Die unbekannte Revolution, die bis heute die Welt verändert

Das Kraftwerk Datteln 4. Foto: Robin Patzwaldt


Die wichtigsten Erfindungen stammen aus den 1880er-Jahren. Sie bildeten die Grundlage für eine radikale Verbesserung der Lebensumstände. unserem Gastautor Axel Bojanowski.

Die wichtigsten Erfindungen stammen aus den 1880er-Jahren – es folgte ein Aufschwung, wie ihn die Welt nie zuvor gesehen hat. In den 1880er-Jahren ereignete sich eine stille Revolution, die bis heute die meisten technischen Neuerungen ermöglicht. Vielen gelten Smartphone und Internet als besondere Durchbrüche. In Wirklichkeit, schreibt der Technologie-Forscher Vaclav Smil, handele es sich bei den meisten technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte um Variationen zweier grundlegender Erfindungen aus den 1880er-Jahren: des Mikroprozessors und der Radiowellen.

»Immer leistungsfähigere Mikrochips steuern heutzutage alles, vom Indus­trieroboter über den Autopiloten eines Passagierflugzeugs bis zu Küchenherden und Digitalkameras, und mobile Kommunikation nutzt ultrahochfrequente Funkwellen«, schreibt Smil. »Tatsächlich waren die vielleicht produktivste Blütezeit des menschlichen

Erfindergeists die 1880er-Jahre«, resümiert er. In den 1880er-Jahren wies Heinrich Hertz experimentell die von James Maxwell vorausgesagte Existenz elektromagnetischer Wellen nach.

Die von Mikrochips gesteuerte Welt ist auf Versorgung mit elektrischem Strom angewiesen, zunächst auf Dampf- oder Wasserkraft betriebene Kraftwerke; die Dampfturbine stammt ebenfalls aus den 1880ern. »Beide Grundtypen der Stromgewinnung gelangten 1882 zur Marktreife und liefern noch heute mehr als 80 Prozent des weltweit erzeugten elektrischen Stroms«, erläutert Smil. Hinzu kam eine Reihe kleinerer Innovationen aus den 1880ern: elektrisches Bügeleisen, reißfestes Packpapier, Straßenbahn, Fahrräder mit gleich großen Rädern, Drehtür, Stahlskelett-Wolkenkratzer, Fahrstuhl, Kugelschreiber – und Autos.
»Die technischen Großtaten der Herren Benz, Maybach und Daimler, deren Erfolge Rudolf Diesel bei der Entwicklung benzingetriebener Motoren dazu inspirierten, gerade einmal ein Jahrzehnt später mit einer effizienteren Alternative zum Benzin-motor aufzuwarten«, schwärmt Smil. Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann der effizienteste aller Verbrennungsmotoren erfunden: die Gasturbine.

Die Lebensspanne der Schauspieler-Brüder Paul und Attila Hörbiger, geboren 1894 und 1896, illustriert die darauffolgende Revolution. Beide lebten fast 90 Jahre, starben 1981 beziehungsweise 1987 und wurden Zeugen einzigartiger Umwälzungen. Ihre Geschichte erzählt der Ingenieurswissenschaftler und Philosoph Alexander Schatten von der Universität Wien in seinem empfehlenswerten Wissenschaftspodcast »Zukunft Denken«. Die Hörbigers lebten als Kinder in Budapest, später die meiste Zeit in Wien. »In den 1890er-Jahren gab es keinen elektrischen Strom, kein Fließwasser und keine Toiletten in den Wohnungen, kein Telefon und auch keine Autos und Flugzeuge«, erzählt Schatten. »Und es gab noch keinen Film, der die beiden später berühmt machen sollte.« Die Geschichte nahm Fahrt auf.

Im Alter von ungefähr 15 Jahren genossen die beiden zum ersten Mal fließendes Wasser in einer Wohnung, warme Duschen folgten. Anfang des 20. Jahrhunderts bezeugten die Hörbigers die ersten bemannten Flug-zeuge, die ersten Rennautos. Die Elektrifizierung revolutionierte den Alltag; Städte erleuchteten. Die Hörbigers erlebten die Goldenen Zwanziger, den euphorisierten Durchbruch der Moderne, als Schauspieler.

Ein entscheidender Fortschritt stand kurz bevor: die Entdeckung des Penicillins 1928 durch den britischen Mediziner Alexander Fleming. Zu spät für den 16-jährigen Sohn von US-Präsident Calvin ­Coolidge, der sich 1924 beim Tennisspielen eine kleine Blase am Zeh zugezogen hatte. Diese entzündete sich, der Junge starb binnen Tagen an einer Blutvergiftung – wie so viele Menschen: Antibiotika halfen bald, solche Tragödien zu verhindern.

Auch Impfungen und andere medizinische Fortschritte verschafften Menschen bald ein längeres und besseres Leben mit weniger Schmerzen. In ihren Sechzigern begannen die Hörbigers den Komfort moderner Haushalte zu genießen: Kühlschränke, elektrische Geräte setzten sich durch in Europa, bald auch die Waschmaschine, die zur Bildungsrevolution beitrug.

Eine Erfindung von 1908 revolutionierte ab den 1960er-Jahren die Ernährung: Das Haber-Bosch-Verfahren ermöglichte die Massenherstellung von Dünger aus Erdgas und Luft. Das ließ die Landwirtschaft weltweit erblühen, rettete Abermillionen das Leben und sorgte dafür, dass Menschen heutzutage weitaus mehr zu essen haben, trotz rasanten Bevölkerungswachstums. Auch die Zahl extrem armer Menschen ging dramatisch zurück.

Die Entdeckung des menschlichen Erbguts, der DNA, erlaubte neue Formen der Medizin. 1969 wurden die Hörbigers, in deren Jugend man sich noch per Kutsche fortbewegt hatte, Zeugen der ersten Mondlandung. Die beiden Brüder erlebten auch noch, wie Ende der 1970er-Jahre die Pocken ausgelöscht wurden. Die Welt, in der die Hörbiger-Brüder ihr hohes Alter erreichten, hatte kaum noch Gemeinsamkeiten mit der ihrer Jugend. Es war nun eine Welt, in der es die meisten Menschen leichter hatten.

Ein Kind zu Goethes Zeit konnte nicht erwarten, älter als 30 Jahre zu werden. Es hatte höchstwahrscheinlich den Tod eines oder mehrerer Geschwister erleben müssen. Ein zehnjähriges von heute erreicht mit größerer Wahrscheinlichkeit das Rentenalter als seine Vorfahren ihren fünften Geburtstag. Vor 200 Jahren wuchsen viele ohne Mutter auf, weil sie bei einer Geburt gestorben war. Gewalt und gar Kriege gehörten zum Alltag.

Die Umwelt wurde ausgebeutet, der tägliche Überlebenskampf erlaubte keine Rücksichtnahme auf die Natur – erst der zunehmende Wohlstand des 20. Jahrhunderts in marktwirtschaftlich organisierten Ländern änderte das. Aufklärung, Bildung und Meritokratie brachten einen nicht für möglich gehaltenen Aufschwung, der die Lebenserwartung verdoppelte und auch in armen Ländern den Zugang zu Nahrungsmitteln und Bildung erheblich verbesserte.

Die Chance, in einer Demokratie zu leben mit individuellen Rechten, erhöhte sich ständig, das Risiko, in einer Naturkatastrophe zu sterben, hingegen ist um mehr als 95 Prozent gesunken. Im 19. Jahrhundert war Unterernährung normal, ebenso wie Hungersnöte; Kinder waren hager. Sie genossen keine Schulbildung, wurden stattdessen zur Arbeit eingesetzt. Sicherheit gab es nicht; Mädchen wurden an Fremde verheiratet, mussten im Haushalt arbeiten, Jungs schufteten lebenslang, mussten ihren Körper schinden, ohne Rechte auf Selbstschutz.

In manchen Gegenden ist Kinderarbeit noch immer üblich, doch immer mehr Länder verzichten darauf. Der schwedische Politikwissenschaftler Johan Norberg erzählte die Geschichte der beiden Dokumentarfilmer Lasse Berg und Stig Karlsson, die in einem indischen Dorf die 12-jährige Satto kennenlernten, welche täglich auf dem Feld arbeitete. Die Filmer fotografierten die zerfurchten Hände des Mädchens. Als sie Jahre später zurückkehrten, machten sie ein Foto von Sattos 13-jähriger Tochter Sajani. Ihre Hände waren jung und weich. Die Hände eines Mädchens, das spielen und lernen durfte.

Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem neuen Buch von Axel Bojanowski „33 erstaunliche Lichtblicke, die zeigen, warum die Welt viel besser ist, als wir denken: Mit über 100 mehrfarbigen Abbildungen und Tabellen“ (Westend-Verlag) 

Axel Bojanowski diplomierte an der Universität Kiel über Klimaforschung. Seit 1997 arbeitet er als Wissenschaftsjournalist, unter anderem für Die Zeit, Nature Geoscience, Geo, Stern und die Süddeutsche Zeitung. Er war Redakteur beim Spiegel, dann Chefredakteur bei Bild der Wissenschaft und Natur. Seit August 2020 ist er Chefreporter für Wissenschaft bei WELT. Bojanowski hat fünf Sachbücher verfasst. Der Berufsverband Deutscher Geowissenschaftler hat ihn 2024 für seine publizistischen Leistungen ausgezeichnet.

 

 

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