„Wer wissen will , wie unsere Welt morgen aussieht, muss Anetta Kahane lesen“

Anetta Kahane Foto (Ausschnitt) : Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Lizenz: CC BY 2.0


Ist Demokratie nach dem deutschen Zivilisationsbruch möglich? Eine kleine Auswahl von Anetta Kahanes „Montagskolumnen“ wird zu ihrem 70. Geburtstag neu veröffentlicht.  Von unserem Gastautor Martin Jander.

Anetta Kahanes Kolumnen erscheinen regelmäßig und exklusiv, jeweils montags in der „Berliner Zeitung“ und der „Frankfurter Rundschau“. Rechtzeitig zu ihrem 70. Geburtstag 2024 hat der Hentrich und Hentrich Verlag eine Auswahl von fast 100 der seit 2009 publizierten Texte neu veröffentlicht. Wer etwas über die Hintergründe der zunehmenden Juden- und Israelfeindschaft sowie der sich erneut zuspitzenden Krise der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik erfahren will, sollte sich das Buch kaufen.

Ich bin ein begeisterter Leser der Kahaneschen Kolumnen. Sie haben meinen Blick auf viele Dinge gerichtet, die ich vorher nicht beachtete, gar nicht kannte oder auch komplett anders beurteilt hätte. Sie haben mein Denken, meine Betrachtung unseres Planeten und die Auseinandersetzung mit seinen Krisen nachhaltig angeregt und tun das bis heute. Ich war deshalb begeistert, dass die Autorin u. a. auch mich fragte, ob ich ihr bei der Auswahl ihrer Kolumnen für den neuen Sammelband helfen würde.

Maxim Biller wird auf dem Umschlag des neuen Buches mit den Worten zitiert, wer wissen wolle, wie unsere Welt morgen aussehe, der müsse Anetta Kahane lesen. Biller vergleicht Kahanes Texte mit denen des Schriftstellers, Theaterkritikers und Journalisten Alfred Kerr.

Kolumnen sind eine nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihr Aussehen definierte journalistische Schreibform. Sie entstand mit den Zeitungen und bezeichnet kurze Texte eines Autors, die am Rand einer Zeitungsseite, meist in der Form einer einzelnen Textsäule („Kolumne“), in fortlaufender Folge veröffentlicht werden.

Was, wie oder worüber Kahane schreibt, eine Kurzgeschichte, ein Kommentar, eine Erinnerung, die Erläuterung eines Gefühls, eine kurze thematische Erörterung oder einen Essay, ist nicht festgelegt. Die Autorin wählt es alle zwei Wochen selbst. Nur, mehr als jeweils 3200 Zeichen pro Kolumne dürfen es nicht sein. Fünfzehn Jahre lang jede zweite Woche einen neuen, frischen Blick auf die Bundesrepublik und den Planeten zu werfen, das ist ein Kunststück in sich selbst.

Die Texte Kerrs wurden als „literarische Stenogramme“ bezeichnet. Das trifft die Kahaneschen Kolumnen nicht ganz. Ihre Texte sind zwar, wie Maxim Biller sagt, „hellsichtig, klug und gut geschrieben“, Literatur, Theater und Film sind auch Gegenstände ihrer Texte. Aber die erste Ausländerbeauftragte Ost-Berlins und Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung ist eher in der Welt der gesellschaftlichen Diskurse und politischen Inszenierungen zu Hause. Ihre Referenz bilden nicht selten Begriffe, Geschichte und Erzählungen aus der jüdischen Tradition, der Thora und dem Talmud.

Ich war, als ich auf Anetta Kahanes Autobiografie („Ich sehe was, was Du nicht siehst“, Berlin 2004) und seit 2009 auf ihre Kolumnen stieß, zunächst vor allem von ihrem Blick auf die DDR angezogen. Sie präsentiert einen jüdischen Blick auf die DDR-Gesellschaft, den ich als ein in der Bundesrepublik sozialisierter Mensch, der unter anderem DDR-Dissidenten erforscht, vorher nie kennengelernt hatte. Ihre Texte faszinieren mich, da hier jemand schreibt, der den deutschen, genozidalen Furor, den unter der Hülle der DDR-Diktatur nur schlummernden Antisemitismus, Rassismus und völkischen Nationalismus, der während ihres Untergangs explodierte, zutiefst verachtet.

Kahane weicht bei ihrem Blick auf die DDR auch vor kritischer Selbstbetrachtung nicht zurück. Sie war als Studentin „Inoffizielle Mitarbeiterin“ der Stasi. Sie sah in der Zusammenarbeit zunächst kein Problem. Sie hatte als Kind jüdisch-kommunistischer Holocaustüberlebender die DDR als eine Gesellschaft verstanden, die jeder Form von Rassismus und Antisemitismus entgegenwirkte und Juden beschützte. Erst als sie bei ihrer Arbeit als Übersetzerin erkannte, dass die DDR strukturell rassistisch und antisemitisch agierte, beendete sie lange vor dem Ende der DDR, 1982, die Zusammenarbeit. Sie hat ihren Irrweg immer als „schrecklich“ bezeichnet und deutlich gemacht, wie sehr sie sich dafür schäme. Vor allem aber ist in allen ihren Kolumnen die Kritik des linken Antisemitismus, der linken Israelfeindschaft und der linken Verharmlosung des Rassismus immer wieder präsent.

Anetta Kahane kann etwas, was die wenigsten Sozialwissenschaftler und Journalisten können. Sie ist in ihren Texten ganz bei Juden, Einwanderern, Homosexuellen und vielen anderen Menschen, denen Unrecht widerfährt. Sie verachtet den genozidalen Furor, bleibt in ihrem Urteil jedoch kühl, distanziert und genau. Ich kenne keinen einzigen Text von ihr, den man demagogisch oder polemisch nennen könnte.

In ihren Kolumnen seit 2009 entwickelt Kahane die Umrisse des möglicherweise scheiternden, 1989/90 erst begonnenen west- und ostdeutschen Demokratieprojekts. Dabei ist ihr Blick keineswegs ausschließlich auf die deutschen Verhältnisse gerichtet. Russland versucht die Ukraine zu zerstören. Der Iran und seine Stellvertreter Israel. Ein Kollaps vieler westlicher Demokratien im Angesicht der Angriffe ihrer autoritären Widersacher ist nicht undenkbar.

Dieses große Bild einer möglichen Demokratiekrise der Bundesrepublik und der Demokratien des Westens wird in 98 für den Band „Von Nazis und Forellen“ von ihr selbst ausgewählten kleinen Bildern, von je 700 Worten erzählt. Sie handeln von jeweils kleineren und größeren Demokratiekrisen.

Kahane berichtet über die Mühen von NGOs in der ostdeutschen Provinz, der Unfähigkeit westdeutscher Verfassungsschützer ostdeutsche Nazis zu erkennen, der Fusion autoritärer Ideologien bei politischen Akteuren von links und rechts, Gesprächen in einem Frisiersalon Atlantas (USA) über Mordanschläge auf Asiatinnen, Erkenntnissen eines auf Sneakers fixierten Plünderers von Luxusgeschäften aus Brixton (GB) über Freiheit, von Gedanken über den Nichterhalt von Asyl für Josef und Maria, der Israelfeindschaft bei deutschen Künstlern, Neueinweihungen einer jüdischen Synagoge in Stavenhagen und ihrem Versuch angesichts des islamistischen Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel einen kühlen Kopf zu bewahren.

Der Charme und die Wucht dieser 98 Kurzreportagen, Personenportraits, Begriffsklärungen und Kurzessays kann in einer Rezension auch nicht annähernd wiedergegeben werden. Es sei denn ich verfügte über die, wie Esther Shapira das im Vorwort zum Band nennt, „Wortgewalt“ Kahanes. Das ist nicht der Fall.

Ich prophezeie, dass es keinem Leser des Buches gelingen wird, mehr als drei der Kolumnen an einem Stück zu lesen. Trauer, Freude, Verzweiflung, Wut und der Wunsch, selbst nicht länger nur Zeitungsleser zu bleiben, alles bisher Gedachte noch einmal neu zu denken und sich hier und heute für eine gerechtere Welt einzusetzen, sind Gefühle und Gedanken, die von ihren Texten ausgelöst werden.

Anetta Kahanes Texte transportieren eine ethische Orientierung, die jede manichäische Weltsicht zurückweist. Wie genau Menschen sich in Krisen aber auch guten Zeiten orientieren können, liegt nicht immer gleich auf der Hand. Häufiger braucht es darüber Streit, Debatten und offene Konflikte. Wie genau die Gesetze aus Thora und Talmud zu interpretieren und anzuwenden sind, bleibt offen.

Auch bleibt, nach dem Zivilisationsbruch offen, ob Gott überhaupt existiert. Aber selbst dann, so argumentiert Anetta Kahane in ihrer zweigeteilten Kolumne von den drei Rabbinern, die den Band rahmen, wenn es keinen Gott gäbe, blieben doch noch seine Gesetze, die die Menschen zu Gleichen unter Gleichen machen. Niemand ist einem Schicksal unterworfen. Jeder Mensch ist aufgefordert für Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen und hat die Freiheit sein Handeln selbst zu bestimmen. Dabei sind zwar Fehler unvermeidlich, aber auch Selbstkorrektur möglich.

Die studierte Übersetzerin Anetta Kahane, die neben der DDR auch in Indien und Brasilien aufwuchs, ihr Vater arbeitete dort als Korrespondent für DDR-Medien, hätte nach dem Untergang der DDR eine internationale Karriere machen können. Vielleicht wäre sie dann heute eine gefragte Übersetzerin, unterrichtete an Akademien in New York, Israel und Portugal über die jüdische Tradition als Voraussetzung der Aufklärung und demokratischer Politik. Anetta Kahane aber wollte keine Karriere. Sie sieht sich selbst aufgerufen für Gerechtigkeit und Freiheit zu sorgen.

Ihre ethische Orientierung und ihre Gründung der Amadeu Antonio Stiftung haben sie zu einer der wohl meist gehassten Intellektuellen der Bundesrepublik gemacht. Ihr wird, ganz nach antisemitischer Manier, jede ethische Orientierung abgesprochen, sie wird verteufelt. Linke Aktivisten geißeln ihren „Menschenrechtsimperialismus“, Konservative attackieren sie als Stasi-Stalinistin, aus dem Umkreis der AfD wird sie als „Herrenmenschin“ und Zerstörerin der deutschen Nation durch Einwanderung fantasiert und Islamisten attackieren sie als „Agentin des Zionismus“.

Anetta Kahane hat für solche Angriffe nur Spott übrig. In einem Gespräch mit Cem Özdemir formulierte sie, dass Todeslisten, die von Rechtsradikalen ins Internet gestellt würden, dann nichts taugten, wenn ihr Name darauf fehle.

Die Angriffe auf Kahane bleiben dabei keineswegs verbal. Ihr Alltag ist nicht nur durch Drohanrufe und Hassmails gekennzeichnet. Der antisemitisch argumentierende Franco A., sie berichtet darüber in der Kolumne „Franco und die Documenta“, hatte einen Mordanschlag auf sie und andere Politiker vorbereitet.

Polizei und Justiz versagen bei ihrem Schutz weitgehend. Trotz der offensichtlich antisemitischen Orientierung und des handfesten Charakters der Angriffe, erhält sie keinen polizeilichen Personenschutz. Anetta Kahane kann sich ohne einen selbst finanzierten Bodyguard in der Öffentlichkeit nicht bewegen.

Die Thematisierung auch ethischer Fragen haben die Kolumnistin und die von ihr gegründete Amadeu Antonio Stiftung aber auch zu „Herzensgewinnern“ gemacht, wie sie selbst das bei ihrem Abschied aus dem Vorstand der Stiftung 2023 formulierte. Nicht zuletzt gewannen sie und ihr Team viele Söhne, Töchter und Enkel der deutschen, 1945 nur militärisch geschlagenen Volksgemeinschaft für ein Engagement gegen Antisemitismus, gegen Homophobie, gegen Geschichtsrevisionismus und, was häufig nicht wahrgenommen wird, für eine demokratisch verfasste Republik.

Die Mehrzahl ihrer konservativen und rechtsradikalen Gegner sieht das ganz anders. Hier nutzt man den Hinweis auf Kahanes Stasi-Mitarbeit, um ihre Haltung und die Projekte der von ihr gegründeten Stiftung als angeblich totalitär, demokratiefeindlich oder/und antinational anzuschwärzen. Die Zerstörung dieser Projekte und der um sie herum sich organisierenden Zivilgesellschaft ist nicht umsonst eines der wesentlichen Ziele der AfD.

Anetta Kahane ist eine der wenigen Autorinnen aus der untergegangenen DDR, die nach ihrer Selbstbefreiung aus deren Antifaschismus die Ideen einer westlichen, liberalen Moderne vertritt und gegen alle irrationalen Verlockungen verteidigt. Mir sind andere Autoren aus der DDR mit einer solchen Lernkurve nicht bekannt.

Vielleicht hat sie jetzt, nach dem Abschied von der Stiftung, Zeit, das Buch über jüdische Tradition als  Voraussetzung der Aufklärung und demokratischer Politik doch noch zu schreiben? Ich empfehle „Von Nazis und Forellen“ von ganzem Herzen.

Anetta Kahane
Von Nazis und Forellen. Kolumnen über die Reparatur der Welt.
Leipzig 2024, 253 Seiten, ISBN 978-3-95565-670-6, 24,90 €uro.

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