
Überlegungen zum Antisemitismus als Mobilsierungsfaktor. Von unserem Gastautor Jonas Dörge.
Wenn jemand mit einer Person, die jüdisch ist und ihre Furcht vor dem deutschen Rechtsextremismus ausdrückt, nicht einverstanden ist und ihr antwortet „packen Sie schon mal Ihre Koffer“ oder „ich wünsche schon mal eine gute Reise …“[1] spricht aus diesem die Weltanschauungen des Antisemiten. Der Spruch, man solle doch gehen, trifft vor allem Juden aus dem linken oder linksliberalen Spektrum, die ihrer Furcht vor dem Erstarken des deutschen Rechtsextremismus mit dem Gedanken der Auswanderung Ausdruck verleihen. Selbstverständlich ist es legitim, auch Juden zu widersprechen, ja, man kann auch gegen sie polemisieren, insbesondere dann, wenn man meint, dass sie sich vor einen Karren spannen lassen, der sie irgendwann gnadenlos liegen lässt, wenn nicht sogar überfahren wird.
Es mag zwar übertrieben und unbegründet sein, wenn Juden fürchten, Objekt der Verfolgung zu werden, wenn eine Partei wie die AfD an einer Regierung beteiligt wird, oder gar zur führenden Regierungspartei wird und sie daher ankündigen, das Land zu verlassen, sollte es dazu kommen. Doch der Satz, ich habe einen gepackten Koffer im Flur stehen, ist keine Floskel sondern Ausdruck eines tiefsitzenden jüdischen Traumas, das von einer deutschen Politik, einer deutschen Volksgemeinschaft herrührt. Wenn nun aus einem politischem Spektrum heraus, dessen Grenzen zum deutschen Rechtsextremismus fließend sind, politische Gegner, die sich selbst als Juden sehen oder als solche ausgemacht werden die Auswanderung empfohlen wird, muss das einem den kalten Schauer über den Rücken jagen.
Denn ob man sie darauf hinweist ihre Koffer zu packen oder „Free Palestine!“ ruft, bedeutet dem Grunde nach das selbe: „Juden raus!“ Der Unterschied zwischen den beiden Parolen ist, die eine aus dem rechten Spektrum Deutschlands ist (noch) nicht in der Lage, die Massen zu mobilisieren die andere ist Ausdruck einer, seit zwei Jahren andauernden, permanenten Mobilisierung, die wiederum jenen egal ist, denen die Aussagen Priens, Friedmans und anderer als Beweis dafür dient, die Machtergreifung einer Nazipartei stünde unmittelbar bevor.
Doch entgegen vielfach geäußerter Darlegungen diverser Experten, der deutschvölkische Nationalismus des mittlerweile die AfD dominierenden Flügels kann nur als billige Farce dessen betrachtet werden, was als Deutschtum bis zur Formierung als Volksgemeinschaft zu beobachten war.[2] Die Wahnidee von der Allmacht der Juden stellt sich im Wähler- und Anhängerpotential der AfD und in Aussagen diverser Mandatsträger dieser Partei zwar als messbarer sekundärer Antisemitismus dar, wird aber als Parole in Programmen oder in den Schriften der Partei ganz im Gegensatz zum Nationalsozialismus nicht ausgegeben.
Darüber hinaus taugt das Geraune über George Soros, der eine verrückt gewordene Jugend steuere und dem deutschen Volk qua großem Austausch den Tod bereite, die Denunziation einer Anetta Kahane als bolschewistisch-jüdische Kommissarin, die den aufrechten Deutschen dem Meinungsdiktat einer Elite von Globalisten ausliefere usw., heute kaum dazu, zu Aufmärschen an den Universitäten, zu Aufzügen auf den Straßen, zu Boykotthandlungen gegen jüdische Geschäfte oder zu öffentlichen Beifallsbekundungen und der Huldigung für judenfeindliches Kunsthandwerk zu mobilisieren.
Die AfD steht für eine schlechte Wiederkehr dessen, was die deutsche Nachkriegsgesellschaft ausmachte und nicht für den Aufstieg einer nationalsozialistischen Partei wie in den zwanziger Jahren. Dass insbesondere die FDP dies in den fünfziger Jahren auch war, je nach regionalen Besonderheiten auch die SPD, die CDU und die CSU und es heute vor allem und zuallererst die Partei Die Linke ist bleibt im Bewusstsein derer, die die AfD als eine antisemitische Partei bezeichnen von den Darstellungen auch dann ausgespart, wenn man an anderer Stelle festgestellt hat, dass Geschichtsrevisionismus, Schuldabwehr und struktureller Antisemitismus in der AfD an die für die fünfziger und sechziger Jahre typische politische Kultur erinnern. Die Partei hat die völkische Resterampe parteipolitisch eingemeindet, die unter Helmut Kohl und vor allem unter Angela Merkel aus der CDU herausgedrängt wurde und die – anders als zu Möllemanns Zeiten – auch in der FDP heute keinen Platz mehr hat. In einer Partei, die halb so groß ist wie es die CDU unter Kohl und Adenauer einmal war, erscheint der in Deutschland nie verschwundene Bodensatz reaktionär-völkischer Ideologie daher umso bedrohlicher.
Auf einer Feier der Burschenschaft Normannia in Heidelberg wurde 2020 ein Partygast gefragt, ob er Jude sei. Nachdem dieser das bejahte, zogen fünf bis sechs Personen ihre Gürtel. „Die Gruppe schlug den 25-Jährigen demnach gegen die Beine, den Rücken und in die Weichteile, während dieser lautstark ‚Hört auf!‘ rief. Eingeschritten sei niemand. Neben Gürtelschlägen seien Beschimpfungen auf den Studenten ein geprasselt: ‚Drecksjude‘, ‚Saujude‘ und ‚Judensau‘. […]. Dann sei er aus dem Pulk heraus mit Münzen beworfen worden.“[3] In Deutschland sind Rechtsextreme, die ihrer Tradition bewusst sind, und dann den Gürtel ziehen, wenn sie eines Juden gewahr werden nach wie vor existent. Doch die traditionsbewussten Verbindungsstudenten zogen ihre Gürtel nicht auf offener Straße, wie es der Syrer Knaan Al S. mitten in Berlin tat[4], sondern im von der Öffentlichkeit abgeschotteten Vereinslokal. Anstelle der Braunhemden, die auf den Straßen deutscher Städte das Lied vom Messer, von dem Judenblut spritzen soll, anstimmten und Angst und Schrecken unter den jüdischen Bürgern verbreiteten sind es heute andere Organisationen, die an den Universitäten den „Geist des Widerstandes“ gegen das jüdisches Unrecht einen Staat gegründet zu haben hochhalten und die ganze Stadtviertel zu No-Go-Areas für Juden machen. Diese, die heute die Massen mobilisierenden Volkstumskämpfer mit Ramallah-Hintergrund setzen dabei vor allem auf die tätige Mithilfe der Parteigänger der Partei Die Linke und sehen sich im Einklang vieler Medien, die das Gerücht über den Jüdischen Staat verbreiten.
Doch der deutschen Gesellschaft ist der Antisemitismus in doppelter Hinsicht gleichgültig. Das antisemitisch grundierte Geraune von der Weltherrschaft der „Globalisten“ und über den von einem vermeintlich einflussreichen Juden angestrebten „Volkstod“ und der in der AfD stärker als im Rest der Bevölkerung vertretene strukturelle Antisemitismus taugen genauso wenig dafür, die rechtsextremen Judenhasser im nennenswerten Umfang zu antisemitischen Aufmärschen zu mobilisieren, wie es den rechtsextremen Israelhassern gelang, Kundgebungen gegen Israel im nennenswerten Umfang auf die Beine zu stellen. Doch auch als der AfD-Politiker Stephan Brandner sich über die recht spärlichen Solidaritätsbekundungen angesichts des Attentats auf die Synagoge in Halle mokierte, es seien schließlich keine Deutschen gewesen, die vom Terror bedroht gewesen seien[5], lag dieser Unmensch mit seiner Einschätzung daneben. Denn selbst wenn Attentäter oder Mörder wie zum Beispiel die auf ideologische Versatzstücke des Nationalsozialismus rekurrierenden Täter Balliet, Rathien oder auch der NSU, Juden bedrohten oder zum Ziel ihrer Attentate auswählten, war und ist dies genauso wenig Gegenstand zur Mobilisierung der Empörung der sogenannten Zivilgesellschaft gewesen, wie es der 7. Oktober gewesen war.
Der Beitrag fußt auf den umfassenderen Ausführungen des Autors im Artikel: Partei mit völkischer Resterampe. Die AfD und
der Antisemitismus, Bahamas 96, 2025.
[1]Prien würde unter AfD-Kanzler auswandern – AfD-Politiker setzt hämischen Post ab, Die Welt 10.10.2025 ( https://www.welt.de/politik/deutschland/article68e7c8f8daea3e0002fb4bc2/prien-wuerde-unter-afd-kanzler-auswandern-afd-politiker-setzt-haemischen-post-ab.html )
[2]Der Historiker Georg L. Mosse sprach in seinen Untersuchungen zur Entstehung des Nationalsozialismus von einer Völkischen Revolution. Wer einigermaßen bei klarem Verstand ist, wird konstatieren müssen, dass trotz erschreckender Wahlergebnisse der AfD von einem Prozess der als revolutionär zu beschreiben wäre, heute nicht die Rede sein kann.
[3]Burschenschaft Normannia: Bewährungsstrafen nach antisemitischem Vorfall bestätigt, Jüdische Allgemeine, 27.09.2024. ( https://www.juedische-allgemeine.de/politik/burschenschaft-normannia-bewaehrungsstrafen-nach-antisemitischem-vorfall-bestaetigt/ )
[4]Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Gürtel-Schläger, Jüdische Allgemeine, 18.05.2018. ( https://www.juedische-allgemeine.de/politik/staatsanwaltschaft-erhebt-anklage-gegen-guertel-schlaeger/ )
[5]Halle und die Rolle der AfD, Jüdische Allgemeine, 24.10.2019. ( https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/halle-und-die-rolle-der-afd/ )
