Die Kommentierung in den klassischen und den sozialen Medien ist mal wieder einhellig: Der Start des neuen Kanzlers ist misslungen, die neue Regierung, ja das ganze Land stehen am Abgrund, die deutsche Demokratie ist in höchster Gefahr. Alles Unsinn.
Für die Journalisten in und um den Reichstag war es ein Schlachtfest. Den ganzen Tag über konnten sie an historischem Ort von einem historischen Tag raunen, das von nicht wenigen von ihnen herbeigesehnte „Scheitern“ von Friedrich Merz genüßlich ausmalen, über die Motive der 12 mutgemaßten „Abweichler“ in Sondersendungen spekulieren mit allerlei Politologen und sonstigen „Experten“, und am nächsten Morgen in ihren Blättern höhnisch „Zweite Wahl“ titeln wie die „Süddeutsche“ oder „Bauchklatscher mit Ansage“ wie die taz.
Was aber ist tatsächlich geschehen? Merz hat im ersten Wahlgang die erforderliche Kanzlermehrheit knapp verfehlt, weil nicht alle Abgeordnete von CDU/CSU und SPD für ihn stimmten, warum auch immer. Was nach dem polarisierten Wahlkampf, dem Ausgang der Wahl, dem Streit um die „Brandmauer“, Migration und die Milliarden-Sonderschuldentöpfe sowie Enttäuschungen über den Koalitionsvertrag und die Postenvergabe hier wie dort keineswegs überraschend war.
Für Deutsche freilich, die Stabilität mehr lieben als alles andere, und ihre Medienvertreter ungewohnt, weil es das seit 1949 noch nicht gab. Aber überhaupt kein Beinbruch. Das Grundgesetz sieht ausdrücklich mehrere Wahlgänge vor, um eine dauerhafte Regierungskrise zu verhindern, ab dem dritten hätte Merz sogar die einfache Mehrheit gereicht. (Zum Vergleich: im heute beginnenden Konklave in Rom wird es wahrscheinlich wieder etliche Wahlrunden geben, bevor weißer Rauch aufsteigt – die 2000 Jahre alte katholische Kirche wird daran jedenfalls nicht zugrunde gehen).
Scholz sorgte für Regierungsunfähigkeit
Es kam aber nicht einmal zu einer mehrtägigen Hängepartie, die die Berliner Blase gerne genutzt hätte, um weiter den Untergang des Abendlandes zu beschwören. Nach einem kurzen Schockmoment einigten sich die schwarz-roten Koalitionäre mit Grünen und Linken auf eine Änderung der Geschäftsordnung. Selbst die „böse“ AfD stimmte dem zu, obwohl es die von ihr sogleich geforderte Neuwahl incl. erhoffter Machtbeteiligung verhinderte. Merz wurde im zweiten Wahlgang mit klarer Merheit gewählt, der Bundespräsident konnte ihm und seinen Ministern und Ministerinnen die Ernennungsurkunde überreichen und sie anschließend vereidigt werden. Alles so, wie es sein sollte, nur mit ein paar Stunden Verzögerung. So what.
Zur Erinnerung: Olaf Scholz ließ seine taumelnde Ampelkoalition vor einem halben Jahr platzen, ausgerechnet am Abend des Tages, an dem Donald Trump wieder zum US-Präsidenten gewählt war. DAS war wirklich eine doppelte Katastrophe, nicht das, was am Dienstag im Bundestag geschah. Danach zögerte er in unverantwortlicher Weise die unvermeidliche Neuwahl hinaus, mit der Folge, dass Deutschland, das wichtigste Land in Europa, seitdem keine handlungsfähige Regierung hatte, während Trump ein Chaos nach dem anderen anrichtet, Putin weiter in der Ukraine seinen Krieg gegen den Westen führt, die Wirtschaft kriselt und zahlreiche Arbeitsplätze in Gefahr sind.
Die neue Normalität, von der der nun Gott sei Dank gewesene Kanzler so gerne sprach wie sein Vizekanzler und seine Außenministerin, ist aber offensichtlich bei den meisten Journalisten und Medien noch nicht angekommen. Die Zeiten, in der die beiden einst großen Parteien alles dominierten und sich ihre Kanzler auf sichere Mehrheiten verlassen konnten, sind lange vorbei. CDU und CSU sind nur noch mittelgroße Parteien, die SPD hat sich verzwergt und gehörte eigentlich in die Opposition.
Ringen um Mehrheiten stärkt die Demokratie
Deutschland hat wie andere europäische Länder ein Mehrparteiensystem, mit einer nun starken rechtsextremen und einer linkspopulistischen Fraktion im Bundestag. Das macht es für die Parteien in der Mitte schwieriger, aber das ist überhaupt nicht schlimm und keineswegs demokratiegefährdend. Im Gegenteil: Es stärkt die parlamentarische Demokratie, wenn Regierungen und ihre Chefs um Mehrheiten ringen müssen, solange sie sie am Ende hinbekommen. Die viel zu lange ultrastabile GroKo mit Merkels angeblich alternativlosen Politik war dagegen eher ein Schaden, weil sie die nötigen Debatten im Parlament und in der Öffentlichkeit lahmlegte, nicht aber in den Wohnstuben, Büros, Kneipen und auf der Straße. Das trug wesentlich dazu bei, die politischen Ränder zu stärken.
Viel wichtiger als die kleine Störung bei der Kanzlerwahl wird sein, ob die Merz-Regierung und seine schwarz-rote Koalition bei den anstehenden wichtigen Entscheidungen jeweils eine Mehrheit zusammen bekommt. Da wird aber offen, mit offenem Visier oder namentlich abgestimmt. Quertreiber können sich nicht verstecken. Wenn die Regierung dann scheitert: Ja, dann gute Nacht.
Naja, man kann sich auch alles schönreden. Die AfD profiziert einstweilen nicht nur von Merzens Umkipper in Sachen Schuldenbremse, sondern jetzt auch von dem kindischen Protest zahlreicher Abweichler. Vertrauen in Bundeskanzler UND Bundestag gehen flöten bei solchen Manövern.
Dann muss man auch noch korrigieren: nicht Olaf Scholz, sondern Christian Lindner hat die Koalition platzen lassen. Und herausgezögert hat Scholz die Neuwahlen auch nicht, höchstens um ein paar Tage. Hier hätte es halt mehr als eine Änderung der Geschäftsordnung gebraucht, um die Vertrauensfrage „sofort“ (wie manchen realitätsfernen CDUlern gefordert) zu stellen.
Die CDU hat bei der Neuwahl schlechter abgeschnitten als erhofft, für Schwarz-Grün hat es nicht gereicht. Deshalb musste sich Merz auf eine Koalition mit der klaren Wahlverliererin SPD und die Änderung der Schuldenbremse einlassen. Die AfD profitiert vor allem dann, wenn Schwarz-Rot jetzt nicht rasch die irreguläre Einwanderung eindämmt und auch sonst nichts hinbekommt – wie die Ampel. Die hat Scholz aufgekündigt, indem er Lindner und die FDP rauswarf. Danach hat er die Vertrauensfrage und damit die Aiuflösung des Bundestags und die Neuwahl wochenlang bis in den Januar hinausgezögert. Die Weltgeschichte wartet jedoch nicht auf einen nun Ex-Kanzler, der sich an seien Stuhl klammerte.
Merz war schon lange vor der Wahl klar, dass er die Schuldenbremse auf irgendeine Art und Weise wird reformieren müssen. Er hat absichtlich die Wählerinnen und Wähler betrogen und einen auf Lindner gemacht, um die Stimmen der FDP abzugraben.
Dass die formal schwächste SPD aller Zeiten diese Reform in so kurzer Zeit durchgekriegt hat, macht sie übrigens zum eigentlichen Wahlgewinner.
Das Problem, was wir jetzt allerdings haben, ist der totale Vertrauensverlust in die Institutionen – und das ist wahrlich nicht Scholzens Versagen wegen einer etwas späteren Neuwahl, als manche sich gewünscht hätten.
Vielen Dank für diesen wohltuenden Artikel. Es waren 18 Stimmen, die im ersten Wahlgang gefehlt haben. Dann fehlten bei der heutigen Wahl zum Fraktionsvorsitz der SPD ebenfalls 18 Stimmen. Zufälle gibt es nicht.
Wenn in Teilen der SPD immer noch zur Entscheidungsfindung das Steigerlied zwecks emotionaler Aufputschung bis zur 35. Strophe gesungen wird und die Realität ausgeblendet wird, dann gute Nacht Deutschland. Dann haben wir wirklich bald Alice ante portas
Merz hat schon vor der Wahl angedeutet, dass er sich gegen eine Reform der Schuldenbremse nicht sperren würde. Aber klar: Versprochen hat er etwas anderes. Ohne absolute Mehrheit muss man Kompromisse machen, auch die SPD hat manchem zustimmen müssen, was ihr wehtut. zB den Rückweisungen auch von Aslybewerbern an den Grenzen, die der neue Innenminister Dobrindt gerade in Kraft gesetzt hat. Aber es geht, wie Sie schreiben, nicht um die Parteien, sondern darum, das Vertrauen in die Führungsstärke und die Handlungsfähigkeit der Regierung wieder herzustellen. Dass Scholz und seine Truppe da nicht gerade vorbildlich waren, werden Sie sicher nicht bestreiten.
Ein Danke an Ludwig Greven für diesen sympathisch unaufgeregten Beitrag. Der zweite Wahlgang ist nun wirklich kein Beinbruch. Das hält unsere Demokratie locker aus.
Linke, Grüne und AfD haben mit ihrer Zustimmung lediglich eine zweite Wahl am selben Tag ermöglicht und damit eine vernünftige und steuergeldsparende Lösung ermöglicht. Irgendwelche Ansprüche, wie es wohl die Linke beabsichtigt, können daraus nicht abgeleitet werden.
Ein weiteres Danke an Emscher-Lippizianer für den Hinweis auf ebenfalls fehlende 18 Stimmen bei der Wahl zum Fraktionsvorsitz der SPD. Nein, solche Zufälle gibt es nicht und damit wird deutlicher, aus welcher Ecke die spät pubertierenden Stimmenverweigerer bei der Kanzlerwahl kommen.
https://www.ruhrbarone.de/merz-pleite-welche-pleite/245700/#comment-1368946
Dass die erste Ampel der Geschichte äußerst fragil ist und keine großen Sprünge schaffen konnte, hat wohl niemanden überrascht. Am Ende war aber Lindner das Problem, nicht Scholz.
Aber soll das eine Art Ausrede für Merz sein? Wir sehen einen historischen Niedergang einer Kanzlerschaft vor uns, die schon am Ende war, bevor er vereidigt wurde. Das kann man nicht bestreiten, auch wenn Sie es mit ihrem Artikel versuchen.
Doch, beides kann man bestreiten. Tue ich ja. Scholz hat – wie geschrieben – seinen Finanzminister und damit den Koalitionspartner aus seiner Regierung geworfen und damit selbst die Regierungskrise und Neuwahl ausgelöst. Also sich selbst entmachtet. Wie er in seiner vorbereiteten Rede behauptete, um der FDP zuvorzukommen. Aber das ja niemand überprüfen. Und weshalb sollte Merz jetzt schon gescheitert sein? Er ist gewählt und macht Politik. Wurde höchste Zeit.
https://www.ruhrbarone.de/merz-pleite-welche-pleite/245700/#comment-1368951
Natürlich hat Scholz Lindner rausgeworfen. Wer denn auch sonst? Er war ja schließlich Kanzler und musste es tun. Aber doch nur, weil Lindner sich jahrelang quer gestellt hat und nicht mehr mitspielen wollte.
Zu Merz: seine Kanzlerwahl ist historisch schief gegangen; das ist Fakt. Und es ist ein Omen dafür, dass seine Kanzlerschaft hochwahrscheinlich noch kürzer als die Ampel dauern dürfte. Wenn er jetzt noch nicht mal seine Stimmen im Parlament zusammen halten kann – womit will er denn in den nächsten Jahren punkten? Mit stabiler, mehrheitsfähiger Politik etwa? Das wäre nicht mehr das Fähnchen im Wind, das Merz bisher war.
Aber in ein paar Jahren sind wir alle schlauer…
Wie gesagt: Man kann es unterschiedlich sehen. Mir liegt es fern, Lindner oder die FDP zu verteidigen. Aber zu Streitereien gehören immer mehrere hier. In diesem Fall drei Parteien – unter einem Kanzler, der nicht in der Lage oder nicht willens war, sie zu beenden und politisch zu führen. Es ist jedoch müßig, darüber zu diskutiern. Scholz ist nicht mehr Kanzler, sondern nun Merz. Im Interesse des Landes und Europas, wäre es aus meiner Sicht gut und wichtig, dass er und die neue Regierung nun stabil regieren und die notwendigen Reformen entschlossen und geschlossen angehen. So wie ich es in meinem Beitrag geschrieben habe. Sie mögen einen sehr schlechten Eindruck von Merz haben steht Ihnen frei. Aber ein Fähnchen im Wind ist er sicher nicht: Er hat über Jahre zielstrebig an seinem politischen Wiederaufstieg gearbeitet, die CDU umgestaltet, mit klarem Programm. Wieviel er davon mit der abgehalfterten, ideenlosen SPD umsetzen kann, wird man sehen. Scheitern er und Schwarz-Rot, wäre es sehr schlecht für unser Land. Darüber könnte sich neben den Linkspopulisten nur die Rechtsextremen freuen.