„Feindliche Nähe“ als Leitstern für die Existenz auf Widerruf: Michael Wolffsohn beweist argumentatives Handwerk

Michael Wolffsohn Foto (Ausschnitt): Heinrich-Böll-Stiftung Lizenz: CC BY-SA 2.0


Ob Haschem, Gott oder Allah – Dank meiner soliden Katechismusprüfung als Ursuline aus dem tiefsten Sauerland gepaart mit astreinem Vatikanblut in meinen Italo Waderln kann ich Michael Wolffsohns kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der monotheistischen Glaubensrichtungen folgen und wärmstens empfehlen. Eigentlich sind sich Judentum, Christentum und Islam nah, aber wie der Titel des Buches verrät, geht es um eine „Feindliche Nähe“. Kompromisslose Takte, komplexe Einschübe, auch syntaktisch, und tiefes Detailwissen, wer das mag, sollte anfangen den theologisch interessierten Historiker zu lesen.

 

Unvergessen ist Wolffsohns beachtliche Frustrationstoleranz bei Lanz gegenüber Geistesgrößen wie Deborah Feldmann, Amira Mohamed Ali oder Tino Chrupalla. Es gibt nicht mehr viele kluge Köpfe, die wirklich was zu sagen haben. Michael Wolffsohn ist so einer. Er lehrte an der Universität der Bundeswehr München Neuere Geschichte. Das Kapitel, die Bergpredigt als Militärgeschichte, liest sich in der Tat wie eine Vorlesung über „Grundbegriffe I und II von Kriegsstrategien“.

Mit Blick auf Staatlichkeit und Obrigkeit sind auch moralische Eliten nicht zu vernachlässigen, inwiefern sich latente Vorurteile und Klischees über Religionen verfestigen. „Alttestamentarisch“ wurde zur antisemitischen Polemik vieler intellektueller Identifikationsfiguren, was alles besser am Christentum sei, ungeachtet der unzähligen Kreuzzüge im Namen Gottes. Dehnbare Interpretationen von „Liebe Deinen Nächsten“ gibt es zur Genüge unter Katholiken, „Deus caritas est“, nicht wahr? Aber auch das mit der Wahrheit ist spätestens nach der Beichte dehnbar. Papst Benedikt wird zurecht in Wolffsohn dichter Argumentation entzaubert, Kirche ohnehin, aber auch orthodoxe Juden oder Heroen wie Ignatz Bubis werden nicht mit weniger Kritik beleuchtet.

Und allein für einen einzigen Satz lohnt sich die anspruchsvolle Lektüre:

„Bis 1948 bestand das ‚jüdische Volk‘ ohne jüdischen Staat.“ (S. 28) Das Judentum war bis dato eine „tragbare, transportierbare Religion“, die über keine Territorialbehauptung mehr verfügte und nach Auschwitz von einer Blutsgemeinschaft auch zu einer Schicksalsgemeinschaft wurde.

Für visuell Denkende ist meines Erachtens insbesondere das Kapitel „(Feind-)Bilder“ interessant, weil hier kunstgeschichtliche Entwicklungen vom ersten Gebot ausgehend skizziert werden, um zu verstehen, wie trotz Liebermann, Chagall oder Lipschitz das Judentum eher eine Wortkultur – Satzbildung, Flexion und Wortstellung im Ivrit sind logisch und vielfältig bereichernd – im Vergleich zum bildreichen Christentum wurde. Auch hier gelingt es dem Autor durchgehend, mehr als nur zwei Seiten einer Medaille zu beleuchten, Abbild, Sinnbild, Standbild, Zerrbild, Idealbild usw. – hochinteressant, auch hier wie ein Teil einer interdisziplinären Ringvorlesung.

Während die Thora als das Buch mit siebzig Gesichtern gilt, das von der rabbinischen Exegese davon lebt, jeweils eine Auslegungspraxis der Schriftwörter in Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse zu pflegen, ist Wolffsohn demgegenüber auch dazu in der Lage, in bestimmten Fällen einen zeitlosen ethischen Grundkompass ganz anderer Qualität klarzustellen, wenn er zu den jüngsten Diskussionen um das Zustrombegrenzungsgesetz vor der Bundestagswahl feststellt:

„Wenn es regnet und die AfD sagt es regnet, wird es dadurch nicht falsch“.

Dieses allein schon methodische Handwerk schmeckt nicht allen, die sich mit einem Zeit online-Abo so sehr im Recht gegen Rechts fühlen, dass sie ungefragt Instagram-Reels an jeden und alle in ihrer WhatsApp-Bubble versenden, ohne auch nur einmal ihren eigenen Bias zu hinterfragen. Wolffsohn liest sich daher hervorragend in der Abfolge Hübl und Poschardt, wenn man denn bereit für das Tableau ist und sich nicht täglich, ähnlich wie die Millionen Fußballtrainer in unserer Nation, als Kanzler der Republik aufspielt.

Die Trias – Juden Christen Muslime – hat seinen Ursprung in einem früheren Buch „Juden und Christen“ aus dem Jahr 2008, das nun um eine zeithistorische Skizze von Wolffsohn erweitert wurde und daher besonders lesenswert ist, weil er ähnlich wie Ronya Othmann und Düzen Tekkal Ursachen und Gründe der aktuellen Ereignisse in Syrien ungeschönt benennt. Kontrafaktisches erhält bei einem scharfen Denker wie Michael Wolffsohn kein Lemma.

Das Buch „Feindliche Nähe“ erscheint im Herder-Verlag.

Buchcover „Feindliche Nähe“ von Michael Wolffsohn, Foto: Herder Verlag

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