Premiere in Oberhausen: Die unendliche Geschichte

"Die unendliche Geschichte" in Oberhausen (Foto: Axel J. Scherer)
„Die unendliche Geschichte“ in Oberhausen (Foto: Axel J. Scherer)

Ein Kinderstück zum Spielzeitauftakt? Noch dazu, wenn es die letzte des Intendanten Peter Carp in Oberhausen ist, bevor er an das Theater Freiburg geht. Das mutet erstmal merkwürdig an. Fast könnte man den Trend, den wir bisher nur aus Supermärkten kennen, dahinter vermuten: Der immer früher einsetzende Start der Spekulatiuszeit. Doch wie wir es von Peter Carp und seinem Theater kennen, ist alles ein bisschen anders. Weder ist „Die unendliche Geschichte“, die am 17.9. Premiere in Oberhausen hatte, ein reines Kinderstück, noch das diesjährige Weihnachtsmärchen des Theaters (Als Weihnachtsstück zeigt Oberhausen ab dem 27. November „Ronja Räubertochter). Michael Endes berühmten Roman einfach als Kinderbuch oder Fantasy abzutun, würde schließlich auch zu kurz greifen. Michael Endes Roman über die Rettung Phantasiens ist eines der großen Meisterwerke der phantastischen Literatur und unter der Märchenoberfläche eine vertrackte Reflexion über das Geschichtenerzähler und das Lesen.

2014 bearbeitete Henry Mason „Die unendliche Geschichte“ in zwei Teilen für das Theater der Jugend in Wien.  Den ersten Teil dieser hochgelobten Inszenierung übernimmt nun das Theater Oberhausen. Regisseur Michael Schachermaier übernahm die Neueinrichtung. Der Schüler Bastian Balthasar Bux klaut in einem Antiquariat ein Buch mit dem Titel „Die unendliche Geschichte“. Auf dem Dachboden seiner Schule versteckt er sich und beginnt zu lesen. Immer mehr wird er hineingezogen in die Story um das Land Phantasien und seine kindliche Kaiserin, das von dem sich ausbreitenden Nichts bedroht wird und nur gerettet werden kann, wenn ein Mensch von der Außenwelt in die Fantasiewelt übertritt, um der kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben. Mit dem Moment, in dem Bastian versteht, dass er dieser Retter ist, endet der in Oberhausen gezeigte erste Teil. Gemeinsam mit der kindlichen Kaiserin, die er „Mondenkind“ tauft,  sitzt er am Schluß inmitten des Nichts und muss beginnen, Phantasien neu zu erfinden.

Eher unüblich ist es im Theater eine Inszenierung mitsamt der Ausstattung zu übernehmen, aber mit dem eigenen Ensemble zu besetzen. Wir kennen diese Vorgehensweise eher von kommerziellen Musicals, die weltweit bis auf den Millimeter genau gleich aussehen. Im Sprechtheater, wo die individuelle Gestaltung der Rollen durch die Schauspieler elementar ist, scheint ein solches Vorgehen nahezu unmöglich. In Oberhausen geschieht dabei aber etwas ganz Erstaunliches: Bereits in den ersten Minuten der Aufführung sehen wir etliche Mitglieder des Ensembles, denen die Rollen auf den Leib geschneidert zu sein scheinen. Hartmut Stanke als grantelder Buchhändler im fahrbaren Sessel ist wunderbar, Anna Polke scheint als Lehrerin in der Rolle ihres Lebens angekommen zu sein, Henry Meyer wird mit seinem Wischmob zum Schulhausmeister an sich und Torsten Bauer ist als überforderter Vater Bastians in seinem Element. Und das sind nur einige der schauspielerischen Kabinettstücke, von denen die meisten Ensemblemitglied (neben den genannten ebenfalls großartig in diversen Rollen: Klaus Zwick, Susanne Burkhard, Eike Weinreich) an diesem Abend gleich mehrere liefern. Und dann sind da die Hauptrollen: Der Bastian von Thies Brammer, der bis in die Physiognomie hinein alles liefert, was man sich wünscht. Moritz Peschke, der mit langer Zopfperücke ein wunderbar exotischer Atreju zwischen Unsicherheit und Heldenwillen ist. Angela Falkenhahn, deren kindliche Kaiserin tatsächlich mit strahlender Reinheit und geheimnisvoller Alterslosigkeit ausgestattet ist. Und Peter Waros, der den Glücksdrachen Fuchur als Puppe führt und ihn mit seiner unendlich sympathischen Stimme zum perfekten Gefährten in jeder ausweglosen Situation macht. Wie sie alle sich mit Verve in ihre vielen Rollen werfen, belegt  vor allem auch eines: Die erstaunliche Qualität dieses Schauspielensembles. Und damit zeigt sich auch, warum dieser Abend eine perfekte Wahl für den Auftakt der letzten Spielzeit in Oberhausen war – er ist ein Geschenk Peter Carps an seine Darsteller.

„Die unendliche Geschichte“ ist ein großer Theaterabend und ein großer Abend über das Theater. Um Phantasien zu erschaffen, braucht es eine Vielzahl an Mitteln aus der Schatztruhe des Theaters. Da sind die fantasievollen wie witzigen Kostüme von Julia Beyer (wie ist das eigentlich möglich, dass die Darsteller sie so schnell wechseln?), die großartigen Puppen von Rebekah Wild, Ewan Hunter und Jan Zalund, die vom Schauspielensemble geführt werden, als wären sie alle erfahrene Figurentheaterexperten, und die vielen kleinen Requisitenideen, die aus dem Bereich des Objekttheaters kommen. Nur ein Beispiel: Die Rennschnecke, die aus einem Flügelhorn und zwei Paukenschlegeln entsteht.

Wolfgang Petersens Verfilmung der unendlichen Geschichte von 1984 gilt als gescheitert. Spätestens in Oberhausen wird klar, woran das lag. Während das Mainstreamkino immer alles als perfekte Illusion zeigen muss, hat das Theater die Möglichkeit, mehr zu sein. In der Lücke zwischen der offensichtlichen Gemachtheit und der behaupteten Illusion entstehen die magischen Augenblicke des Theaters. Wir sehen den Schauspieler der an Stäben die Puppe bewegt, aber die Puppe ist so lebendig, dass wir nicht glauben können, dass sie an Stäben geführtes Holz und Pappmaschee ist. Diese Eigenleistung des Zuschauers ist es, die Michael Ende so nachdrücklich schon von seinen Lesern im Roman einfordert: Die Fantasie. Die Fantasie braucht die Leerstelle, um arbeiten zu können. Diese produktiven Leerstellen kann die Literatur und das Theater schaffen. Das Hollywoodkino muss sie immer mit Bildern füllen. Im Film ist eine Leiter eine Leiter, auf der Oberhausener Bühne wird sie zu einem Berggipfel, wenn die Nebelmaschine am Boden eine Wolke zaubert und Atreju sie mühsam erklimmt. Indem hier auch von den Mitteln des Theaters erzählt wird, spiegelt die Inszenierung genau das, was Michael Endes Roman so zwingend und zu großer Literatur macht. Wir sind nicht einfach Leser und Zuschauer – wir sind ein unerlässlicher Teil des Theaters. Das zu erleben macht diesen Abend zu einem perfekten Spielzeitauftakt für alle wachen Zuschauer – egal ob sie zehn Jahre oder hundert sind.

Termine und Karten: www.theater-oberhausen.de

 

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