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Reisehandbuch für Gran Terrassia


Harriet Köhler legt mit „Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“ eine kluge und charmante Handreichung für das reisetechnische Sommerloch 2020 vor.

Auch wenn erste Lockerungen nach dem Shutdown für die Zeit ab Anfang Mai vorsichtig anvisiert werden, so ist doch jetzt bereits ziemlich klar, dass sich die Reisesperre bis in den Herbst des Jahres ziehen wird. Zeit also, sich an de Gedanken zu gewöhnen, den Sommer in den eigenen vier Wänden und der näheren Umgebung zu verbringen. Dafür hat die Autorin Harriet Köhler ein bemerkenswertes 14-Tage-Programm entwickelt.

Die Autorin gehört selbst zu den Reisebegeisterten, die gerne, viel und weit reisen, jedoch vor einiger Zeit vor dem Hintergrund des Umweltschutzes ihre eigenen Reisegewohnheiten selbstkritisch in Frage stellte. Sie skizziert die Gründe, die für das Nichtreisen sprechen, vor dem Szenario der flugzeugverursachten CO²-Belastung und der Tatsache, dass acht Prozent des weltweiten Treibhausgasausstoßes auf den Tourismus zurückzuführen sind. Das Problem des Overtourism erläutert sie an Beispielorten wie Dubrovnik, Städten, die früher mal Heimat für Menschen waren, die sich jedoch unter dem Druck des frei flottierenden Tourismus in Orte verwandeln, die kaum authentischer sind, als Disneyland. Die Gründe für das Reisen sind ihr natürlich ebenfalls klar, vom Tapetenwechsel, dem Bedürfnis nach Erholung, besserem Wetter, Erweiterung des Horizonts und dem Fernweh, als „Sehnsucht danach, an einem anderen Ort etwas anderes zu erleben und dabei unser Alltags-Ich abzustreifen. Für viele Menschen ist es ein echtes Bedürfnis, das Fremde zu entdecken, das schließlich in uns haust. Unsere deutsche Kartoffeligkeit hinter uns zu lassen. Unsere Korrektheit und Penibilität und Funktionskleidungsmentalität.“
Trotzdem stellt sie die Frage in den Raum: „Müssen wir überhaupt verreisen?“
Nach ein paar Erörterungen über das Reisen als neuzeitlichen Trend, der Frage, was wir auf unseren Reisen suchen, Forderungen an die Politik zum Klimaschutz, kommt sie darauf zurück, dass wir selbst als Reisende Teil des Problems sind, es bleiben und darum auch Teil der Lösung werden müssen. Ihre These lautet:

„Letztendlich gelingt Daheimbleiben dann am besten, wenn man sich klarmacht, dass es ebenfalls eine Reise ist. Eine Reise, bei der man nicht den Körper, sondern den Geist bewegt. Bei der man innehält und seine Perspektive verändert und das Fremde und Überraschende im oft allzu Vertrauten entdeckt. Bei der man guckt, was dieses Daheim eigentlich ist – und ob man dieses Leben, dem man immerfort entfliehen will, nicht auch anders leben könnte. So, dass man sich irgendwann vielleicht gar nicht mehr wegsehnen muss, sondern es ganz gut finden kann, so wie es ist.“

In den folgenden 14 Kapiteln skizziert sie ihr Konzept

„Daheimbleiben in 14 Tagen“.
Tag 1: Zu Mittag essen
Tag 2: Offline gehen
Tag 3: Nichts tun
Tag 4: Einen Spaziergang unternehmen
Tag 5: Ins Grüne fahren
Tag 6: Eine einfache Mahlzeit zubereiten
Tag 7: Die Nachbarn kennenlernen
Tag 8: Im Hotel übernachten
Tag 9: In den Himmel gucken
Tag 10: Sich auf die Spur der Vergangenheit begeben
Tag 11: Sich nassregnen lassen
Tag 12: Mit dem Herzen reisen
Tag 13: Ein Museum besuchen
Tag 14: Eine Zimmerreise unternehmen

Was hier in der reinen Aufzählung langweilig wirken mag, beinhaltet jedoch für den Leser in jedem einzelnen Kapitel neue Perspektiven auf die jeweiligen Tagesaktivitäten. So erläutert Harriet Köhler den Sinn des Spaziergangs im Kapitel 4 mit dem französischen Philosophen Frédéric Gros, der in „Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Gehens“ die Freiheit beschreibt, „die man erlangt, wenn man an den Punkt kommt, an dem man schon nicht mehr weiß wie viele Stunden man schon gegangen ist und an dem es unbedeutend wird, wohin man geht und warum.“ Mit Roland Barthes lädt sie den Leser dazu ein, zum Ethnografen der eigenen Stadt zu werden. Solche Entdeckungen neuer Perspektiven auf das Hier und jetzt finden sich in jedem einzelnen Kapitel. Köhler kommt zu dem Fazit:

„Wer daheimgeblieben ist, hat eine einmalige Chance gehabt zu lernen, dass es innerhalb seines Lebens noch ein zweites Leben gibt. Eines, das die ganze Zeit über parallel existiert. Er hat gelernt, dass es einen Raum gibt, dessen Tür manchmal zu, aber nie verschlossen ist, und den er jederzeit betreten kann, um durchzuatmen, sich zu entspannen, um ein anderer zu werden oder zumindest eine andere Perspektive einzunehmen.“

„Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“ ist ein praktischer Ratgeber für Techniken des angewandten Heimaturlaubs. Diese sind nach eigenem Gusto des Lesers unendlich erweiterbar, Harriet Köhler liefert die Grundimpulse, das Hier und Jetzt neu zu entdecken. Das liest sich süffig und sehr amüsant. Für alle besonders geeignet, denen der reisefreie Sommer 2020 wie die endgültige Apokalypse der eigenen Urlaubsreiseplanung erscheint.
Leseempfehlung!

Harriet Köhler: Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben.
München, 2. September 2019
Taschenbuch, 208 Seiten
ISBN-13: 978-3492277358 € 15,00
Kindle Ausgabe Piper ebooks, München 2. September 2019
ASIN: B07W5JM74Z – € 12,99

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