Loveparade: Die Staatsanwaltschaft ermittelt – aber nicht gegen Adolf Sauerland

Adolf Sauerland

Am Samstag, den 24. Juli 2010, fand in Duisburg die Loveparade statt. Sie endete mit 21 Toten und mehreren Hundert – zum Teil Schwer- – Verletzten. Bis heute hat sich niemand von der Stadt Duisburg oder vom Veranstalter bei den verletzten Opfern der Loveparade gemeldet – mit keinem Wort. Bis heute hat niemand die Verantwortung – oder auch nur einen kleinen Teil von ihr – für diese Katastrophe übernommen. Bis heute ist niemand in dieser Sache offiziell beschuldigt worden, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Bis heute ist nicht einmal gegen irgendjemanden in dieser Sache ermittelt worden. Letzteres soll sich allerdings in Kürze ändern. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, prüft die Staatsanwaltschaft Duisburgderzeit intensiv, in welchen Fällen das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen unbekannt zu einem namentlichen wird. Vermutlich bereits um die Jahreswende herum soll mit Ermittlungen gegen eine Reihe von Mitarbeitern von Veranstalter, Polizei und Stadt begonnen werden“.

Heute früh, kurz nach fünf, kam SZ Online mit dieser Enthüllung. Die Überschrift: „Sauerland bleibt unbehelligt“, die Unterüberschrift: „Keine Ermittlungen gegen Duisburgs Oberbürgermeister“, die Meldung beginnt mit: „Gegen den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) wird wegen der Katastrophe auf der Loveparade vorerst kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Um die Jahreswende herum wolle die Staatsanwaltschaft Duisburg ihre bislang gegen Unbekannt gerichteten Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung zu namentlichen machen. Diese werden sich dann laut SZ gegen „eine Reihe von Mitarbeitern von Veranstalter, Polizei und Stadt“ richten, aber eben nicht gegen Adolf Sauerland. Auch von Sauerland-Kritikern ist wiederholt öffentlich vorgetragen worden, dass der Oberbürgermeister zwar politisch für die Katastrophe verantwortlich sei, und deshalb folgerichtig hätte zurücktreten müssen, dass jedoch kaum anzunehmen sei, dass der Chef der Stadtverwaltung persönlich mit den Details der Veranstaltungsplanung derart vertraut gewesen sei, dass sich daraus strafrechtliche Schuld ableiten ließe.

Adolf Sauerland hatte in den Monaten vor der Loveparade einen Großteil seiner Arbeitszeit der Vorbereitung dieser Veranstaltung gewidmet, nach dem 24. Juli jedoch häufig darauf hingewiesen, in dieser Sache „nichts unterschrieben“ zu haben. Sauerland stand wie kein Anderer für dieses Projekt. Er persönlich setzte alle Hebel in Bewegung, um die Finanzierungsengpässe im Vorfeld der Loveparade zu überwinden. Einwänden aus der Verwaltung, die die Loveparade aus Sicherheitsgründen für nicht genehmigungsfähig hielten, hielt der Duisburger Sicherheitsdezernent entgegen, dass der Oberbürgermeister die Durchführung der Veranstaltung wünsche. In der Duisburger Stadtverwaltung herrschte im Vorfeld ein Klima der Einschüchterung, in dem sich jegliche Kritik an der Loveparade verboten hatte. Wer dennoch wagte aufzubegehren, wurde negativ sanktioniert.

Und dennoch: sollte Sauerlands Einlassung zutreffen, in dieser Sache „nichts unterschrieben“ zu haben, könnte es gut sein, dass für die Staatsanwaltschaft Duisburg überhaupt keine Möglichkeit besteht, gegen ihn namentlich zu ermitteln. Dass sie strafrechtlich gegen seine Dienstobliegenden ermitteln wird, dürfte für reichlich Empörung sorgen. Diese darf jedoch in einem Rechtsstaat niemanden interessieren. Dass allerdings schon zu einem recht frühen Zeitpunkt Zweifel an der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der Staatsanwaltschaft Duisburg entstehen mussten, ist hier allerdings schon von Interesse. Nach der Katastrophe verzichtete die Behörde nämlich darauf, im Rathaus die Dokumente zur Loveparade vollständig sicherzustellen. Die Strafverfolger begnügten sich mit den von der Stadt zur Verfügung gestellten Aktenordnern. Wesentlicher als der Umstand, dass hier nicht alle Ordner rausgerückt wurden, ist die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg sämtliches elektronisches Datenmaterial, also eMail-Korrespondenz, Notizen etc., unberücksichtigt ließ.

Ende August, immerhin auch schon ein Monat nach dem Ereignis, hinderte die Staatsanwaltschaft Duisburg die mit den polizeilichen Ermittlungen befasste Kölner Kripo an einer Razzia im Duisburger Rathaus. Am 26. September berichtete Focus Online: „Der Kölner Kripochef Norbert Wagner reiste vergeblich zum Leiter der Duisburger Ankläger. Verärgert registrierte die Polizei, dass die Staatsanwaltschaft Ende August die Stadt lediglich um die Herausgabe einiger Akten bat. Um den Krach zu vertuschen, soll die Justiz laut FOCUS sogar darauf gedrungen haben, den Durchsuchungswunsch der Polizei aus der Ermittlungsakte zu tilgen. Darauf wollte sich die Kriminalpolizei allerdings nicht einlassen.“ Schon am 8. September wurde auf einer Sitzung des Landtagsrechtsausschusses bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Duisburg, die Ermittlungen zum Loveparade-Desaster am 24.Juli leitet, selbst an deren Vorbereitungen beteiligt war.

All diese Ungereimtheiten konnten NRW-Justizminister Kutschaty (SPD) nicht daran hindern, die Duisburger Staatsanwaltschaft in Schutz zu nehmen. Zweifel an der Unbefangenheit der Staatsanwaltschaft Duisburg seien völlig unbegründet, erklärte Kutschaty, während er gleichzeitig die Vorwürfe, die nach Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt riechen, substanziell bestätigte. Kutschaty blieb im Amt, obwohl meines Erachtens ein Rücktritt fällig gewesen wäre, und der Strafverfolgungsbehörde, die den Verdacht nicht losgeworden ist, Ermittlungen bewusst verhindert zu haben, wurde bis heute das Verfahren nicht entzogen. Wenn eine Behörde wie die Staatsanwaltschaft Duisburg in Kürze also hingehen und Strafverfahren gegen eine Reihe von Personen eröffnen, Herrn Sauerland jedoch unbehelligt lassen sollte, dürfte sich der Hauch von Bananenrepublik in Duisburg festsetzen. Zur Erinnerung: den Ermittlern wurden die noch fehlenden Akten bei einer Tasse Kaffee im OB-Büro übergeben.

Heute, also nach der Enthüllung in der SZ, zitiert Spiegel Online aus einem Schreiben des Anwalts des Duisburger „Panikforschers“ Schreckenberg, das am 8. November bei der Staatsanwaltschaft Duisburg einging. Der Professor für Physik von Transport und Verkehr, der möglicherweise zum Kreis der potenziell Beschuldigten gehören könnte, lässt darin behaupten, überhaupt nicht an der Planung der Loveparade beteiligt gewesen zu sein. Gewiss: in einer Situation, in der die Verantwortung zwischen den Beteiligten wie bei einem Schwarze-Peter-Spiel hin- und hergeschoben wird, empfiehlt es sich weder, Partei zu ergreifen, noch jede Äußerung einer Seite für bare Münze zu nehmen. Dennoch: wenn Schreckenberg behauptet, nicht zu den Sitzungen des Arbeitskreises Sicherheit eingeladen worden zu sein, wäre ihm das Gegenteil nur allzu leicht nachzuweisen. Schreckenberg habe „wiederholt und nachhaltig vor dem Karl-Lehr-Tunnel“, durch den sowohl die herein- als auch die herausströmenden Massen geleitet wurden, gewarnt, heißt es in der Stellungnahme des Anwalts. Dies dürfte Schreckenberg nachzuweisen haben. Wie auch immer, dem Fazit seines Anwalts wird man kaum widersprechen können: „Zusammenfassend kann man sagen, dass Nachfragen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge nicht gewünscht waren.“

Letztlich hätten auch „Nachfragen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge“ diese Katastrophe nicht verhindern können. Selbst ohne Kenntnis der Problematik des Karl-Lehr-Tunnels hätte jedem normalen Zeitungsleser klar sein können, dass nur ein Verzicht auf diese Veranstaltung hätte Menschenleben retten können. Ohne jede Hintergrundrecherche, allein auf Berichte der Lokalpresse gestützt, schrieb ich zwei Tage vor der Tragödie: Das, was sich am Samstag im Duisburger Kessel abspielen wird, geht letztlich auf das Konto des für diese Fehlplanung ungeheuren Ausmaßes Verantwortlichen. Es ist ohne Beispiel, dass Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende – zumal noch von psychoaktiven Substanzen beeinflusste – Menschen abgedrängt, abgeblockt und eingekesselt werden müssen. Mir ist es egal, was unter diesen Umständen aus dem viel beschworenen Werbewert für die Stadt Duisburg wird. Ich hoffe und bete, dass die Zahl und die Schwere der Verletzungen im überschaubaren Rahmen bleiben werden, dass viele gesund, und dass alle überhaupt wieder nach Hause kommen werden.

Wir sind Wort des Jahres!

Heute war es wieder so weit: die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat das Wort des Jahres bekannt gegeben – beziehungsweise „gewählt“, wie es in den Agenturmeldungen heißt. Lassen Sie sich bitte nicht dadurch irritieren, dass hin und wieder, z.B. in der ARD-Tagesschau, von der deutschen Gesellschaft für Sprache die Rede ist! Das ist natürlich Unfug. Erstens, weil wir noch nicht so weit sind, dass die deutsche Gesellschaft befugt wäre, über die Sprache – welche auch immer – ein allgemein anerkanntes Urteil abgeben zu dürfen. Und zweitens, weil es dann mit der Abkürzung irgendwie nicht hinkäme: GfdS.

Nun ist nicht nur bei der ARD, sondern allerorten ist zu lesen, „Wutbürger“ stehe für die Empörung in der Bevölkerung, „dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden“. Wie kann aber nur ein Bürger, der ja immerhin ein Mensch ist, auch dann doch, wenn er zum Wutbürger mutiert sein sollte, stehen für eine Empörung, die doch für einen Gemütszustand steht, mithin für eine Sache? Sollte hier etwa die Gesellschaft für deutsche Sprache einen Menschen (oder gar mehrere) mit einer Sache (oder Sachen) verglichen haben? Dann wäre ich aber wirklich wütend.

Sehen wir uns also die entsprechende Pressemitteilung der GfdS an, um den Sachverhalt zu klären. Darin heißt es: „Als Wort des Jahres wurde Wutbürger gewählt. Diese Neubildung wurde von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern verwendet, um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden.“ Aha. Es sind also die Zeitungen und Fernsehsender, die die deutsche Sprache dazu missbrauchen, einer Empörung in der Bevölkerung Ausdruck zu geben („verleihen“ fände ich hier auch angemessener), indem sie diese Gebung Bürger – und sei es „Wutbürger“ – nennen.

Nun gut, da kann die GfdS nichts für. Aber leider – oh ja, leider, leider, leider – ist die Pressemitteilung an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Oder heißt es „am Ende“? Egal, Originalton der Gesellschaft für deutsche Sprache: „Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, …“ Au Backe! Das Wort „dokumentiert“. Auch schon klasse: schreibe ich „Text“, dokumentiere ich damit eine systematische Ansammlung von Worten, die einen Sachverhalt darlegen sollen. Schreibe ich „Tisch“, dokumentiere ich damit ein Möbelstück, das den Menschen zum Abstellen von z.B. Speisen, Fernbedienungen etc. dienen möge. Schreibe ich „Wutbürger“, dokumentiere ich also ein Bedürfnis, und zwar ein großes Bedürfnis.

Das Wort – wir erinnern uns: „Wutbürger“ – dokumentiert nämlich ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger. Vermutlich der Wutbürger, sorry: der Wutbürgerinnen und Wutbürger. Deutsche Sprache, schwere Sprache. Wobei mir einfällt: wir haben einen Anspruch darauf, verlangen zu können, dass die deutsche Sprache beherrscht wird. Zumindest einigermaßen. Zumindest von der Gesellschaft für deutsche Sprache. Aber dies könnte jetzt vom Thema wegführen. Und das wollen wir nicht, obgleich dies freilich in der Wut passieren kann.

Jedenfalls wollen wir, die Wutbürger, über unsere „Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten“ haben, wie die GfdS ganz richtig feststellt. Dass ein Bahnhof ein politisch relevantes Projekt ist, steht außer Frage. Aber ist es auch die Wahl zum Wort des Jahres? Und wenn sie es ist, stellt sich dann nicht die Frage: Wer gibt der Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden? Und: wer ist eigentlich „der Kopf“ (Singular!) der Bevölkerung? Liebe Brüder und Schwestern! Lasset uns bei der Beantwortung dieser Fragen nicht auf die Expertinnen und Experten vertrauen! Lasset uns selbst eine Gesellschaft für deutsche Sprache bilden! Wutbürgerinnen und Wutbürger aller deutschen Länder, vereinigt Euch! Deutsche Sprachvielfalt statt von oben diktiertem Einheitssprech. Beginnen wir in Stuttgart: wir können Alles, verstehen aber nur Bahnhof.

Lenin und die Bahn, Talent und Schicksal, Freiheit und Sicherheit

Foto: JohnnyB via Wikipedia

Wissen Sie, was Kommunismus ist? – Ja richtig: in der Theorie eine tolle Sache; aber die Praxis … Schön und gut; das war aber nicht die Frage. Was das ist, der Kommunismus, hatte ich gefragt. Okay, ich sage es Ihnen. Kommunismus ist nach Lenin Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Sowjetmacht – okay, die kann ich Ihnen auf die Schnelle jetzt nicht im einzelnen erklären. Wir merken uns: mit einer Sowjetmacht haben wir es dann zu tun, wenn etwas so organisiert ist wie die Deutsche Reichsbahn. 

Die war nämlich richtig klasse organisiert. Das hat er selbst gesagt, der Lenin. Da konnte man – in diesem Fall: er – sogar eine Revolution mit machen. Und eine Revolution ist eine tolle Sache, wenn da der Kommunismus bei rauskommt – jedenfalls in der Theorie. Also, so ungefähr … Einfacher zu erklären ist freilich der Begriff „Elektrifizierung“. Elektrifizierung heißt, dass irgendwo Strom hinkommt, wo vorher keiner war. 

Kommunismus in der Praxis, Sie wissen ja Bescheid: einfach schrecklich. Zwang und Unterdrückung, alle Leute eingesperrt, und wer motzt, kriegt Ärger. Und von wegen: der Kunde ist König! Ihr kriegt gleich „Kunde“! Kleinbürgerliches Konsumentenbewusstsein. So etwas wird im Kommunismus natürlich entschieden bekämpft. Meistens nicht ohne Erfolg: die Leute wollen zwar immer noch eine Marlboro, eine Markenjeans oder einfach nur raus, trauen sich aber nicht, das zu sagen. Muss reichen. 

Was Sie hier auf dem Foto sehen, ist ein „Talent“. Ja, der Zug; der heißt so. Wie die Rheinische Post schreibt, werden die DB-„Talente“ von den Fahrgästen sehr gerne gesehen: Im Gegensatz zu den NWB-Fahrzeugen vom Typ „Lint“ mit zwei Türen an jeder Seite gibt es im „Talent“ nämlich drei Türen. Der „Talent“ verkehrt jetzt nämlich endlich wieder im Nahverkehr am linken Niederrhein – auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten über Moers und Rheinberg. Da freut sich der Niederrheiner; denn eigentlich müsste dort ja der „Lint“ fahren.  

Der „Talent“ gehört nämlich der DB-Regio, also der Deutschen Bahn, also Kommunismus, als Servicewüste. Die Bahn ist zwar eine Aktiengesellschaft, aber eben nicht an der Börse. Und je mehr versucht wird, die Bahn börsentauglich, also kundenfreundlicher, zu machen, desto mehr Strecken werden schon jetzt aus dem kommunistischen Zwangsregime entlassen. Denn der Markt weist aus, was bleibt, und was verschwinden muss. Zum Beispiel so eine an und für sich unrentable Strecke links am Niederrhein entlang. 

Wenn man den Bahnverkehr dort jedoch marktwirtschaftlich, also dynamisch, organisiert, dann fluppt das auch dort. Im Interesse des Kunden, also des Fahrgastes. Und deshalb fährt da jetzt nicht mehr die DB, sondern die NWB, die NordWestBahn. Privat vor Staat. Der Markt, also seine unsichtbare Hand, regelt das. Deutschlands größtes privates Bahnunternehmen gehört den Osnabrücker Stadtwerken, den Oldenburger Wasserwerken und noch einer Berliner Verkehrsfirma. Wow! Kein Wunder, dass bei solch einer Ballung privaten Unternehmergeistes auch das an und für sich Unrentable auf einmal profitträchtig wird. 

Okay, in den Nahverkehrszügen der NWB ist es ein wenig eng. Und einige jammern sowieso immer, Rollstuhlfahrer zum Beispiel sind geradezu bekannt dafür. Mit denen gibt es ständig Ärger. Für jeden Scheiß rennen die zur Presse. Anstatt dass sie einmal dankbar zurückblicken, wie es so vor 20 oder 30 Jahren ausgesehen hatte: wenn man sich ein halbes Jahr vorher angemeldet hatte, bekam man mit etwas Glück einen Platz im Gepäckwagen. Nun ja, das ist halt eine Schattenseite dieses kleinbürgerlichen Konsumentenbewusstseins: diese Undankbarkeit. 

Hier, dieser taz-Artikel: mal beschweren sie sich darüber, dass in die neue Regio-S-Bahn nicht hineinkommen. Wenn sie aber doch mal drin sind, ist es auch wieder nicht gut. 80 Zentimeter, so breit ist der Gang, durch den RollstuhlfahrerInnen zu ihren Plätzen gelangen. Links die Außenwand der Toilette, rechts Klappsitze. Sind die besetzt, kommt man mit Rollstuhl erst durch, wenn die Fahrgäste aufstehen. Nervig. Aber so ist Marktwirtschaft: der Kunde ist König, und das heißt: auch die NWB reagiert sofort: Die Nordwestbahn, die die S-Bahn betreibt, hat indes angekündigt, Fahrgäste mit Schildern aufzufordern, RollstuhlfahrerInnen Platz zu machen. Auch das Personal soll geschult werden, „darauf aufmerksam zu machen“. 

Jetzt wollen die auch noch klagen und mit diesem Schnickschnack so ein dynamisches Unternehmen in den Ruin treiben. Wie auch immer: Probleme, die am Niederrhein so nicht aktuell sind. Während die NWB jetzt ganz flott ihre Mitarbeiter schult, wird einstweilen gar nicht mit dem NWB-Triebwagen Marke „Lint“ gefahren, sondern mit dem beliebten „Talent“. Der ist zwar – wie gesagt –  von der DB, jedoch nicht kommunistisch, weil nicht elektrifiziert. „Lint“ natürlich auch nicht, logisch. Denn die ganze Strecke am linken Niederrhein ist nicht elektrifiziert. Es lebe die Freiheit! In diesem Fall: die Diesellok. 

Niederrheinexpress (RB 31) am Gleis 4 des Moerser Bahnhofes - Foto: Carschten via Wikipedia

Der „Talent“ kommt deshalb gegenwärtig am linken Niederrhein zum Einsatz, weil sich im August in Geldern – ebenfalls linker Niederrhein – ein Auffahrunfall zugetragen hatte. Nein, nicht mit dem Straßenverkehr, um Himmels willen! Nur NWB-Triebwagen sind zusammengestoßen – nicht nur zwei, sondern gleich drei. Alle kaputt. Das beeinträchtigt freilich auch das dynamischste Privatunternehmen; aber nun ja: Unfälle kommen eben vor. Da kann man nichts machen. Oder gestern: da soll – wie es in der Rheinischen Post laut Zugdurchsage hieß (oder umgekehrt) – „ein Baum“ auf den Gleisen zwischen Alpen und Xanten gelegen haben. 

„Ein Baum“ – Respekt! Da muss der Triebwagen tatsächlich eine Menge Talent gehabt haben. Wie dem auch sei: jedenfalls ist wohl irgendetwas am Bremssystem kaputtgegangen, wie ein Fahrgast der betroffenen Regionalbahn berichtet. So etwas kann passieren; also musste der Zug – Sicherheit geht nun einmal vor – erst einmal eine Weile stehen bleiben. Und so einen Bremsschaden repariert man nun einmal nicht so eben im Handumdrehen. In Sicherheitsfragen geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. In der Rheinischen Post ist zu lesen: Auf der Strecke der Regionalbahn Duisburg-Xanten mussten 55 Fahrgäste im Regionalzug am Mittwoch vier Stunden lang ausharren, weil das Bremssystem des Triebwagens ausgefallen war

Um 16:10 Uhr machte sich der Zug in Duisburg auf in Richtung Xanten, wo er um 16:55 Uhr ankommen sollte. Leider hatte sich dann kurz vor dem Ziel, also gegen 16:45 Uhr, das kleine Malheur ereignet. Gegen 21.15 Uhr war laut RP das Bremssystem des Zugs offenbar wieder repariert, der Talent setzte sich endlich Richtung Xanten in Bewegung. Viereinhalb Stunden – da kann man auf der Autobahn in diesen Tagen weiß Gott Schlimmeres erleben. Und da gibt es auch keine Toilette. Das heißt: der „Talent“ hat natürlich Toiletten. Aber wenn ein Zug steht, darf man die selbstverständlich nicht benutzen. Das weiß aber doch jeder! Dass da eine Frau angefangen hat zu weinen, nur weil sie mal musste – tja Gott: das sind die Nerven. 

Aber ansonsten blieb alles ruhig. Sehr disziplinierte Fahrgäste. Kein Mensch ist in Panik geraten. Warum auch? Es bestand zu keinem Zeitpunkt für die Passagiere auch nur die geringste Gefahr. Dennoch ist – sicher ist sicher – die freiwillige Feuerwehr Alpen angerückt – mit 50 oder 60 Mann. Gegen 20:00 Uhr – recht flott, die wurde nämlich nicht früher verständigt. Die Feuerwehrleute hatten dann sogleich darüber beraten, ob man den Zug evakuieren solle. Dem hatten die Fachleute der NordWestBahn jedoch einen Riegel vorgeschoben. So etwas hätte ja nur völlig unnötige Gefahren heraufbeschworen. „Wir durften aus Sicherheitsgründen nicht aussteigen. Das wurde uns klar gesagt“, erzählte eine Reisende. Und da es alle erzählen, wird es wohl so stimmen. Ist ja auch klar. Sicherheit geht nun einmal vor. 

Freiheit steht halt immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Sicherheit. Absolute Freiheit kann es nicht geben, entartet zur Anarchie. Und Kundenfreundlichkeit bedeutet als allererstes, dass man sich um die Sicherheit des Geschäftspartners sorgt. Was nützt einem der schönste Tee, wenn man tot ist. Aha! Und die Niederrheiner hatten das dann auch eingesehen und die Anordnungen, wie es sich gehört, befolgt. Ein bisschen geweint schon, aber kein Pippi gemacht, und vor allem: kein Mensch hatte es gewagt auszusteigen. Freiheit und Verantwortung – das gehört nun einmal zusammen. Und wenn der „Talent“ gestern Abend um Viertel nach Neun nicht weitergefahren wäre, säßen sie da noch heute. Irgendwo am linken Niederrhein in Menzelen-West in Höhe der Schulstraße. Nicht der schlechteste Flecken Erde.

Pressefreiheit in Europa im Abwärtstrend

Als Berlusconi gestern (wieder mal) eine Vertrauensabstimmung im italienischen Parlament gewonnen hatte, erinnerte man sich daran, dass der Ministerpräsident nicht nur über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, den einen oder die andere Abgeordnete zu kaufen, sondern dass er die drei größten Fernsehstationen schon vor langer Zeit gekauft hatte. Da der Regierungschef zudem über einen erheblichen Einfluss auf die drei staatlichen TV-Sender verfügt, hören und sehen die Italiener auf allen Kanälen Tag für Tag, was für ein toller Hecht ihr Berlusconi ist. Und die Italiener sehen nun einmal lieber fern, als Zeitung zu lesen. Auf einer Werbeseite für Italien heißt es ganz unbefangen: „Generell wird in Italien aber weniger Zeitung gelesen als im europäischen Vergleich, Fernsehen und Radio spielen dagegen eine größere Rolle.“

Dass es um die Pressefreiheit in Italien nicht zum Besten bestellt ist, hat keinen großen Neuigkeitswert. Auf der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit, die die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ jedes Jahr erstellt, belegt Italien gegenwärtig den 49. Platz – gemeinsam mit Burkina Faso. Wer annimmt, bei Italien handele es sich um einen bedauerlichen Sonderfall, übersieht, dass zwar 13 der 27 EU-Mitgliedsstaaten unter den Top 20 vertreten sind, die anderen 14 aber deutlich weiter unten rangieren. Wer sich damit tröstet, dass es sich bei diesen 14 Staaten vorwiegend um osteuropäische Länder handelt, hat den Charakter der „Wertegemeinschaft“ Europäische Union nicht ganz verstanden – aber auch nicht ganz Unrecht.

Denn tatsächlich ist es um die Pressefreiheit in den nord- und westeuropäischen Ländern deutlich besser bestellt als in den süd- und osteuropäischen. Die skandinavischen Staaten Finnland, Island, Norwegen und Schweden stehen auf Platz Eins der Liste, ebenso wie die Niederlande und die Schweiz. Auch Österreich rangiert nur knapp hinter dieser Spitzengruppe. Deutschland ist auf dem 17. Platz schon ziemlich abgeschlagen; aber es ist noch ein recht ordentliches Ergebnis. 4,25 Punkte auf der Skala von 0 (die Spitzengruppe), Österreich hat 0,5 Punkte usw.: je mehr Punkte, desto weniger Pressefreiheit. Bis hin zu Nordkorea (104,75 Punkte), nur noch übertroffen von Eritrea (105 Punkte).

Verglichen damit sieht es freilich mit der Pressefreiheit gut aus in Europa. Aber will man sich damit vergleichen? Italien belegt – wie gesagt – den 49. Platz – von 178 Staaten, mit 15 Punkten. Und richtig: eine Reihe von südosteuropäischen Ländern ist noch schlechter platziert. Allein schon deshalb lassen sich die Defizite bei der Pressefreiheit nicht als italienischer „Sonderfall“ abtun. Überall in Europa geht es gegenwärtig abwärts. „Reporter ohne Grenzen“ warnt, dass die Europäische Union Gefahr laufe, ihre Führungsposition bei der Wahrung der Pressefreiheit einzubüßen. Bei der Präsentation des diesjährigen Berichts im Oktober erklärte ROG-Generalsekretär Jean-François Julliard gar: „Wenn die EU-Staaten keine Anstrengungen unternehmen, setzen sie ihre weltweit führende Position bei der Einhaltung von Menschenrechten aufs Spiel. Die europäischen Staaten müssen dringend ihre Vorbildfunktion wiedererlangen.“

Besonders besorgniserregend dabei: „Mehr denn je sehen wir, dass die wirtschaftliche Entwicklung, institutionelle Reformen und die Achtung der Grundrechte nicht unbedingt zusammen gehen „, so Julliard weiter. In einem Land zum Beispiel wird regelmäßig der übliche Genehmigungsweg außer Kraft gesetzt, wenn sich Geheimdienst und Polizei die Telefonrechnungen von Journalisten schicken lassen. Dabei berufen sich die Staatsorgane auf den gesetzlich geregelten Fall, dass „nationale Interessen“ berührt sind, womit sie eine „unabhängige Kommission“ ausschalten, die eigentlich jeden Zugriff genehmigen müsste. Stattdessen bespitzelt der Geheimdienst die Journalisten einfach so, erstellt anhand von GPS-Daten Bewegungsprofile, überwacht Handytelefonate und organisiert Einbrüche in Redaktionsbüros. Die wichtigen Posten in Medienunternehmen sind an persönliche Freunde des Staatspräsidenten vergeben, die wenigen unabhängigen Journalisten werden mit allen Mitteln in ihrer Arbeit behindert, nicht zuletzt auch deshalb, um die persönlichen Machenschaften des Präsidenten zu kaschieren.

Dabei handelt es sich bei diesem Land um eine der ältesten Demokratien Europas. Es liegt in Westeuropa, gehört zur EU, sogar zum Euroraum. Doch seit der gegenwärtige Präsident an der Macht ist, haben sich die Arbeitsbedingungen für Journalisten dramatisch verschlechtert. Jetzt rangiert das Land auf dem Index für Pressefreiheit hinter Ghana, Namibia und Papua Neuguinea. Es handelt sich um unseren großen Nachbarn im Westen. Auch das ARD-Magazin „ttt“ hatte kürzlich über die erschreckenden Bedingungen für Journalisten in Frankreich berichtet.

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Richard Holbrooke ist tot

Richard Holbrooke ist tot. Er starb gestern während einer Operation an seiner Halsschlagader im Alter von 69 Jahren. Barack Obama bezeichnete ihn als einen „wahren Giganten der US-Außenpolitik“, David Petraeus würdigte ihn als einen „Titanen“, Joe Biden nannte ihn den „talentiertesten Diplomaten seiner Generation“ und Hillary Clinton – vergleichsweise nüchtern – den „entschiedensten Verteidiger und treuesten Diener Amerikas“. Jetzt, nach seinem Tod, werden sich die anerkennenden Worte häufen. Dabei kann man über Holbrooke vieles sagen, nur eines nicht. Richard Holbrooke war nicht sonderlich umgänglich. 

Holbrooke war nicht der Typ von Kumpel, den man ständig um sich haben möchte. Und ob er, wie Biden formulierte, ein talentierter Diplomat war, ist letztlich eine Definitionsfrage. Obama hatte Holbrooke, dessen Beauftragter für Afghanistan und Pakistan er war, engmaschig kontrolliert, da Holbrooke ständig mit dem außenpolitischen Apparat im Weißen Haus aneinander geraten ist. Petraeus waren Holbrookes Bemühungen um eine Einbindung der Taliban in einen Aussöhnungsprozess ohnehin äußerst suspekt. Holbrookes tiefe Verachtung für Karzai war allgemein bekannt. 

Einzig Hillary Clinton stand in letzter Zeit voll auf seiner Seite; Holbrooke war ein enger persönlicher Freund der Clintons. Als er letzten Freitag im Büro der Außenministerin Bericht erstattete, platzte ihm die Halsschlagader. Holbrooke soll seine Beschwerden zunächst heruntergespielt haben, bevor er auf dem Weg zum Arzt zusammengebrochen ist. Der Riss an der Aorta wurde letzte Nacht 20 Stunden lang operiert. Richard Charles Albert Holbrooke, so sein vollständiger Name, überlebte die Operation nicht. 

In den Vereinigten Staaten ist es üblich, den Vornamen Richard auf die Kurzform „Dick“ zu reduzieren. Holbrooke mochte das nicht. Weniger wegen der obszönen Verwendung des Wortes für das männliche Geschlechtsteil, was ja dann alle Richards stören müsste. Vielmehr deshalb, weil unter einem „Dick“ ebenfalls ein unangenehmer Mensch verstanden wird. Man denke an den deutschen „Dickkopf“. Die „Naturgewalt der US-Diplomatie“ wollte nicht mit „Dick“ angesprochen werden; dabei konnte Holbrooke verdammt unangenehm werden. 

Unvergessen ist Holbrookes Rolle beim Zustandekommen des Dayton-Abkommens, das die Gräuel des Bosnienkrieges beendete. „Diese Soldaten“, stellte Holbrooke US-Militärs in Belgrad Slobodan Milošević vor, „befehligen die amerikanischen Luftstreitkräfte, die bereit stehen, Sie zu bombardieren, wenn wir nicht zu einer Einigung gelangen“. In Dayton (Ohio) pflegte er den serbischen Diktator anzuschreien und übte auch auf die anderen Konfliktparteien einen solch enormen Druck aus, dass ihnen ein Friedensabkommen als das kleinere Übel erscheinen musste – kleiner jedenfalls, als länger ihn ertragen zu müssen. 

Mit Richard Holbrooke verlieren die USA einen einmaligen Außenpolitiker – einmalig, aber doch ein Mann der „alten Schule“, insofern, als dass sein Denken und Handeln vornehmlich von der Zeit geprägt war, in der die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht meinten, der Welt ihren Willen aufdrücken zu können. Es zählt zu den bleibenden Verdiensten Holbrookes, nach dem dramatischen Versagen Europas das Gemetzel in Bosnien beendet und damit seinen Teil dazu beigetragen zu haben, dass der Balkan (jedenfalls bislang noch) nicht in einem mörderischen Chaos versunken ist. Jahrzehntelang war Holbrooke für den Auswärtigen Dienst tätig, u.a. war er 1993 für neun Monate Botschafter der USA in Bonn. 

Holbrookes Mutter Trudi Moos war 1933 nach der Machtergreifung der Nazis mit ihrer Familie von Hamburg nach Buenos Aires emigriert. 1939 wanderte sie dann in die USA ein, wo sie Holbrookes Vater kennenlernte, der Ende der 30er Jahre aus Weißrussland in die USA ausgewandert war. Holbrooke hinterlässt eine Frau und zwei erwachsene Söhne.

Neues Altes von der Rechtschreibreform: auf dem Weg zur vierten Fassung

Lesen bildet. Wenn man das Richtige liest, versteht sich. Wenn Lesen also bilden soll, liest man – kleiner Scherz – am besten die Bildzeitung. Des weiteren soll, so erzählt man es sich, wer viel liest, die Rechtschreibung besser beherrschen. Bekanntlich liegen die Dinge bei der deutschen Rechtschreibung ein wenig komplizierter. Sie wissen schon: die Rechtschreibreform, also die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996, deren reformierte Rechtschreibregeln in ihrer dritten Fassung 2006 eingeführt wurden.

Aller guten Dinge sind drei, heißt es. Man hätte annehmen dürfen, dass nach all dem Hin und Her um die Reform inklusive Nachbesserungen, Reform der Reform etc. pp. inzwischen ein Punkt erreicht wäre, an dem allen Konfliktparteien ein Reformstopp in dieser Sache entgegenkommen könnte. Doch weit gefehlt! „Rechtschreibrat fordert alte Schreibweise zurück!“ ist heute in der Onlineausgabe der Bildzeitung zu lesen. Mein erster Gedanke: das hätte ich nicht gedacht, dass sich die Reformgegner am Ende doch noch durchsetzen. Der zweite: wer ist eigentlich der deutsche Rechtschreibrat? Dann habe ich gesehen, dass es nur um „schlimmsten Blüten der Schlechtschreibreform von 2006“ geht.

Wieder einmal hatte mich die Bildzeitung mit einer ihrer Überschriften erschrecken können. Als der Schreck nachließ, fiel mir auf, wie wenig ich im Grunde über das geltende Recht in Sachen rechter Schreibung informiert war und aller Wahrscheinlichkeit nach immer noch bin. Über der fetten Überschrift „Rechtschreibrat fordert alte Schreibweise zurück!“ stand nämlich – zwar in roten Lettern, aber doch deutlich kleiner – geschrieben: „Butike, Scharm, Mohär“. Wie bitte?! Doch tatsächlich: so kann man es machen. In diesem Fall: schreiben. Rechtschreiben.

Man kann ganz scharmant in die Butike gehen und sich eine Mohärmütze kaufen. Wenn man möchte. Man kann und konnte und wird auch in Zukunft ganz charmant in die Boutique gehen und sich eine Mohairmütze kaufen können. Wenn man möchte, versteht sich, und wenn der Kleiderladen diese Kopfbedeckung im Angebot hat und man selbst sein gewinnendes Wesen mit solch einer bescheuerten Mütze verunstalten möchte. Wenn der eigene Kupee jedoch ein Kabrio ist, ist die Maläse offenkundig. Ohne die Mohairmütze hat man dann einen Katarr im Nacken, der eine Behandlung mit Krem oder gar mit Myrre erforderlich machen könnte. Okay, mit der Mütze sieht man freilich aus wie im Sketsch einer von der Maffia, um auch auf diese Fassette der ganzen Schose aufmerksam zu machen.

Mit alledem soll – vielleicht auch deshalb – jetzt endlich Schluss sein. So will es jedenfalls der Rat für deutsche Rechtschreibung, wie er in seinem jüngst fertiggestellten Bericht über seine Arbeit von März 2006 bis zum Oktober 2010 vorschlägt. Die Mitglieder dieses Rates – (fast) nur Professoren und so – hatten nämlich „Gebrauchserhebungen“ durchgeführt und bei der „Einordnung und Diskussion der zur Streichung vorgeschlagenen Variantenschreibungen“ (S. 23 f.) feststellen müssen, „dass ein fester Gebrauch ausschließlich bei den forciert integrierten Fremdwort-Variantenschreibungen beobachtet werden kann.“ Auf deutsch: die „integrierte Fremdwort-Variantenschreibung“, also die eingedeutschte Schreibweise, sorry: „Schreibung“, hat sich irgendwie nicht so recht gegen die „Fremdwort- Variantenschreibung“ durchsetzen können. Die Variantenschreibung wird deshalb Variantenschreibung genannt, weil ja bislang beide Varianten zulässig gewesen sind. Setzt sich also der Rat für deutsche Rechtschreibung mit seiner Anregung durch, ist künftig nur noch die Fremdwort- Variantenschreibung erlaubt, die dann jedoch keine Variantenschreibung mehr ist, weil die integrierte Fremdwort- Variantenschreibung dann verboten ist. Als deutsche Schreibweise, äh: Schreibung wird dann nur noch die Fremdwort-Variante als Recht bzw. Rechtschreibung anerkannt. Armes Deutschland!

Dann muss man ganz charmant in die Boutique gehen und sich eine Mohairmütze kaufen. Weil der eigene Coupé ein Cabrio ist, die Malaise also offenkundig ist, dass man ohne die Mohairmütze einen Katarrh im Nacken bekäme, der eine Behandlung mit Creme oder gar mit Myrrhe erforderte. Auch wenn man mit der Mütze freilich aussieht wie im Sketch einer von der Mafia, um auch auf diese Facette der ganzen Chose aufmerksam zu machen. Kurzum: künftig soll man in Deutschland zur Fremdwort-Schreibweise gezwungen werden. Und warum das Ganze? – Der Rat der Professoren meint, dass die eingedeutschte Schreibweise („integrierte Fremdwort-Variantenschreibung“) nicht angenommen wird, läge daran, dass die Fremdsprachenkenntnisse unserer Jugend immer besser würden. Man stelle sich das vor: englisch können sie. Aber deutsche Rechtschreibung: Fehlanzeige. Mir kann es egal sein. Es wird heute schon schwer bestraft, wenn ich die für meinen Klapprechner üblichen Bezeichnungen in integrierter Fremdwort-Variantenschreibung buchstabiere: Läpptopp oder Notbuk. Gehen gar nicht. Keine Schanse!

Was macht eigentlich die Duisburger Polizei?

Was macht eigentlich die Duisburger Polizei?
Richtig: sie macht alles richtig. Eigentlich immer, und ganz besonders dann, wenn es drauf ankommt. Also auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr. Wird es wirklich wichtig, macht die Polizei es richtig. Dazu drei Beispiele aus der jüngeren und jüngsten Duisburger Vergangenheit.

10. Januar 2009: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Ein voller Erfolg für die Duisburger Polizei. Mehr als zehntausend Menschen beteiligen sich an einer Demonstration gegen die israelische Militäroperation im Gazastreifen, zu der die islamistische Milli Görüs aufgerufen hatte. Als die Menge zwei israelische Fahnen gesehen hatte, die in die Fenster einer Privatwohnung am Rande der Demoroute gehängt waren, heizte sich die Stimmung enorm auf. Geistesgegenwärtig erkannte die Duisburger Polizei sogleich, dass hier Gefahr im Verzuge ist, und riss die Flaggen runter. Absolut gelungene Gefahrenabwehr: keinem Menschen ist irgendetwas zugestoßen, selbst die beiden weißen Stoffe mit dem blauen Davidstern kamen nur geringfügig zu Schaden. Bedenkt man, wie leicht sie hätten zu Brennmaterial an diesem kalten Wintertag werden können, muss man resümieren, dass die beiden Fahnen eigentlich die Hauptnutznießer dieser besonnenen Polizeiaktion waren. Dass dabei die Tür der Wohnung, die die Beamten aufbrechen mussten, ein wenig zu Schaden kam, war vor diesem Hintergrund zu verschmerzen, wie auch ein Universitätsprofessor der Juristerei in einem Gutachten feststellen konnte.

24. Juli 2010: Dass anderthalb Jahre später auf der Loveparade die Bilanz der Duisburger Polizei nicht in einem ganz so strahlenden Licht erscheinen konnte, ist weithin bekannt. Doch sie trifft, wie inzwischen längst von höherrangigen Behörden bestätigt, keinerlei Schuld an dieser Tragödie. Im Gegenteil: der damals amtierende kommissarische Polizeichef machte in seinem Einsatzbefehl sachkundig und detailliert deutlich, was bei dieser miserabel vorbereiteten Massenveranstaltung so alles passieren könne. Und wer weiß, was sonst nicht noch alles hätte passieren können, hätte die Duisburger Polizei nicht den Point of no Return ausgelöst, indem sie einen Rettungswagen in die Unterführung hatte passieren lassen – und mit ihm die an der Kulturveranstaltung interessierte Menschenmasse gleich mit. Niemand kann im Nachhinein sagen, dass ein Eintreten der Katastrophe zu einem späteren Zeitpunkt weniger Todesopfer gefordert hätte. Auch dass sich die Duisburger Polizei sogleich an die Aufklärung der Ereignisse gemacht hatte, obwohl sie nicht einmal dafür zuständig war, findet heutzutage auch kaum noch Beachtung. Fazit: irgendwie wusste man Bescheid; leider konnte dieses Wissen bei der Gefahrenabwehr nicht vollständig verwertet werden. Dennoch: die Polizei hatte alles richtig gemacht.

Ganz genau so liegt der Fall vom 28. November 2010: die Duisburger Polizei wusste genau, dass große Gefahr droht, konnte oder wollte dieses Wissen jedoch nicht verwerten, um nach dem deshalb eintretenden Schaden gegenüber der Presse zu erklären, dass „wir uns korrekt verhalten haben“. Der Reihe nach: am 18. November wurde der Sexualstraftäter Ricardo K. aus der JVA Werl entlassen, wo er in Sicherungsverwahrung einsaß. Daraufhin ließ er sich im Duisburger Stadtteil Homberg nieder – pikanterweise in direkter Nähe einer Grundschule und einer Kita. Der Duisburger Polizei war dieser Umstand lange im Voraus bekannt. Einige Tage nach K.´s Entlassung erklärte Duisburgs neue Polizeipräsidentin gegenüber der NRZ: „Wir haben uns auf diese Situation vorbereitet und arbeiten eng mit allen beteiligten Stellen zusammen, wie mit der Führungsaufsicht und dem Bewährungshelfer. Der Entlassene hat Auflagen bekommen und muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Diesen Auflagen kommt er bisher nach“.

Und weil sich K. so „kooperativ“ zeigte, stellte die Polizei seine Überwachung am 24.11. ein. Am 28.11. überfiel K. dann ein zehnjähriges Mädchen, das sich Gott sei Dank, obwohl er es am Hals gewürgt hatte, befreien und weglaufen konnte. Vorgestern, also am 06.12., zitierte „Spiegel Online“ aus polizeiinternen Unterlagen, die belegen, dass die Duisburger Polizei den 47-Jährigen für sehr gefährlich hielt. Sie erstellte ein „Personagramm“, das K. „eine starke antisoziale Störung“ sowie die Unfähigkeit bescheinigt, sich an die rechtlichen Normen der Gesellschaft zu halten. Wörtlich heißt es: „Er wird infolge seines Hanges zu erheblichen Straftaten für die Allgemeinheit als gefährlich eingestuft.“ Auch, dass nach Ansicht des Anstaltspsychologen eine Aussetzung der Sicherungsverwahrung nicht verantwortet werden konnte, lag der Duisburger Behörde vor. Mehrere Therapieversuche seien an der „Verweigerungshaltung“ des Häftlings gescheitert, gab der Psychologe zu Protokoll.

Auf diese Veröffentlichung angesprochen, erklärte der Pressesprecher der Duisburger Polizei gegenüber der Lokalpresse, dass „wir uns korrekt verhalten haben“. Die 24-stündige Observation sei personalaufwändig und könne mit den Persönlichkeitsrechten des Entlassenen in Konflikt geraten. Doch genau dies zu meistern, hatte die Polizeipräsidentin öffentlich zugesagt – nämlich „einerseits für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen und andererseits die Rückkehr des Mannes in ein straffreies Leben zu ermöglichen“.

Nachdem die Duisburger Polizei an dieser selbst definierten „Aufgabe“ gescheitert ist, lässt sich ihr Pressesprecher stets mit dem Hinweis vernehmen, dass „man eine Sicherungsverwahrung nicht auf der Straße nachstellen“ könne. Sehr geistreich. Drinnen ist etwas Anderes als draußen. Das dachten wir uns schon. Eine Frage muss aber zulässig sein: ist diese, sagen wir mal: unglückliche Bemerkung so zu verstehen, dass sich die Polizei außerstande sieht, die Bevölkerung vor einem potenziell gefährlichen Straftäter zu schützen. Die Frage muss deshalb gestellt werden, weil ein weiterer in Sicherungsverwahrung einsitzender Mehrfachtäter angekündigt hatte, sich nach seiner in Kürze anstehenden Entlassung ebenfalls in Duisburg niederzulassen.

Nachtrag: selbstverständlich ist es ein unhaltbarer Zustand, dass hochgefährliche Triebtäter entlassen werden und die Polizei zusehen muss, dass nichts passiert. Innenminister Jäger hat Recht, wenn er sagt, dass dieses Problem entstanden ist, weil der Bundesgesetzgeber zu lange untätig war. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte freilich auch richtig entschieden, dass es nicht angehen kann, Inhaftierten nachträglich eine Sicherungsverwahrung aufzubrummen. Wenn ein Gericht für Menschenrechte solch eine Praxis nicht für widerrechtlich erklärt, kann es sich auch gleich auflösen. Man denke daran, dass es auch in Europa Regime gibt, denen man für dieses rechtsstaatswidrige Instrument keinen Persilschein ausstellen möchte.

Der Deutsche Bundestag hat diese Angelegenheit letzte Woche in Ordnung gebracht und eine Neuregelung der Sicherungsverwahrung mit großer Mehrheit beschlossen. Die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung muss jetzt mit dem Strafurteil verkündet werden. Wichtig ist auch, dass Delikte ohne Gewaltanwendung wie Vermögensstraftaten jetzt nicht mehr Anlasstat für eine Sicherungsverwahrung sein können. Doch das neue Gesetz muss erst noch von den Ländern umgesetzt werden. Es kann also sein, dass der oben erwähnte, aus der Sicherungsverwahrung zu entlassende Mann nicht der einzige bleiben wird, den die Duisburger Polizei im Auge zu behalten haben wird. Ein Grund mehr, sich nicht mit den Einlassungen vom vermeintlich korrekten Verhalten zufrieden zu geben.

Eine verrückte Verschwörungstheorie

Sie wissen, was eine Verschwörungstheorie ist? – Nun ja, eine Theorie ist ein in sich logisches Erklärungsmodell, und eine Verschwörung ist eine auf Täuschung basierende, geheime Unternehmung einer kleinen Gruppe zur Verwirklichung eines Plans zulasten Dritter. Eine verrückte Verschwörungstheorie unterstellt, dass es auch Verschwörungstheorien geben muss, die nicht verrückt sind. Meistens sind jedoch Verschwörungstheorien verrückt, es sei denn, sie liefern ein realitätskongruentes Bild eines Ereignisses, das auf eine Verschwörung zurückzuführen ist. So weit, so klar; alles Nähere dazu können Sie ja nachsehen – nur so als Beispiel – bei Wikipedia. Nicht etwa bei Wikileaks, das ist etwas Anderes.

Ich gebe zu: ich habe ein Faible für Verschwörungstheorien. Verrückt, nicht wahr?! Aber mein Gott! Andere Leute lesen Krimis, manche tauchen sogar ab in Science-Fiction oder in Fantasyromane. So etwas interessiert mich nun einmal nicht, allenfalls Polit-Krimis. Wenn überhaupt. Aber Politkrimis funktionieren nun einmal am besten, wenn eine Verschwörung dargestellt wird. Das ist alles.

Die politischen Verschwörungstheorien heutzutage befassen sich meistens mit den USA. Der Kennedy-Mord, die Mondlandung, und zuletzt der 11. September – eine, wie ich in allem Ernst finde, besonders bösartige Verschwörungstheorie, die allen Ernstes suggerieren will, es gäbe im Grunde keinen islamistischen Dschihad-Terror, die USA hätten vielmehr den Massenmord vom 11.9.2001 „selbst gemacht“. Ein übles Geschwätz, in das relativ schnell antisemitische Figuren eingebaut werden. Seither sind mir Verschwörungstheorien sehr suspekt.

Aber ich habe nun einmal dieses Faible, und manchmal gibt es ja tatsächlich so etwas wie Verschwörungen. Zum Beispiel in diesen Tagen diese Wikileaks-Enthüllungen, die sind doch eine ziemlich große Sache. Und wie man sie auch immer dreht und wendet, irgendwie liegt hier eine Verschwörung vor, weshalb man hier ohne eine – wie auch immer geartete – Verschwörungstheorie nicht auskommt. Zunächst jedoch fasse ich in aller Kürze zusammen, was wirklich geschehen ist – also die Wahrheit, bevor ich Ihnen eine ziemlich verrückte Verschwörungstheorie präsentieren werde.

Hier also die Wahrheit: wie alle anderen Staaten unterhalten auch die USA in (fast) allen Ländern der Erde diplomatische Vertretungen. Aus diesen Botschaften wird in die Heimat gemailt (hier sagen wir: „gekabelt“), was sich in dem entsprechenden Staat politisch so tut, mit welchen Politikern man es zu tun hat, wie die die Welt so sehen, was die so vorhaben usw. usf. Möglicherweise ist dies auch ein Grund, warum die Botschaften Botschaften heißen. Egal.

Selbstverständlich sind diese Berichte, die im Fachjargon Depeschen heißen, in aller Regel geheim. Deshalb heißt die Diplomatie zum Beispiel Geheimdiplomatie. Im Fall der USA sah das dann so aus, dass diese paar hunderttausend Depeschen jeweils mit Vermerken wie „secret“, „top secret“ und manchmal sogar auch noch geheimer versehen waren. Und weil diese Berichte so streng geheim waren, durften sie auch von kaum jemanden gelesen werden. Nur so etwa achtzigtausend, höchstens zweihundertfünfzigtausend Leute kamen überhaupt rein in dieses Computernetzwerk. Und das waren auch noch alles Beamte!

Dennoch hat einer von ihnen, so ein charakterlich noch nicht recht gefestigter Schnösel von Anfang 20 alles verraten. Denn im Internetzeitalter geht so etwas ruckzuck. Musste James Bond noch jedes Blatt einzeln kopieren, reichten diesem Bubi ein paar Mausklicks, und schon waren die paar hunderttausend Dokumente bei Wikileaks.

Und diese Kameraden haben das ganze Zeug – wie könnte es anders sein – natürlich hochgeladen. Jetzt liegt die gesamte US-Außenpolitik in Scherben, eine riesengroße Blamage! Sogar Menschen sollen in Lebensgefahr sein. Dieser US-Milchreisbubi wird wohl mit 52 Jahren Gefängnis davon kommen, wohingegen der Boss von Wikileaks als Staatsfeind Nr. 1 der Weltmacht Nr.1 freilich damit rechnen muss, in absehbarer Zeit das Zeitliche segnen zu müssen.

Deshalb versteckt der sich, dieser Australier. Sein Name ist bekannt; seine Adresse nicht ganz, nur dass er sich in London aufhält, wissen wir. Die finden den dort aber nicht. Kein Wunder, der tarnt sich nämlich ständig. Ich zum Beispiel habe ihn allein in der letzten Woche mit drei verschiedenen Frisuren / Haarfarben abgebildet gesehen. Frech wie er ist, chattet er auch noch im Internet. Auch wenn er hops gehen sollte, gehen die Wikileaks-Veröffentlichungen weiter, tippt er. Da wissen sie jetzt Bescheid, die Vereinigten Staaten. Ja, auch eine Weltmacht ist verwundbar.

So, das ist das, was wirklich passiert ist, bzw. vor unser aller Augen geschieht. Wenn man ein wenig die Nachrichten verfolgt, weiß man das. Dies ist die Wirklichkeit, wenn Sie so wollen: die Wahrheit. Aber klar, obgleich die Dinge so offen auf dem Tisch liegen, werden wieder irgendwelche Verschwörungstheoretiker kommen und eine völlig andere Version präsentieren. So etwas ist heutzutage eben auch unvermeidlich. Wegen des Internets. Und so werden ihre abstrusen Fantasien weltweit verbreitet und ihre Anhänger finden.

Sie werden behaupten, dass, wenn nicht Obama persönlich, so doch Hillary Clinton oder wer auch immer, jedenfalls einer von denen ganz oben auf die Idee gekommen wäre, dass Informationen, die achtzigtausend oder vielleicht sogar zweihundertfünfzigtausend Leute haben, nicht mehr wirklich geheim zu halten sind. Wüssten mehr als fünfzigtausend Menschen Bescheid, bestünde die Gefahr, dass einer von ihnen auspacken könnte, wird dann jemand aus der US-Führung eingewandt haben, werden sie behaupten. Zynisch.

Und bestimmt werden auch noch ein paar ganz Schlaue kommen und behaupten, dass die ganze Affäre den USA doch gar nicht geschadet habe. Sie werden so weit gehen und bestreiten, dass es überhaupt ein Datenleck gegeben habe. Sie werden die Chuzpe besitzen und andeuten, dass die Veröffentlichungen im Spiegel und all den anderen angesehen Magazinen der Weltpresse gar im Interesse Amerikas gelegen habe. Sie werden andeuten, dass es den USA am liebsten gewesen wäre, die arabischen Staaten hätten selbst öffentlich gemacht, was ihres Erachtens am besten mit dem iranischen Mullahregime passieren solle. Sie werden die Meinung äußern, dass die Veröffentlichung, dass die USA bestimmte Politiker für Trottel halten, deshalb goutiert hätten, weil sie den Trotteln mehr schadet als den Amerikanern.

Den Verschwörungstheoretikern wird keine Unterstellung zu geschmacklos sein. Gut, dass wir wissen, wie es wirklich gelaufen ist. Siehe oben. Unter: die Wahrheit.

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Alle für den Steag-Aktienkauf: Stadt für Stadt, Partei für Partei

Kraftwerk Duisburg-Walsum; Foto: Thorsten Bachner via Wikipedia

Am Montag wird auch der Rat der Stadt Duisburg dafür stimmen, dass ein Verbund von Revier-Stadtwerken 51% der Steag kauft. Dies haben am Freitag die Fraktionsvorsitzenden der SPD, der Linken und der Grünen in einer gemeinsamen Pressekonferenz deutlich gemacht – freilich nicht, ohne den geplanten Aktienkauf „an eine Reihe von Forderungen“ zu knüpfen. Bereits vor einer Woche hatte Stefan Laurin an dieser Stelle gute Gründe gegen dieses Kaufvorhaben angeführt. Auch Befürworter einer Rekommunalisierung von Energieunternehmen lehnen den Erwerb der Evonik-Energiesparte ab. 

Die WAZ jedoch kann den linken Bremer Ökonomen Rudolf Hickel mit der Aussage zitieren, es sei „ordnungspolitisch der richtige Weg, die Energieerzeugung wieder mehr in die Hände der Kommunen zu legen.“ Damit werde ein Gegengewicht zu den Stromriesen RWE, EON, Vattenfall und EnBW geschaffen, erklärte er einem WAZ-Redakteur offenbar am Telefon. Mehr erfahren wir über dieses Gespräch nicht, und dass Hickel dafür ist, dass die Kommunen dem Oligopol der vier Großen etwas entgegensetzen, darf als gesicherte Erkenntnis gelten.
Dass „die Steag“, wie es in dem Artikel weiter heißt, „als ein solides Unternehmen angesehen“ wird, dagegen nicht. Zitat: „Nach WAZ-Informationen soll das Risiko für die Stadtwerke, die am Konsortium beteiligt sind, durchaus beherrschbar sein.“ Boah! Jedoch: nach meinen Informationen sind die Risiken, die sich aus der Steag-Übernahme ergeben, absolut unüberschaubar. Durchaus.  

Nicht minder puzzelig will die Konkurrenz von der Rheinischen Post ihren Lesern den Deal schmackhaft machen. Zunächst einmal auch hier der antimonopolistische Hinweis, dass „der Duisburger Verkehrs- und Versorgungskonzern gemeinsam mit seinen Bieter-Partnern seine Position gegenüber den vier großen privaten Energieversorgern deutlich verbessern kann.“ Damit das auch wirklich jeder versteht: „Das erhöht die Unabhängigkeit.“ Aber jetzt kommt das Argument, dem schon die Überschrift dieses Artikels gewidmet ist: „Wertvoll macht das 51-Prozent-Paket aber auch das Knowhow der Steag.“
„Das Knowhow der Steag“ – jetzt musste sie endlich kommen, die Aufklärung darüber, was das denn nun wieder sein soll. Natürlich: „Ihre Ingenieure gelten weltweit als ausgewiesene Fachleute.“ Knowhow ist etwas, das sich in den Köpfen befindet; und diese Köpfe wissen, wie man ein Kohlekraftwerk baut, beaufsichtigt und wartet und noch viel mehr. Das weiß nicht jeder. Aber woher weiß die Autorin, Hildegard Chudobba, Haus- und Hofschreiberin des Duisburger Oberbürgermeisters, dass die Steag-Ingenieure „weltweit ausgewiesene Fachleute“ sind? Egal, wird schon stimmen, also kaufen!  

“Da sind zum anderen die Kraftwerke im In- und Ausland, die zum Warenpaket gehören und der heute schon große Anteil regenerativer Energie, die Steag-Kraftwerke und ein gut ausgebautes Fernwärmenetz“, wirbt Chudobba. Dass die Kraftwerke in der Aufzählung gleich zweimal angeführt werden, mag zwar etwas komisch wirken, trifft aber den Nagel auf den Kopf. Kraftwerke, das ist es. Kohlekraftwerke, das ist die Steag. “Der heute schon große Anteil regenerativer Energie“ steuerte nach Angaben der linken Tageszeitung „Junge Welt“ 248 Millionen Euro zum Jahresumsatz 2009 bei, der sich insgesamt auf 2,6 Milliarden Euro Umsatz belief. Etwa neun Prozent, „heute schon groß“, aber das restliche Geld muss ja auch verdient werden.
991 Millionen Euro im Kohlehandel und 891 Millionen Euro mit den zehn deutschen Kraftwerken, fehlt noch gut eine halbe Milliarde, und die werden mit den Kohlekraftwerken in der Türkei, auf den Philippinen und in Kolumbien gemacht. Hier, also dort in Termopaipa (Kolumbien), sollen die Arbeitsbedingungen nicht ganz so toll sein („Come to RAG, we have a very good Betriebsklima“). Das fände der Hermann Dierkes, nur für den Fall, dass an dieser Kritik etwas dran sein sollte, freilich nicht ganz so gut, weshalb er findet, dass die kritisierten Missstände überprüft und abgestellt werden sollen.
„Notfalls müssen die Verträge gekündigt werden!“ Ja, der Hermann. Und, ganz wichtig, die „neue Steag“ soll kein Global Player wie RWE oder EON werden. „Wichtig“, sagt Dierkes, der Chef der Duisburger Linksfraktion. Wer ist dagegen schon Hildegard Chudobba, die Leiterin der Duisburger RP-Redaktion?! Sie schreibt: „Die Auslandstätigkeiten der Steag werten die kommunalen Bieter als ein zukunftsgerichtetes Engagement.“ Kann eigentlich nicht sein. Oder Hermann Dierkes müsste noch einmal mit den kommunalen Bietern reden.  

Sollte aber doch ein „zukunftsgerichtetes Engagement“ ins Auge gefasst werden … – okay, reine Spekulation. Aber was man hat, das hat man. Also zehn Kohlekraftwerke hier, drei im Ausland. Wenn nun aber der Preis für Steinkohle auch in Zukunft so dramatisch steigen sollte wie in den letzten Jahren? Reine Spekulation? – Mitnichten. So sicher die Preisschwankungen auf dem Weltmarkt sind, so sicher gehen die Rohstoffpreise, also auch der Preis für Steinkohle tendenziell nach oben. Von einem beherrschbaren Risiko, wie es in der Auftragspropaganda der Lokalpresse heißt, kann also keinerlei Rede sein.
Matthias Schneider, einer der beiden Sprecher der Duisburger Grünen, hält es gar für möglich, dass Evonik allein deswegen die Steag loswerden will. „Die verbrennen doch fast nur Steinkohle und die erneuerbaren Energien bringen zum Geschäftsergebnis kaum was ein“. Deswegen hatte die Mitgliederversammlung der Grünen am 11. November beschlossen, dass die Entscheidungsträger im Rat aufgefordert werden, „eine Beteiligung der Stadtwerke am Bieterkonsortium abzulehnen und das abgegebene Angebot nicht zu bestätigen. Stattdessen fordern die Duisburger Grünen eine klar ökologische Ausrichtung der Stadtwerke „als regionalen Stromversorger und Energiedienstleister“. In der Mitgliederversammlung wurde vor allem das Auslandsgeschäft der Steag mit Kohlekraftwerken, auf dem sogar die mittelfristige Finanzierung der Steag vollständig basiere, als zu risikoreich und als nicht mehr zeitgemäß kritisiert.  

Am Montag werden die Grünen dennoch dem Aktienkauf zustimmen, wie auch die beiden roten Fraktionen und viele CDU-Stadträte – allerdings mit einer Reihe von rot-rot-grünen Forderungen. Das neue Kohlekraftwerk in Walsum soll mit Kraft-Wärme-Kopplung ausgestattet werden, die Kraftwerke in Herne und Lünen sollen geschlossen werden, auf die Planung neuer Kohlekraftwerke soll ganz verzichtet und die Kohleverstromung langfristig gestoppt werden. Rot-Rot-Grün baut die „neue Steag“ zu einem ökologischen Energie-Erzeuger um.
Ja, so etwas erzählen die rot-rot-grünen Herren ganz ungeniert auf einer Pressekonferenz, und am nächsten Tag steht dieser Unfug dann ganz affirmativ in den Zeitungen. Die Übernahme wird jetzt ernst, da ist politischer Widerstand nicht zu gebrauchen.

Eurokrise: mit dem Knirps durch den Wolkenbruch

Als ich Anfang letzter Woche an dieser Stelle das Geständnis abgelegt hatte, so vor zehn, fünfzehn Jahren für den Euro geworben zu haben, bin ich von einigen Lesern dahingehend missverstanden worden, dass ich heute kein Euro-Befürworter mehr sei. Deshalb bitte ich um Nachsicht, dass ich mich selbst zitiere: „Die Folgen eines Scheiterns der Gemeinschaftswährung wären verheerend“, schrieb ich, gleichzeitig aber auch, dass „zu befürchten (steht), dass der Euro die nächsten beiden Jahre nicht überleben wird“. Diese Befürchtung ist in den letzten Tagen nicht kleiner geworden. 

Inzwischen ist Irland unter den sog. Euro-Rettungsschirm geschlüpft. Doch auch dort ist mittel- und langfristig keinerlei Rettung zu erwarten. Denn zum einen steigt der Zins, den Irland am Kapitalmarkt zahlen muss, ungebremst weiter. Der „Spread“, also die Renditedifferenz zwischen 10-jährigen irischen Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen, bewegt sich Richtung 7 %, wobei zu berücksichtigen ist, dass inzwischen auch die deutschen Zinsen steigen, weil die Anleger sich um die auf Deutschland zukommenden Belastungen sorgen. Auch dieser Trend ist nicht ganz ungefährlich

Unter dem „Euro-Rettungsschirm“ zahlt Irland einen Zinssatz von 5,8 %. Das ist weniger als die inzwischen knapp zehn Prozent, die auf dem freien Markt fällig werden, aber mehr als dieses Land auf absehbare Zeit bewältigen kann. Irland hat schon jetzt ein „Minuswachstum“ und deflationäre Tendenzen, und die Regierung musste ein rabiates Sparpaket auf den Weg bringen, was das BIP und die Preise weiter runterdrücken wird. Stellen Sie sich vor, Sie sind pleite und wissen, dass Ihr Einkommen in den nächsten Jahren kontinuierlich sinken wird. Und dann komme ich und biete Ihnen einen Freundschaftskredit mit läppischen 5,8 % Zinsen an. 

Inzwischen gilt es als ausgemachte Sache, dass spätestens im Januar auch Portugal den „Rettungsschirm“ wird in Anspruch nehmen müssen. Die Spekulation hat sich längst Spanien vorgeknöpft, schon allein um auszutesten, wie viel all die Rettungsversprechen im Ernstfall wert sind, um in Erfahrung zu bringen, wo man eigentlich mit dem Euro dran ist. Dass damit nebenbei auch leicht Geld verdient werden kann, ist ein angenehmer Nebeneffekt, aber nicht die Wurzel des Problems. Ein europäischer Staat nach dem anderen wird im nächsten oder in den nächsten Jahren bankrott machen. Es steht nirgendwo geschrieben, dass nach Spanien, also nachdem die sog. PIGS-Staaten durch sind, Schluss sein muss. 

Mitunter findet man „PIIGS“ auch mit zwei „i“ buchstabiert, womit dann auch noch Italien mit im Boot säße. Wie auch immer: für alle betroffenen Staaten gilt dasselbe wie für Irland. Durch das mit dem „Rettungspaket“ verbundene Spardiktat wird das Wachstum völlig abgewürgt und der Haushalt strukturell gegen die Wand gefahren. Brüderle hat schon recht, wenn er sagt, „der EU-Rettungsschirm sei eine temporäre Hilfe und kein dauerhaftes Transferinstrument“. Genau hier liegt das Problem. Brüderle sagte dies bei der Vorstellung des Buches „Rettet unser Geld“, das sein Parteifreund, der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel verfasst hat. „Er stimme nur in Teilen zu“, legte der Bundeswirtschaftsminister dar. Wir wissen nicht, in welchen Teilen. Henkel warnt in seiner Neuveröffentlichung vor dem „Totalausverkauf Deutschlands“. Die Bundesregierung setze mit ihrer milliardenteuren Beteiligung an der Rettungsaktion für Irland den Wohlstand der Republik aufs Spiel. Seit Beginn der Währungsunion glänze Deutschland als Zahlmeister, während andere Länder ungeniert kassierten. 

Noch widerspricht die Bundesregierung dem Sarrazin-Sympathisanten Henkel, doch letztlich nur halbherzig. Denn bei der Linie, die gegenwärtige Eurokrise mit kurzfristigen Rettungspakten und langfristig mit einer „Insolvenzordnung“ bewältigen zu wollen, handelt es sich – zurückhaltend formuliert – um eine große Illusion. Wenn gleichzeitig eine Transferunion, eine Wirtschaftsunion und damit letztlich auch eine politischen Union Europas entschieden abgelehnt wird, wird die Währungsunion nicht zu retten sein. Henkel verweist an dieser Stelle darauf, dass vor der Einführung des Euro die Welt doch auch halbwegs in Ordnung gewesen sei, dass also ein Auseinanderbrechen der Eurozone, wofür er offen plädiert, ein ökonomischer Segen sei – und zwar ohne größere politische Gefahren. 

Henkel plädiert für zwei Eurozonen: eine harte, um Deutschland herum aufgestellte im „Kerneuropa“, und eine andere, in der sich die „Sünder“, die Weichwährungsländer am Mittelmeer versammeln. Ausdrücklich zählt er Frankreich – im übrigen nicht völlig zu Unrecht – zur weichen Zone. Es liegt auf der Hand, dass mit einem solchen Zwei-Eurozonen-Modell die Achse Paris-Berlin (früher Paris-Bonn) der Vergangenheit angehören würde. Im Grunde würde der gesamte politische Integrationsprozess rückgängig gemacht. Ganz abgesehen davon, dass sich mit der Stärke eines D-Mark-ähnlichen Nordeuro die deutschen Exportchancen verdüstern dürften, wären die politischen Folgen dieses Euro-Auseinanderbrechens dramatisch. 

Die gegenwärtige Eurokrise verdeutlicht, dass Europa unausweichlich an einer Gabelung angelangt ist. Entweder es werden jetzt rasche und kräftige Schritte auf dem Weg zu einer ökonomischen und politischen Integration gegangen, oder Henkels Wunschszenario wird zunächst schleichend und dann mit einem großen Knall Wirklichkeit. Außenpolitisch hätten wir es auf dem Kontinent mit einer den meisten von uns nicht mehr bekannten Konstellation zu tun. Und innenpolitisch müssten sich nicht nur linke, sondern auch liberale Geister auf eine nachhaltig veränderte Atmosphäre einstellen. 

Die Sache ist noch nicht entschieden, doch die Chancen für ein Überleben des Euro stehen nicht gut. Selbst die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua – selbstverständlich „überzeugt, dass der Euro eine große Zukunft hat“ – beschwichtigt, dass „„falls die Krise Spanien überflutet, dann bedeutet dies großen Ärger, aber auch nicht das Ende des Euro“, um dann anzumerken: „Eine Auflösung der Euro-Zone wäre politisch untragbar.“ Wenn sich diese Befürchtung inzwischen schon bis nach China herumgesprochen hat, sollte man sie im direkt betroffenen Gebiet ein wenig ernster nehmen. 

Eine Währungsunion aus Deutschland, Benelux, Österreich und ein oder zwei skandinavischen Ländern plus der Schweiz als assoziiertem Mitglied. Grüezi, Bhüeti, Hoi und Moin, liebe Rechtspopulisten alle miteinander!