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Friedrich Dürrenmatt: „21 Punkte zu den Physikern“

Friedrich Dürrenmatt - Bild: Elke Wetzig (via Wikipedia)

 

Wie auch immer man die Ereignisse um die Atomreaktoren beurteilen mag, ein Drama sind sie allemal. Insofern ist es recht nützlich, sich die 21 Punkte vor Augen zu halten, die Friedrich Dürrenmatt am Ende des Dramas „Die Physiker“ zu bedenken gegeben hat.

Friedrich Dürrenmatt: „21 Punkte zu den Physikern“

  1. Ich gehe nicht von einer These, sondern von einer Geschichte aus.
  2. Geht man von einer Geschichte aus, muss sie zu Ende gedacht werden.
  3. Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmst mögliche Wendung genommen hat.
  4. Die schlimmst mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.
  5. Die Kunst des Dramatikers besteht darin, in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen.
  6. Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
  7. Der Zufall in einer dramatischen Handlung besteht darin, wann und wo wer zufällig wem begegnet.
  8. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen.
  9. Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie immer dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Ödipus) .
  10. Eine solche Geschichte ist zwar grotesk, aber nicht absurd (sinnwidrig).
  11. Sie ist paradox.
  12. Ebenso wenig wie die Logiker können die Dramatiker das Paradoxe vermeiden.
  13. Ebenso wenig wie die Logiker können die Physiker das Paradoxe vermeiden.
  14. Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.
  15. Es kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziel haben, sondern nur ihre Auswirkungen.
  16. Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.
  17. Was alle angeht, können nur alle lösen.
  18. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen ,was alle angeht, muss scheitern.
  19. Im paradoxen erscheint die Wirklichkeit.
  20. Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.
  21. Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu überwältigen.

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Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

Na, da kopiere ich doch auch gleich mal eine Liste …:

„Rhetorik und Realität

Die neun Gemeinplätze des Atomfreunds

Jahrzehnte der Atomkraft-Debatte haben die Sprache manipuliert. Die Sätze, die wir während des Moratoriums hören, sind Ablenkungsmanöver. Sie formulieren Thesen, die keine sind, und beleidigen die öffentliche Vernunft. Eine Analyse der wichtigsten Versatzstücke.

1. Deutsche Atomkraftwerke sind die sichersten der Welt

2. Absolute Sicherheit gibt es nicht

3. Risiko gehört zum Leben

4. Ein Fall wie Fukushima könnte in Deutschland nicht passieren

5. Auch wenn wir aussteigen, sind wir von Atomkraftwerken umgeben

6. Der Strom kommt nicht aus der Steckdose

7. Die Chance/das Risiko, dass es zu einem Super-Gau kommt, ist extrem unwahrscheinlich

8. Fukushima hat für uns überhaupt nichts verändert

9. Apokalyptiker! Die Menschheit hat ganz andere Sachen überlebt, sie wird auch das überleben“

Und hier die Auflösung: https://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E02AA44CC26634CBDB7322680CADEA714~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

P.S.:

„9. Apokalyptiker! Die Menschheit hat ganz andere Sachen überlebt, sie wird auch das überleben”

erinnert mich irgendwie – ich weiss nicht, was soll es bedeuten – an einen Kommentar von Stefan Laurin:

https://www.ruhrbarone.de/super-gau-in-der-endlosschleife/comment-page-1/#comment-81172

#20 | Stefan Laurin sagt am 27. März 2011 um 15:18

@All: Auch dieses Mal wird die Welt nicht untergehen. Und Japan auch nicht. Sicher? Sicher.

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

Jetzt auch noch zu Dürrenmatts 21 Punkten:

„4. Die schlimmst mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“

Der Zufall ist also laut Dürrenmatt entscheidend. Ich bezweifle, ob das auf die Fukushima-Katastrophe zutrifft:

Wieso hat man überhaupt ein AKW direkt am Meer gebaut, wo doch lange bekannt war, dass es in Japan Tsunamis gibt?

https://de.wikipedia.org/wiki/Tsunami#Die_gr.C3.B6.C3.9Ften_Tsunamis

„15. Juni 1896: Der durch das Meiji-Sanriku-Erdbeben ausgelöste Tsunami, eine Wasserwand von 23 m Höhe, überraschte Japan während religiöser Feierlichkeiten, 26.000 Menschen ertranken.“

Ich vermute, man ist bewusst das Risiko eingegangen, hat es als „Restrisiko“ deklariert. Die Katastrophe ist also kein „Zufall“, oder eine unvermeidbare „Naturkatastrophe“, sondern „menschliches Versagen“.

Gerd Herholz
13 Jahre zuvor

Hallo Werner,

in meiner (Buch-)Ausgabe der „Physiker“ ist der Punkt 21 anders formuliert zum Schluss: „oder sie gar zu bewältigen“, also nicht „überwältigen“ (Dürrenmatt, Die Physiker, Diogenes Taschenbuch 20837, Diogenes Verlag, Zürich 1985, S.93).
Gibt es die 21 Punkte tatsächlich in der Version mit „überwältigen“?
„Bewältigen“ schiene mir auch sinnvoller. Die Natur gleich „überwältigen“ statt „bewältigen“ zu wollen, wäre viel leichter als naive Illusion zu entzaubern. Der Versuch der Natur-Bewältigung dagegen gilt merkwürdigerweise nicht nur als heroisch, sondern auch als ziemlich machbar.
Bei einer oberflächlichen Recherche im Internet fand ich „überwältigen“ in einer Schülerarbeit (?) (Referat?) unter sneaker.cfg-hockenheim.de/…/physiker/theater.html. Und der Fehler wird dann weitergegeben im Netz.
Also vertrau ich lieber meinem Buch. Aber man weiß ja nie.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

Lieber Gerd Herholz,
standhalten und bewältigen scheint mir gleichwertig zu sein, während überwältigen eine Steigerung ist.
Im Zusammenhang mit Fukushima, Dürenmatt zu zitieren macht mir nur Sinn, wenn es um eine gewollte Überwältigung der Natur gehen soll.
Für mich ist das geradezu die Pointe.
Wenn nun im Originaltext bewältigen steht, macht das Zitat im genannten Zusammenhang längst nicht soviel her.
Es war übrigens über lange Zeit schick, den Anspruch zu haben, sich die Natur untertan zu machen, denken Sie nur an das Konzept der französischen Gärten, in der die Natur einem, vom Menschen entworfenen Muster zu folgen hat.
Wir erleben ja jetzt erst, daß das nicht so einfach geht, daß die Natur auf eine Weise zurückschlägt, die wir als überraschend und als unvorhersehbar einstufen.
Dann aber trifft sie uns oft hart.
Kurz und gut, Werner Jurga hat dem schweizer Dichter möglicherweise unbeabsichtigt die Ehre angetan, ihn zeitgeistmäßig an die neue Entwicklung anzupassen. Beim Theater wird das oft als Kunst eingestuft, und die Kulturseiten sind entweder voll des Lobes, oder verreißen den Ansatz.

trackback

[…] Friedrich Dürrenmatt: “21 Punkte zu den Physikern” … ruhrbarone […]

Gerd Herholz
13 Jahre zuvor

# Helmut Junge
In gewisser Weise, stimmt’s was Sie sagen, lieber Helmut Junge.
Werner hat Dürrenmatt ja auch als Denkanstoß hier eingestellt, weiterdenken müssen wir ihn selbst (aber eben vom Originaltext aus).
Andreas Lichte und Sie haben damit angefangen.

Ich finde auch, dass der Satz „Die schlimmst mögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein“ auf Fukushima eben nicht mehr zutrifft. Wenn man alle Informationen einbezogen hätte, spielte der Zufall (Erdebeben + Tsunami) zwar eine Rolle, zumindest der Technikkollaps war aber angesichts solcher „Zufälle“ durchaus möglich voraussehbar (als „Restrisiko“ billigend in Kauf genommen)und auch der „Zufall“ selbst war als nicht unmöglich voraussehbar, wurde aber lieber verdrängt(?), ignoriert (?); es wurde naiv darauf gehofft, dass er in den nächsten Jahrzehnten nicht einträte?
Dass Werner an den Text erinnert hat, ist gut: Da steckt als Diskussionsgrundlage noch viel drin.

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