Die Erziehung des Nerdzens

kress_romanAljoscha Brell erzählt in seinem Romandebüt die unglaublich komische tour de force des Protagonisten durch die amour fou. Von unserem Gastauror Daniel Kasselmann.

Wir schreiben das Jahr 2010, Herr stud. phil. Kress studiert im 13. Semester Literaturwissenschaft und Philosophie an der FU Berlin, forscht meist über Goethe, Kleist und Kant und wohnt in einem ziemlich durchgerockten Altbau in Neukölln mit Gasherd, Ofenheizung und Bibliothek, die einzig aus der Hamburger Goethe-Ausgabe in 24 Bänden besteht, der Rest der Wohnungseinrichtung ist nicht der Rede wert. Seine Selbsteinschätzung: „Ein Leuchtturm war er, einsam Wacht haltend auf dem Felsen der Exzellenz. Dagegen brandete die Gischt der Banalität.“ verbietet ihm soziale Einlassungen wie das übertrieben vertrauliche Duzen seiner Kommilitonen in der Universität, aber da seiner Meinung nach die Einsamkeit die Daseinsvoraussetzung des geistig tätigen Menschen ist, braucht er eh keine Freunde und so ist sein einziger Zuhörer die Taube Gieshübler. Wenn er mal gerade nicht auf seiner fünfzig Jahre alten Hermes 3000 eine seiner blitzgescheiten Hausarbeiten verfasst, dann hält er Gieshübler Vorträge darüber, dass er im falschen Zeitalter lebt, denn nach der Weimarer Klassik folgte nichts Essentielles mehr und so ergibt er sich seinem Schicksal, der letzte Denker zu sein. Kurz, Kress ist ein arroganter Fachidiot, altkluger Streber, weltfremder Sonderling und eigenbrötlerischer Außenseiter, ein Nerd wie aus dem Bilderbuch. Dass er die moderne Computertechnik mit ihrer Segnung der automatischen Fußnotenverwaltung zugunsten seiner mechanischen Schreibmaschine konsequent verschmäht, macht ihn dabei über jeden Verdacht der Blague erhaben, ein echter Kauz ist er, bis zu seiner vornehmen Sprache, welche sich durch ihre betont gewählte Diktion von der Umgangssprache seiner Zeitgenossen abhebend mit jedem Satz artikuliert vornehm, erhaben und durch seine Weimarer Literaturgötter ausgezeichnet und legitimiert gibt. Über seine Jugend erfahren wir, dass er in einem Kaff bei Münster aufgewachsen ist, selten mit seinem Vater telefoniert und dass dem Verhältnis zu seiner verstorbenen Mutter etwas Problematisches anhaftet: „Der Tod seiner Mutter war das Beste, was ihm hätte passieren können, eine saubere Lösung für alle Parteien.“ Das klingt nach einem kolossalen, nicht aufgearbeiteten Kindheitstrauma, welches möglicherweise zu seiner kressen Sozialphobie geführt hat. Ganz deutlich wird das, als er seiner neuen Bekanntschaft von seinem Kindheitstraum eines Wohntresors erzählt:

„Ein fensterloses Zimmer, das nach allen Seiten hin sechs Meter dicke Wände aus Stahlbeton hat und bloß durch eine ebenso dicke Stahltüre begehbar ist. Eine Stahltür, die nur in den allerseltensten Fällen von einem leistungsfähigen Motor auf speziell hierzu angefertigten Schienen aus den Wänden gefahren wird. Ich stelle mir vor, dass drinnen in einer Ecke, zum Beispiel neben dem Bett, ein etwa stuhlhoher Atomreaktor steht, der von einem Brocken radioaktiven Materials angetrieben wird und auf Lebenszeit eine Schreibtischlampe mit Strom versorgt. Wasser wird gespeichert nach dem Vorbild einer Raumstation und von einem System aus Rohren, Filtern und Pumpen unentwegt aufgefrischt.“

Die neue Bekanntschaft unseres Elfenbeinturmbewohners heißt Mona und ist eine sehr gute Freundin von Kress‘ Kommilitonin Madeleine, die aber im Roman aufgrund der Tatsache, dass Kress sie überhaupt erst durch den Umstand ihrer verspäteten Ankunft in einem Seminar kennengelernt hat, fortan nur „Die Verspätung“ genannt wird.

Der Vollständigkeit halber sein erwähnt, dass unser philologischer Philosoph bis auf sein Spezialgebiet der permanenten Hirnrindenselbstpenetration noch Jungfrau ist und daher mit dem Eintreten gleich zweier Frauen in sein Leben maßlos überfordert, zumal die eine ihm das geben könnte, was er eigentlich von der anderen zu wollen glaubt; die Liebe und zwar idealerweise mit Anleitungstext und Flirtschule für libidinöse Legastheniker. Doch bereits der konstruktive Hinweis seines Professors auf Kress‘ mangelnden Erkenntniswillen macht dessen Selbstbewusstsein mit einem Schlag zunichte. Er steigert sich dermaßen manisch in seine libidinöse Raserei hinein, dass er zum Spanner, Stalker und wiederholten Einbrecher wird, sein weiteres Sündenregister beinhaltet Prügeleien, Alkoholkonsum, Freiheitsberaubung an einer Taube und die fahrlässige Zerstörung einer Goethe-Gesamtausgabe. Darüber hinaus verspinnt er sich mehr und mehr in abstruse Verschwörungstheorien und verkennt dabei, dass die tatsächliche Wahrheit viel mehr mit ihm zu tun hat, als er ahnt.

Aljoscha Brell gelingt ein Drahtseilakt; die durchaus ambivalente, dabei aber immer liebevolle Darstellung des Charakters Kress, die dem Leser ermöglicht, Empathie zu empfinden. Spannen und Stalken erscheinen einem als selbstverständliche und notwendige Methoden der Recherche über das Objekt seiner Begierde, weil für Kress die im sozialen Miteinander sonst üblichen Methoden aufgrund seiner Sozialphobie alle komplett wegfallen. Wenn er über den tragischen Helden feststellt: „Der Held ist Held, weil er sich auflehnt gegen das Schicksal, das ihn zerschmettern will.“, dann trifft dies indirekt tatsächlich auf Kress selbst zu: Er spielt sein eigenes Kindheitstrauma zwar vor sich selbst als unbedeutend herunter, jedoch ist schon die Tatsache seines Studienschwerpunktes mit der Literatur der Weimarer Klassik der Gegenbeweis, denn Kress flieht damit vor der Gegenwart in eine frühere, in seinen Augen bessere Zeit. Und auch sein Umzug nach Berlin passt in dieses Bild, denn Berlin als Metropole mit vielfältigen sozialen Nischen (im Gegensatz zum Dorf) ermöglicht es Kress, sein Einsiedlerdasein ungestört zu leben. Und damit Berlin nicht nur als Oase für kauzige Sonderlinge erscheint, schenkt Brell uns dazu noch ein Kapitel über eine Geburtstagsfeier auf einem Hausdach und damit eine Episode genuin Berliner Kultur, da es sich um ein Berliner Dach handelt, jene spezielle Mischung aus Mansardendach und Flachdach, welche diese Art der Nutzung als Partylocation erst ermöglicht.

Während der literarische Mainstream derzeit krampfhaft versucht, Berlin als Drogenpartymetropole hochzustilisieren, gelingt Aljoscha Brell mit seinem außergewöhnlichen Debüt ein wirklich ausgefallener Berlin-Roman, in dem die Stadt ganz selbstverständlich in ihrer unglaublichen Vielfalt erfahrbar wird. Gratulation.

Aljoscha Brell: Kress
Ullstein Buchverlag Berlin 2015
336 Seiten Hardcover, € 20,00, E-Book € 16,99
ISBN 978-3-550-08109-5

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