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Bestimmte Dinge entwickeln sich gut

Keine Chance für Japan. Die Debatte über Libyen hat die Japaner von den Titelseiten der Zeitungen verdrängt. Hunderttausende Obdachlose, die in Auffanglagern vor sich hin vegetieren, haben keinen dauerhaften Anspruch auf die erste Reihe in den Schlagzeilen. Erfrieren in der Notunterkunft, gewiss: keine schöne Sache. Wie kann man aber auch Atomkraftwerke mitten ins Erdbebengebiet bauen?! „Ernst und Empathie“, schreibt Malte Lehming im Tagesspiegel, „sind als Haltungen flüchtig, weil die öffentliche Debatte auf Autopilot läuft. Immer weiter. Immer weiter. Wo kein Halten ist, ist kein Halt.“

Auf die Dauer hält das ja auch niemand aus, diese Schreckensnachrichten über hungernde und frierende Leute, die ihre Angehörigen vermissen. Und so etwas aus Japan; das ist doch nicht

irgendein Dritte-Welt-Land, wo derartige Dinge halt immer mal passieren können. Japan, Kanban, Sie wissen schon: Produktionsablaufsteuerung. Logistik, Just-in-Time, alles ausschließlich am tatsächlichen Verbrauch von Materialien am Bereitstell- und Verbauort orientiert. Japan, die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Okay, die Chinesen hatten kürzlich die Japaner überholt. Sind halt einfach mehr.

Aber die Japaner: Toyota und all die anderen Autos. Canon und Sony. Und jetzt haben wir deretwegen diese Ausstiegsdiskussion. Wahlkampfmunition für „die Siehste-Fraktion (das musste ja mal passieren) und die Vogel-Strauß-Fraktion (damit konnte nun wirklich keiner rechnen)“ (Lehming). Nach all den Jahren endlich wieder die Grünen im Landtag von Sachsen-Anhalt. Juchhu! Gerade am Bett eines Lungenkrebskranken sollte auf den Warnhinweis „Rauchen kann ihre Gesundheit gefährden“ nicht verzichtet werden.

Ansonsten: Fukushima. Man kann es nicht mehr hören. Das ist wie: Selbstmordattentäter reißt in Bagdad fünfzig Menschen in den Tod. Einmal. Zweimal, okay. Dreimal, von mir aus. Aber ständig? Jede Woche? Zumal: die Taktfrequenz aus Fukushima war nochmal ungleich höher. Der erste GAU direkt nach dem Erdbeben im Reaktor 1. Am Wochenende – nein, nicht dieses, das davor – der zweite GAU im Reaktor 3, unangenehm: mit Plutonium. Am Montag, also heute vor einer Woche, dann der dritte GAU im Reaktor 2. Irgendwann muss es auch mal gut sein.

Dann lieber Libyen. Und aus Japan: die „Helden von Fukushima“. So welche gibt es ja hierzulande kaum noch. Wie die sich aufopfern! Für ihr Land. Wofür sonst. Die ganze Mentalität, ganz anders. Kamikaze, toll. Endlich Fortschritte, Hoffnung, sogar Strom, mitten im Atomkraftwerk. Leider auch Radioaktivität – im Atomkraftwerk sowieso, logisch. Leider auch im Leitungswasser – in Fukushima sowieso, logisch. Leider auch in Tokio. Überall diese blöde Radioaktivität, auch in der Luft, in Tokio. Dennoch: bestimmte Dinge entwickeln sich gut. Das war an diesem Wochenende zwischen der Kriegsberichterstattung aus Libyen allerorten zu lesen, zu sehen und zu hören.

Bestimmte Dinge entwickeln sich gut, sagte auch der uns inzwischen gut bekannte Regierungssprecher Edano. Vor zu großem Optimismus – allzu viel ist immer ungesund (siehe: Radioaktivität) – warnt allerdings auch Herr Edano: „Auch wenn sich bestimmte Dinge gut entwickeln, müssen wir nach wie vor mit Rückschlägen rechnen.“ Heute. Und: „Im Augenblick sind wir nicht so optimistisch, dass es einen Durchbruch gibt.“ Dann lieber Libyen.

Edanos Chef, Ministerpräsident Kann, hat unterdessen kurzfristig seinen Besuch in Fukushima abgesagt. Wegen des Wetters: gestern Schnee, heute – etwas wärmer – Regen. Verständlich. Es ist nicht gesagt, dass es zu einem Super-GAU kommen muss. Wer weiß: vielleicht gelingt es den „Helden von Fukushima“ irgendwie, die Wassertemperatur in den Abklingbecken stetig unter hundert Grad zu halten. Ein bisschen Glück gehört immer dazu. Zur Not wird aus Reaktor 3 – das ist der mit dem Plutonium – noch etwas Luft abgelassen. Bekommt man den Druck in den Griff, könnte eine Explosion vermieden werden. Man weiß es nicht; man erfährt ja so wenig. Aus dem Reaktorblock 4 – das ist der, in dem haufenweise Reaktorstäbe rumliegen. Angeblich ist auch dort die Wassertemperatur niedriger als hundert Grad. Vorausgesetzt, in den Becken ist überhaupt noch Wasser.

Wasser. Überhaupt das Zauberwort, wie Japan auch ohne Super-GAU wieder ganz nach vorn in die Schlagzeilen kommen könnte. „Ich trinke nur noch Wasser aus Flaschen“, sagt die Rentnerin in Tokio. Okay. Ob es überhaupt ein japanisches Wort gibt für „Nachhaltigkeit“? Kanban, das Hol- oder Zurufprinzip, schön und gut. Da konnten wir etwas von den Japanern lernen. Aber Nachhaltigkeit – das kennen sie nicht. Das kennen nur wir.

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Arnold Voß
Arnold Voß
13 Jahre zuvor

Ich kann mir die Informationspolitik der Verantwortlichen in Japan nur noch dadurch erklären, dass sie auf Biegen und Brechen eine Massenpanik verhindern wollen. Was nicht das schlechteste Motiv zum Lügen ist. Ansonsten glaube ich denen kein einziges Wort mehr. Sofern sie überhaupt zu einigermaßen klaren Aussagen in der Lage und Willens sind.

Ich frage mich allerdings ob es die Betroffenen noch tun. Wenn sie den Verantwortlichen mehrheitlich auch nicht mehr trauen, dann kann diese Info-Politik nicht mehr lange funktionieren. Oder sie haben sich schon in ihr Schicksal gefügt. Was können sie bei näherer Betrachtung auch anderes tun? Wo sollten diese vielen Menschen denn hin, wenn ihnen ihre Regierung sagen würde, dass sie sich nur noch durch die möglichst weite Flucht retten können?

Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Was für ein Fortschritt, alle sechs Reaktoren sind nicht zerstört. Strom wird von außerhalb in das KRaftwerk eingeführt.

@ Arnold Voss
Ein Ort wo die Japaner als Flüchtlinge hingehen könnten: In NRW kann man das Auffanglanger Unna Masssen wieder eröffnen, Gebäudekomplexe sind vorhanden und die Mitarbeiter können mit der ARbeit wieder anfangen. Es hat früher funktioniert und könnte heute auch noch.

Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Eher Ironie. Die Katastrophe läuft längst ab. Es ist erschreckend von Fortschritt zu sprechen, wenn zwei Reaktoren total zerstört sind. Und man einem Kraftwerk Strom zuführen muß, um ein paar Lämpchen anzumachen. Warum ist denn nicht die Rede davon, welche technischen Geräte im AKW funktionieren, wahrscheinlich gar keine.

Wenn ein großes Gebiet verseucht ist, sollten sich die Leute woanders hin retten. Warum nicht als Flüchtling? Die Landestelle in Unna Massen war ein Auffanglager für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge. Sie existiert heute als solche nicht mehr, weil sie 2009 geschlossen wurde. Man könnte doch die Tore wieder öffnen.

Gerd Herholz
13 Jahre zuvor

Hi Werner,

Jakob van Hoddis schrieb vor 100 Jahren genau das folgende Gedicht, unglaublich, nicht wahr?

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

(1911)

Mir
Mir
13 Jahre zuvor

@ #7
Es gibt noch Bundesweite Aufnahmelager, zum Beispiel unter anderem Berlin Marienfelde.

Die Japaner werden wohl nicht in Massen flüchten, Unna Massen wird nicht mehr wieder für Flüchtlinge geöffnet, sondern ist derzeit ein Zentrum für Kreative.

Andreas Lichte
13 Jahre zuvor

Eine aus meiner Sicht als Nicht-Physiker sehr gute – vollständige und für Laien verständliche – Zusammenfassung gibt es beim „physikBlog“:

https://www.physikblog.eu/2011/03/21/eine-zusammenfassung-der-probleme-bei-fukushima-i/

„Eine Zusammenfassung der Probleme bei Fukushima I“

Arnold Voss
13 Jahre zuvor

@ Andreas Lichte

Der Text vom Physikblog liest sich gut, klingt aber letztlich doch mehr nach einer sehr intelligent gemachten Stellungnahme des Kraftwerkbetreibers: Die Lage ist schon irgendwie gefährlich, aber letztlich ist alles halb so wild. Hoffentlich haben die Mädels und Jungs von dem Blog recht.

Wobei, die Grundlagendaten für ihre Einschätzung haben sie natürlich auch nur von den offiziellen Stellen. Und da beißt sich die Katze meines Misstrauens dann doch wieder in den Schwanz.

André
13 Jahre zuvor

@Arnold Voss: Richtig, wir haben uns häufig auf offizielle Stellungnahmen bezogen. Immerhin sind das die einzigen Daten, die man momentan hat und vermutlich auch bekommen wird. Anhand vieler Rohdaten und einem Mix aus der normalen Presse haben wir versucht, uns unser eigenes Bild zu machen.

Dabei ist es uns wichtig, so sachlich wie möglich zu bleiben. Insbesondere wollen wir nicht auf den Zug der Extremen aufsteigen — sei es in verharmlosender oder hysterischer Weise. Es soll vielmehr ein nüchternes Auseinandersetzen mit den verfügbaren Fakten sein, um beim Verständnis der Vorgänge zu helfen.

Randdetail: ich für meinen Teil bin Atomkraftgegner. Aber das habe ich absichtlich aus der Debatte im Blog rausgehalten.

Patrizia
Patrizia
13 Jahre zuvor

@Gerd Herholz

Danke für die hübschen Zeilen. Das Gedicht war mir nicht bekannt. Beim Lesen der
acht Zeilen finde ich mich in Monsieur Jurgas Gefühlswelt wieder; – die Rarität
schlechthin -, die vierte Zeile, zustimmt, ist die „schönste“, „feinste“.

Das Gedicht in Verbindung mit den schrecklichen Geschehen in Japan und diesem zynischen Artikel zu bringen, ist allerdings daneben. Nachdem Monsieur Jurga vor
kurzem den Riesen Gauss zweckentfremdet hat, erlaube ich mir an dieser Stelle,
den weniger grossen „Jacob van Hoddis“, zu korrigieren … 🙂 … er wird es mir
verzeihen.

Weltenhysterie

Den Deutschen fliegt vom platten Kopf das Haar,
in Frühlingslüften geigt die Zählerrei.
Tabletten stürzen ab und gehn entzwei,
in deutschen Landen – hört man – wächst die Angst.

Die Furcht ist da, die wilden Reiter preschen
an Land, den Feigen, Fahlheit aufzudrücken.
Die meisten Seelen haben dunkle Schatten.
Menschenherzen stürzen, rechtlos, Steinen gleich.

trackback

[…] Japan da auch schon gut eine Woche hinter uns – konnten wir uns endlich anderen Dingen zuwenden: Bestimmte Dinge entwickelten sich gut, und die Libyen-Bombardements sorgten für ein wenig Abwechslung. Und für ein gutes Gewissen, wenn […]

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