
Berlin ist das Epizentrum des Technobeats, aber auch – und das gehört zur Wahrheit über die sexy Stadt – des Antisemitismus in der Clubszene. Die Diskrepanz zwischen den Werten der Rave- und Technokultur und der gesellschaftlichen Realität könnte eklatanter nicht sein. Das rein musikalische Erlebnis von Peace, Love & Unity ist längst einem aktivistischen Soundtrack gewichen. Mit DJ Phonatic habe ich in Berlin über seine Erfahrungen seit dem 7.Oktober gesprochen.
Anna Maria Loffredo: Wer bist Du? Was machst Du?
DJ Phonatic: Ich bin DJ in Berlin und Veranstalter von eigenen Parties. Ich lege seit fast 25 Jahren auf und bin seit mehr als 15 Jahren in der Hauptstadt. Ich habe mich nach dem Massaker der Hamas gegen israelische Zivilsten am 7. Oktober als einer der wenigen aus der elektronischen Musikkulturszene öffentlich zur mangelnden Solidarität sowie zum zunehmenden Antisemitismus innerhalb der Szene geäußert. Einige kennen mich vermutlich durch meine Beiträge in den sozialen Medien.
Anna Maria Loffredo: Inwiefern hat sich Deine klare Haltung gegen Antisemitismus auf das Booking ausgewirkt?
DJ Phonatic: In den ersten Monaten nach dem 7. Oktober war eine Veränderung noch nicht so deutlich spürbar – mittlerweile hat sich dieser Eindruck gravierend verstärkt. Es wird dabei selten offen Nein gesagt; vielmehr äußert sich die Distanz in einem Ausbleiben von Rückmeldungen. So erhalte ich beispielsweise auf Anfragen an Clubs, in denen ich in den vergangenen Jahren regelmäßig aufgelegt habe, plötzlich keine Antworten mehr. Es scheint, dass bewusst darauf verzichtet wird, Verbindungen herzustellen – möglicherweise aus Sorge, in den Verdacht einer Kontaktschuld zu geraten. Darüber hinaus werde ich nach meinem Israel-Besuch im April, bei dem ich drei Gigs gespielt habe, auf einer BDS-Boykottliste aufgeführt. Diese Liste ruft Clubs und Veranstalter dazu auf, die darauf genannten DJs zu boykottieren und zu „canceln“.

Anna Maria Loffredo: Hast du auch positive Erlebnisse, die Solidarität mit Dir gerade mit einem Booking bekunden?
DJ Phonatic: Innerhalb der Szene selbst ist das eher weniger der Fall, doch aus anderen Kreisen – insbesondere von jüdischen Menschen hier in Deutschland, die mit meiner Musik zuvor wahrscheinlich wenig zu tun hatten – habe ich sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. Es ist immer wieder überwältigend, wie dankbar viele allein dafür sind, dass sich überhaupt jemand klar gegen den zunehmenden Antisemitismus positioniert. Dabei möchte ich betonen, dass ich selbst kein Jude bin – umso mehr sehe ich es als meine Verantwortung, nicht zu schweigen. Es darf nicht allein an jüdischen Menschen hängenbleiben, sich gegen Judenfeindlichkeit zu wehren. Gerade in einer Szene, die sich mit elektronischer Musik beschäftigt und in der ein Bezug zum Massaker beim Nova Festival eigentlich naheliegen müsste, herrscht weitgehend Schweigen – schlimmer noch: Taten wurden relativiert oder im schlimmsten Fall sogar begrüßt.
Anna Maria Loffredo: Ich habe zuletzt in Frankfurt gesehen, dass Macklemore bei einem Festival auftritt und unten bei der Logozeile stand auch die Stadt Frankfurt. Gleichzeitig spaziere ich durch die Straßen im Westend und komme an der wunderschönen Synagoge vorbei, höre den Gebetsgesang an Shabbat und das passt für mich nicht zusammen. Jemand aus der Popkultur, der wiederholt eindeutige antisemitische Parolen auf der Bühne verbreitet, tritt auf einem Festival der Stadt auf, das wahrscheinlich mit Steuergeldern mitgefördert bzw. gepartnert wird?
DJ Phonatic: Das ist ein offensichtlicher Doppelstandard. Der Konformitätsdruck innerhalb der Kultur- und Musikszene ist so groß, dass Anpassung zum Ticket für Teilhabe wird. Es reicht längst nicht mehr, ein guter DJ zu sein – man muss präsent sein, performen, auf Social Media mitspielen. Wer in der Szene sichtbar bleiben, gebucht werden und Anerkennung erhalten will, kommt kaum daran vorbei, bestimmte Themen auf eine klar erwartbare Weise zu inszenieren – angepasst im Ton, im Kontext, politisch korrekt und möglichst anschlussfähig. Internationale Player geben den Ton vor, posten Statements, unterschreiben Petitionen, veröffentlichen offene Briefe – und alle anderen ziehen nach. Clubs und große Namen in der Szene übernehmen dabei die Rolle von Multiplikatoren: Wenn sie sich äußern und dafür positive Resonanz erhalten, entsteht der Eindruck, dass man mitziehen muss – nicht aus Überzeugung, sondern weil es dazugehört. Natürlich nur dort, wo kein echter Widerspruch zu erwarten ist. Konformistisch, aber im rebellischen Gestus vorgetragen. Es geht ums Image, nicht um Haltung. Widerspruch? Quasi nicht existent. Der Preis fürs Ausscheren scheint zu hoch. Also fühlt man sich bestärkt, nicht nur als DJ, sondern gleich auch als moralische Instanz aufzutreten. Und doch: Wer sich öffentlich als Stimme der Gerechtigkeit inszeniert, aber zu 400 ermordeten Ravern schweigt, macht sich unglaubwürdig. Das ist keine Haltung – das ist Heuchelei!

Anna Maria Loffredo: Wenn du dir kulturpolitisch ein Szenario in Berlin wünschen könntest, was würdest du verändern?
DJ Phonatic: Ich war nie ein großer Freund der zunehmenden Politisierung von Rave- und Clubkultur. Der politische Gehalt dieser Szene lag für mich nicht im offenen Bekenntnis, sondern in ihrem Selbstverständnis: in der Emanzipation sexueller Identität, im Eskapismus, im Exzess, im Widerspruch zur Norm. Gerade in dieser Mischung lag ihr subversives Potenzial. Je stärker Clubs zu Orten offener politischer Deklaration werden, desto mehr laufen sie Gefahr, sich ideologisch aufzuladen – und damit das zu verlieren, was sie einzigartig macht: einen Raum, in dem Unterschiede keine Rolle spielen müssen. Ein Zwang zur Positionierung produziert Ausschlussmechanismen, wo eigentlich ein utopisches Miteinander möglich wäre. Gerade diese Zurückhaltung ist nicht Passivität sondern Ausdruck einer tieferen Haltung – nämlich der Überzeugung, dass echte Freiheit nicht durch Parolen entsteht, sondern durch utopische Räume, in denen Unterschiede zwar nicht gänzlich verschwinden, aber im gemeinsamen Rausch der Nacht zur Nebensache degradiert werden. Politisierung findet dort, wo sie sinnvoll ist, innerhalb des Betriebs selbst statt – etwa indem sexuelle Vielfalt gelebt wird, nicht postuliert. Ohne Bekenntniszwang. Wenn das kippt, öffnet sich eine Büchse der Pandora: Die Szene fragmentiert sich in Lager, Clubs werden zu ideologischen Projektionen. Der Club als „ideologiefreier“ Raum ist Vergangenheit – er lässt sich nicht wiederherstellen.
Anna Maria Loffredo: I’m here for the music.
DJ Phonatic: Auch im Club galt stets: Freiheit endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. Es gab ungeschriebene Regeln des respektvollen Miteinanders – aber keine ideologische Zugangskontrolle. Die politische Haltung eines Gastes spielte keine Rolle, solange das gemeinsame Erleben im Vordergrund stand. Vielleicht tanzte man neben einem politischen Arschloch, ohne es zu wissen – und es war egal. Entscheidend war der Moment, nicht die Gesinnung. Doch diese Offenheit ist zunehmend verloren gegangen. Heute wird Zugehörigkeit stärker über Haltung definiert – und damit endet eine Zeit, in der der Club als utopischer Ort des Nebeneinanders funktionieren konnte.
Anna Maria Loffredo: Woher kommt denn eigentlich deine Liebe zur Musik?
DJ Phonatic: Wahrscheinlich kam der Einfluss von meinem Vater, der mit Kompaktplattenspieler und Tape Deck liebevoll Mixkassetten aufnahm. Mein erster eigener Zugang zur Musik war ein Walkman – eine Prämie für das neu eingerichtete Sparkonto, das ich zum Weltspartag bei der Sparkasse bekam. Ich war acht Jahre alt, und dieser Moment hat sich mir tief eingeprägt. Bis dahin war ich als Kind ständig auf Stadtfesten unterwegs – laut, trubelig, mitten im Geschehen. Und genau dort hörte ich zum ersten Mal intensiv Musik: die Mixkassetten meines Vaters, über meinen neuen Walkman. Mit einem Mal veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich zog mich innerlich zurück, hörte für mich allein – und plötzlich war die Welt nicht mehr dieselbe. Alles war da wie zuvor, aber durch die Musik emotional eingefärbt, gerahmt, aufgeladen. Das war eine Initialzündung. Später kam ich über Freunde, obwohl ich ursprünglich aus Punk und Hardcore komme, zum ersten Mal in einen Club – und war überwältigt. Was dieser DJ mit den Menschen auf der Tanzfläche auslöste, hat mich sofort gepackt. Da war für mich klar: Genau das will ich auch.
Anna Maria Loffredo: Punk und Hardcore, heißt eher links in der Sozialisation? Zuletzt hattest Du ein Foto mit Julia Klöckner und das war ja ein wichtiger Tag, an dem Du es gepostet hattest. Wie waren die Reaktionen auf Social Media auf das Foto?
DJ Phonatic: Der Vorfall ereignete sich am selben Tag, an dem Bundestagsvizepräsidentin Julia Klöckner die Abgeordnete Köktürk (DIE LINKE) aufforderte, ein T-Shirt mit politischer Botschaft (Palästina Aufdruck) im Bundestag abzulegen – zunächst nicht öffentlich, später mit mehrfacher Aufforderung. Zufällig traf ich Frau Klöckner anschließend bei einer Lesung in der Bundestagsbibliothek. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr Vorgehen in ihrer Rolle als Präsidiumsmitglied für richtig halte. Ich selbst trug an dem Tag eine gelbe Schleife – das Foto davon wurde von vielen positiv aufgenommen, stieß bei anderen jedoch auf Kritik, weil es für sie automatisch eine parteipolitische Deutung auslöste: CDU gleich problematisch. Spätestens seit dem 7. Oktober hat diese parteipolitische Schablone für mich keine Relevanz mehr. Im Umgang mit Antisemitismus braucht es einen strategischen, pragmatischen Ansatz – jenseits ideologischer Lager. Der Kampf gegen Judenfeindlichkeit kann nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen. Das schließt den Staat und seine Institutionen ebenso wie NGOs und das individuelle Verantwortungsbewusstsein mit ein. Politische Grabenkämpfe oder identitäre Profilierung behindern diese Aufgabe und zeigen häufig, dass es manchen nicht um die Sache selbst geht, sondern um das eigene Image.

Anna Maria Loffredo: Wenn Du ein Festival organisieren würdest, unter welcher Headline würdest Du es ankündigen?
DJ Phonatic: Eine Überschrift zu finden mag schwer sein – doch gerade im Zusammenhang mit dem 7. Oktober müssen Künstlerinnen und Künstler auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verpflichtet werden. Es geht nicht um politische Debatten zum Nahost-Konflikt, sondern um eine klare und entschiedene Haltung gegen Antisemitismus. Es darf nicht länger hingenommen werden, dass Kolleginnen und Kollegen mit israelischem Pass in Deutschland Angst haben müssen, ihre Identität öffentlich zu nennen, aus Furcht vor Bedrohungen. Genauso wenig akzeptabel ist, dass jüdische, israelische und antisemitismuskritische DJs und Clubs ausgegrenzt und boykottiert werden, weil sie das Existenzrecht Israels verteidigen. Dieses Verhalten ist nicht nur gefährlich, sondern zutiefst beschämend – und es ist höchste Zeit, dem entschieden entgegenzutreten.
Anna Maria Loffredo: Na, das nehme ich als Abschlusswort.