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Wo warst du am 3.Oktober? Geburtstagsnachlese

Vor zwei Tagen war wieder Montagsdemo. Da denkt man nostalgisch an die großen Leipziger Montagskundgebungen von 1989, steht aber inmitten acht erregter Menschen vorm Karstadt in Recklinghausen.

Die reden engagiert über Atomkraft, Stuttgart, „Bahnvorstand Gruber“, ein Dattelner Kohlekraftwerk, Afghanistan, Vorstände und Filz, schlimme Fernsehanstalten und Busfahrten, die um 4.30 Uhr nach Berlin gehen.  Mit wechselnden Rollen und einem Ansager in Radlerhosen, die man nicht sehen möchte, jedenfalls nicht an diesem Mann. Die Veranstaltung ist großartig. Christoph Schlingensief würde weinen vor Freude.

Aber Recklinghausen ist nicht Leipzig, sondern eine zwar hübsche, aber völlig unbedeutende Stadt im Westen, im Norden des Ruhrgebiets, eine Stadt, deren Süden so aussieht wie man sich den Osten der Republik vorstellt, wenn man noch nie da war. In dem man Ostalgiefilme drehen könnte, was in manch aufgehübschter Gegend des realen Ostens heute kaum mehr möglich ist. Was ist geblieben von der DDR außer grauer Montagsdemo, grünem Ampelpfeil und Rotkäppchensekt? Die Erinnerung.

Da wäre ich bei der Frage: Wo warst du am 3.Oktober? Ich meine nicht vorgestern. Ich meine jenen Tag 1990, den wir heute noch feiern, in Recklinghausen mit einer Kranzniederlegung für die Maueropfer, man beschränkt sich hier auf das Wesentliche, der Rest der DDR und was danach kam, kommt später dran. Noch ehe Antworten eingehen, behaupte ich mal: Zum 9.November im Jahr davor fällt einem mehr ein. Ich erlebte den Beginn des Vereinigungstages auf dem Busbahnhof von Bursa/Türkei, ein Uhr Ortszeit, auf einem kleinen Fernseher sah man das Feuerwerk am Brandenburger Tor, die Leute interessierte das kaum weniger als mich. Am Abend landete ich im feiertagsverwaisten Düsseldorfer Flughafen, wartete unten im alten Bahnhof auf die S-Bahn, vielleicht vier, fünf Fahrgäste, etwas Personal. Man hört, hallig, aus dem Fußgängertunnel das harte Schnarren von Kofferrollen. Es wird lauter. Die Rheinbahner klettern aus ihren Kabinen, wenden sich rückwärts, im Tunnel erscheint: Heinz Kluncker. Sie fallen innerlich auf die Knie und lesen Messen. Ich sage: „Hallo, Heinz!“ (Für Jüngere: Heinz Kluncker, prominenter ÖTV (für noch Jüngere: was heute verdi ist)-Vorsitzender von immenser Statur (wieder für Jüngere: So wie Helmut Kohl, nur mit Power), 11 Prozent Lohnabschluss 1974.) Willkommen in der alten Bundesrepublik!

Mein plump vertraulicher Gruß war gestattet, ich hatte Kluncker kurz zuvor in der ÖTV-Bundesschule am Wannsee getroffen, an dem Festtag, der am 3.Oktober als Kirmes wiederholt wurde, am 1.Juli 1990 also. D-Day. Die D-Mark kam, die DDR war im Arsch. Da sind meine Erinnerungen vielfältiger. Vorabend, Treffen in einer Penthousewohnung in Ost-Berlin, Sonderobjekt, Eigentümerin C.B., Schriftstellerin, partei- und krenznah. Spanisch sprechend, wendefähig. Vermietete sich in selbiger Nacht an ein spanisches TV-Team, doppeltes Honorar, Angebot und Nachfrage… Auftritt eines Mannes mit Alukoffer, erkundigt sich nach Bankschaltern, die um 22 Uhr noch geöffnet sind, letzte Gelegenheit, 15 000 DDR-Mark günstig in künftiges Westgeld zu investieren. Alle außer mir sind in der SED. Ich, der Tochter der Wohnungseignerin nicht abgeneigt, unterschreibe die rückdatierte Gründungsurkunde eines Sozialvereins, als siebtes Mitglied. Solcher Vereine waren plötzlich viele in Berlin, Hauptstadt. Sie kümmerten sich nebenbei um arme Kinder und Witwen, hauptsächlich versorgten sie ungelernte Kinder der Kader mit lukrativen ABM-Stellen. BAT 2 (Ost), dafür mussten Facharbeiterinnen in den Treuhandbetrieben, die ab morgen arbeitslos sein sollten, schon lange das Arbeitsamt bescheißen. Willkommen in der neuen Bundesrepublik! Für die Unterschrift schäme ich mich heute noch.

Danach ab ins Getümmel. Freund Ingo nur knapp einer polierten Fresse entgangen, sah wohl irgendwie punkig aus. Deutsche Bank am Alex, kurz nach Mitternacht. Kollabierte DDR-Bürger hinter Glas, den frischen Hunderter noch in der Hand. Irgendein Kellerinstitut der Humboldt-Uni. Kino Babylon an der Volksbühne. Geile Party, FDJ-Fahne geklaut, habe ich heute noch, und eine Trabi-Anrechtskarte. Das war der strukturelle Nachteil der DDR etwa gegenüber dem Christentum. Das Paradies kannst du dir bis an dein Lebensende ausmalen, der Trabi stand nach neun Jahren vor der Tür. Und im Westfernsehen holte derweilen Rainer Günzler den neuen BMW 318 aus der Kältekammer. Später ins Tacheles, zum letzten Mal eine Club-Cola mit DDR-Mark bezahlt. Abends auf dem Weg zur ÖTV-Schule (Heinz Kluncker…) vom Taxifahrer im Westen fast rausgeschmissen: „Alles Bonzen in der Gewerkschaft!“

Die DDR war mir immer wunderlich. Je näher ich sie kennen lernte, desto wunderlicher wurde sie mir.

Dienstag, 13 Uhr. Große Wachablösung, Alte Wache, Unter den Linden, Tschingderassassa und Stechschritt. Feixende und grölende Schülergruppe aus dem Ruhrgebiet. Energischer Anschiss eines Stiernackens im Publikum. Bautzen und Sibirien vor Augen, verstummt die Gruppe spontan. Bei der Ausreise später stellt sich heraus, der Stiernacken kam aus Bayern. Systemüberschreitender Militarismus.

Grenzübergang Marienborn. Ein abgerockter Renault 14. Insassen: Die Studenten Eichhorn (später „Pigor singt, Benedikt  Eichhorn muss begleiten“) und Kaysh. Grenzsoldaten, mürrisch. Vorzeigen  des „Visums zur mehrmaligen Ein- und Ausreise, gültig für alle Bezirke“. Mit Gruß der Leitung des Institutes für Allgemeine Geschichte des ZKs der SED. Grenzsoldaten, strammstehend.

Partykeller einer Jugendherberge, wochentags, abends. Null Stimmung. Planwirtschaft live. Das Thekenkollektiv hat jeden Abend zwei Kisten Bier zu verkaufen. Im Alltag heißt das: Läuft die Riesenparty, ist um halb neun nix mehr da und Feierabend. An öden Abenden wie heute hält man bis Mitternacht Stellung und schwätzt zur Not den Gästen den Alk auf. Meistens nimmt man hin.

Lustiger Abend in Eisenach. Kneipe. Mir geht die 150-prozentige FDJ-Jugendtourist-Betreuerin Simone auf die Nerven. Habe ihr gerade den Klaus-Lage-Song „Monopoly“ erklärt. „Monopoly,
und die an der Schlossallee verlangen viel zu viel.“ Erkläre das mal einer gelernten DDR-Bürgerin. Da checke ich sie. Gebe galant den Angetrunkenen, der kein Ostgeld mehr hat zum Weitertrinken. Tausche zwanzig D-Mark zum offiziellen Kurs, Quittung können wir morgen erledigen. Vergesse am Morgen die Quittung. Simone auch. Puh, niemand ist vollkommen, was auch immer.

Jugendherberge in Weimar. Seit Stunden trägt der junge FDJler Zahlen vor. Planübererfüllung überall, selbst in der Schweinemast. Der Typ trägt ein fürchterliches Hemd. Wir, Jugendbetreuer aus dem Norden des Ruhrgebiets, kommen auf die Kernkraft. Die Atomkraftwerke im Warschauer Pakt seien sicher, sagt er, hundertprozentig. Aus ideologischen Gründen. Sie befinden sich in Händen der Arbeiterklasse. Arbeiter schaden Arbeitern nicht. Das Problem seien die kapitalistischen Reaktoren im Westen, das Kapital… Es ist Herbst 1986. Tschernobyl war am 26. April 1986. OK, lies weiter Erfolgszahlen vor.

Erfurt, am Fuße der Domtreppe. Ich sehe eine riesige Schrift über dem Eingang einer Kneipe. „Nichtrauchergaststätte“. Ich lache und fotografiere. Das glaubt mir im Westen keine Sau, sowas kann es nur in der DDR geben. Ich habe der DDR nie so Unrecht angetan.

Immer noch Erfurt. Unterwegs mit dem Stadtbilderklärer, einem alten Mann. „Führer“ sagt man im sozialistischen Deutschland nicht zu dieser Tätigkeit.  Man sagt auch nicht „Fußgängerzone“ zur Gehstraße. Wir bitten den Erklärer uns den Kaisersaal zu zeigen. Dort hat die SPD 1891 ihr Erfurter Programm beschlossen. Der Saal ist geschlossen. Aus Frust kaufe ich im benachbarten Fachgeschäft für Agitation und Propaganda gleich zwei Honecker-Poster. Der Verkäufer versteht meine Begeisterung nicht ganz, teilt aber mein Bedauern über den Mangel an Fähnchen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Seit Gorbatschow sind die Dinger beliebter als es das ZK der SED geplant hat. Der Erklärer wartet vor dem Laden, deutet traurig auf den Kaisersaal und sagt leise: Ich habe früher auch zu dem Laden gehört. Ich schlucke.

Weimar, nach dem Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald. Irgendjemand hat Ellen aus Versehen „Else“ genannt. Ellen ist eine sehr nette alte Dame, die sich bei den Falken engagiert. Jetzt heult sie. Später erklärt sie mir, warum. Else sei ihr Tarnname gewesen in Amsterdam, als sie versteckt wurde von den Holländern, geflohen aus Deutschland als jüdisches Kind. Später bringen die Retter sie mit dem Boot nach England, wo sie gleich interniert wird als Angehörige einer verfeindeten Nation. Ellen erzählt ihre Geschichte zum ersten Mal seit 40 Jahren. Ich kann heute noch heulen, wenn ich daran denke.

Recklinghausen, Montagsdemo, vorgestern. Ich mache ein paar Fotos der öffentlichen Veranstaltung. Solche Aufmerksamkeit kennen die Demonstranten nicht. Sie werden barsch bis ausfallend. Später erklärt mir einer sein Problem: „Wir hatten in der letzten Zeit n bisschen Stress mit den Nazzis“. Ich frage empört zurück: „Sehe ich etwa aus wie ein Rechter?!“ Es gibt Sachen, die lasse ich mir von Menschen mit MLPD-Buttons nicht gerne sagen. Aber vielleicht verstehe ich manchmal den Westen einfach nicht.

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Perik Hillenbach
13 Jahre zuvor

Wunderbarer Text, großer Spaß, vielen Dank! Da sind doch die Aufgeregtheiten junger Kolleginnen und die Mauern aus Waldorfquark mit Schnittlauch schnell überwunden, durch die man sich hier oft kämpfen muss.

Deine Frage, lieber Martin, kann ich beantworten: Ich war im Logo/Bochum. Der Chef (Ralle Odermann) hatte irgendwie Urlaub, und ich als sein Vize musste unsere Party des Jahres organisieren. Ich ließ Plakate kleben mit einer großen Banane vor s/r/g Hintergrund (ursprünglich sollte es Titanic-like eine Gurke sein, die wurde aber als zu intellektuell verworfen), schrieb versal DEUTSCHE EINHEIZ PARTY drauf und ließ zwei Mädels in Hot Pants mit Einkaufswagen voller per Hand mit dem Partydatum kugelschreiber- (hatten wir ja drüben nicht) beschrifteter Bananen durch die Kortumstraße laufen. Der damalige WAZ-Paparazzo Borowski berichtete pflichtschuldigst. Der Laden war überfüllt, ein Riesenerfolg. Und roch nach Überreife.

Dieses andere Datum, diesen 9. November ein knappes Jahr zuvor, habe ich fassungslos am Fernseher verfolgt. Ich behielt Recht: Armeen in Marmorjeans überfluteten unsere heimeligen BRD-Gehstraßen. In der Wiedervereinigung habe ich von Anfang an ein eher ästhetisches Problem gesehen. Das gilt bis heute.

Viel schöner, und zwar wirklich schön, also erhebend, gänsehäutig, das waren manche Nächte im Logo den Sommer vor dem Mauerfall, als in Ungarn der Maschendrahtzaun aufgeknipst wurde und in der Folge immer mehr Leute rübermachten. Da hieß es häufig in der typischen Samstagnacht, sagen wir im heißen August 89, „hier sind Zonis“, und Ralle spielte Neil Young, „Keep on Rockin in the Free World“, und das war wahrlich eine Hymne, die einen schauern ließ. Auch wenn ich ein selbstbemaltes T-Shirt trug, das aus den Buchstaben „Zonis verpisst euch“ die BRD-Umrisse nachzeichnete. Nun ja. Es liegt heute noch im Schrank, wie meine Zorlac-Shirts.

Heute aber: Einer meiner absoluten Lieblingsorte ist der Bauernmarkt in Schmachtenhagen bei Oranienburg, wo Ossis mit Cowboyhüten sich zum Square Dance formieren und ich den dunklen Landmann trinke und Soljanka schlürfe. Das ist wie zuhause im Schrebergarten. Und wenn ich mal das Ruhrgebiet verlasse, dann gehe ich nicht nach Kölnmünchenhamburg, sondern definitiv nach: Leipzig. Geilste deutsche Stadt!

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13 Jahre zuvor

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