Fahrten durch die Stadt ganze Romane, den guten Teil davon ohne jedes Bewusstsein. Das ist auch der Grund, warum das Argument „na, dann kauf halt diese bescheuerten Doughnuts nicht“ nur bedingt greift: Die Bilder und Slogans nisten sich wie Parasiten ein, sie werden Teil unserer Wunschensembles, ohne sich offen erkennen zu geben. Sie lehren uns, was wir überhaupt wollen und wie wir uns danach verhalten – kurz, sie lehren uns wer wir sind. Das gilt auch und insbesondere für Kinder, die in den ersten Jahren ganz besonders leicht zu programmieren sind: Hochspezialisierte Psychologen entwickeln unverhohlen die besten Strategien, um Kleinkinder zum ständigen Quengeln um bestimmte Produkte zu bringen. Märkte sind nicht einfach vor dem Produkt da. Produkte erzwingen vielmehr die Schaffung von Märkten.

Wer ein Produkt zu verkaufen hat, möchte nicht nur in den Straßen präsent sein, er möchte seine Botschaft verständlicher Weise auch in den privaten Raum hineintragen. In meine Wohnung, mein Haus: Die Kanäle, über die der Zugriff organisiert wird, sind wohlbekannt: Fernsehen, Radio, Internet, Zeitungen, Werbebroschüren. Das ist, innerhalb der Logik des gesellschaftlichen Systems, in dem wir derzeit leben, in Ordnung. Es ist bekannt und anerkannt. Um aber überhaupt die Möglichkeit zu haben, zu erkennen, dass es sich dabei um einen permanenten interessegeleiteten Zugriffsversuch auf mein Bewusstsein handelt, muss sich die Gesellschaft einen symbolischen Ort offen halten, der sich diesen Zugriffsversuchen konsequent verweigert.

Ich gebe ein Beispiel aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Im Tatort wird immer noch jede Zigarette aus einer Schachtel mit Phantasiemarke gezogen – entlang der Richtlinien des deutschen Rundfunkstaatsvertrages werden Markenlogos meist abgeklebt und verfremdet. Das verfremdete Logo zeigt die Verstopfung des Werbekanals selbst an. Wir brauchen heute vielleicht mehr denn je solche Orte, die die Verweigerung symbolisch ins Bild bringen bzw. die sich überhaupt verweigern. Das von dort aus katalysierte Erkennen ist der erste notwendige Schritt zur Kritik der eigenen Wunschensembles – hin zu einem besseren weil autonomeren Leben. Deshalb ist es ein verteidigenswertes Gut, dass ein Brief vom Familienbüro, eine Grundschule oder eine KiTa kein Kanal für Werbung von Gazprom, Netto oder Evonik sein darf – auch oder vielleicht gerade, wenn die Maskottchen mit den Kindern „gute Dinge“ tun (Vorlesestunden, Vitamin-Kochkurse).

Wünschen, wirklich wünschen, autonom und frei wünschen: Das ist Arbeit. Es erfordert Kontemplation, Zeit und ausufernde Gespräche ohne Zeitdruck und Werbeunterbrechung (ein fürwahr rares Gut). Es braucht Literatur, Theater, Kunst, Kino, Philosophie, Musik, Reisen und die Freude am Fragen, um Duftnote und Ethik meiner Wunschensembles zu verbessern. Und es benötigt die öffentliche Hand, die existierende Räume für ein solches Fragen, das immer wieder bei Null anfängt, bedingungslos schützt. Das ist ein ganz anderer Luxus als der bloße materielle, aber es ist ein Luxus, für den wir streiten müssen.

Alexander Kerlin ist Autor und Dramaturg am Schauspiel Dortmund, wo derzeit seine Remix-Stücke „Das Goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ und „Das phantastische Leben der Margot Maria Rakete“ zu sehen sind. Für die Ruhr Nachrichten schreibt er regelmäßig die Kolumne „Sterntagebuch“, für die er aktuelle Themen aus der Stadtgesellschaft und dem Theater aufgreift.

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christian
christian
10 Jahre zuvor

Sehr schöner Text voller kluger Gedanken. Der beschriebene Shitstorm auf diese Gedanken ist vermutlich auch gleich Beleg für die These, dass alle Wünsche aus Ensembles bestehen. Und wer für den neu geborenen Knaben gleich Post vom BVB bekommt, hofft vielleicht auf eine fussballerisch erspielte Villa vom späteren Profi – oder so. Auf der weiterführenden Schule meines Sohnes MUSSTEN am Einführungstag der 5. Klasse alle Kinder zu Heja BVB auf die Bühne kommen, wo Emma wartete und sie dann Richtung Klassenraum geleitete. Ich mag den BVB, aber das ließ keinen Widerstand zu, auch wenn Fussball einen gar nicht interessiert und wirkte fast wie Scientology oder jedenfalls ein sehr geschlossenes Denksystem. I prefer not to.

Henk
10 Jahre zuvor

Danke für den tollen ausführlichen Beitrag zur selbst angestoßenen und absolut notwendigen Debatte! Als ich zum ersten mal von Ihrem ursprünglichen Text hörte, leuchtete mir die Grundidee sofort ein, und der darauf folgende Shitstorm erschien mir kleinkariert, mit einer äußerst merkwürdigen Prioritätensetzung behaftet und einfach dumm.

Dass Sie und ihre Familie für einen klugen Gedanken auch noch angefeindet und bedroht werden, ist himmelschreiend ungerecht und böse. Meine Solidarität hilft Ihnen in dieser Situation zwar nicht, trotzdem möchte ich sie Ihnen versichern.

Martin Böttger
Martin Böttger
10 Jahre zuvor

Toller Text. Danke.

Labue
Labue
10 Jahre zuvor

Total guter Text, Gedanken, die mich auch beschäftigen als Vater. Neulichs gabs im Kindergarten Singen aus einem Notenbuch, das eine Drogeriekette drucken liess – kein Geld für eigene Noten? Wofür zahle ich Steuern?

Und in Frankfurt werden Bilder von Dürer gezeigt mit Spenden einer Lebensmittelkette – die dann in ihren Filialen wirbt mit Dürer. Aber das hat ja nichts mehr mit Kindern als Zielgruppe zu tun.

Ich finde, der Staat muss abstinent sein.

Paul Gerhard Stamm
Paul Gerhard Stamm
10 Jahre zuvor

Ein wunderbarer und tiefsinniger Text. Erschreckend ist die Reaktion des WDR. Der Sender scheint auch auf Sensation aus zu sein und Nachdenklichkeit passt nicht ins Konzept. Erschreckend ist auch die Reaktion im Netz. Wo leben wir? Bleiben Sie weiter ein nachdenklicher und eigenständiger Denker. Das tut uns gut. Toll, dass wir solche klugen Köpfe bei uns am Theater haben. Viel Mut weiterhin!!

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