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Ruhrtriennale Intendant Johan Simons im Gespräch über Demokratie, Kunst und das „Umschlungen sein“

Ruhrtriennale Intendant Johan Simons, Foto: Ulrike Märkel
Ruhrtriennale Intendant Johan Simons, Foto: Ulrike Märkel

Heute stellt Johan Simons, neuer Intendant der Ruhrtriennale, das Programm des Festivals der Künste 2015 vor. Höchste Zeit, sich einmal mit dem niederländischen Regisseur über Theater, Politik und über das Ruhrgebiet zu unterhalten. Simons wurde letztes Jahr mit einem der wichtigsten künstlerischen Auszeichnungen der Niederlande, dem „Kulturfonds Preis“ ausgezeichnet. Er blickt auf eine erfolgreiche Zeit an den Münchner Kammerspielen zurück, wo er im Dezember „Offener Prozess – Vier Tage zum NSU-Komplex“ zeigte. Simons ist nicht nur ein großer Theatermacher, sondern zeigt, dass Kunst nicht ohne gesellschaftlichen Zusammenhang möglich ist und unmittelbar aktuelle Ereignisse verhandelt. 

Ruhrbarone: Sie haben seit vielen Jahren einen guten Draht zum Ruhrgebiet. Und auch die Ruhrtriennale ist Ihnen von vergangenen Inszenierungen bekannt.

Johan Simons: Ja, das stimmt, ich habe hier schon viel gemacht. Und ich wurde schon einmal gefragt, ob ich nicht die Intendanz übernehmen möchte, aber damals habe ich mich für München entschieden. Nachdem ich ein Theater in Gent geleitet hatte, wollte ich an einem anderen bedeutenden Stadttheater mit einem großen Ensemble arbeiten. Jetzt ist der Zeitpunkt für einen Wechsel richtig, zumal ich auch näher bei meiner Familie leben möchte. Da kam das Angebot der Ruhrtriennale, die Intendanz zu übernehmen, genau im richtigen Moment.

Hat Sie die Ruhrtriennale auch deswegen gereizt, weil hier viele verschiedene Plätze bespielt werden? Sie haben am Anfang Ihrer Regietätigkeit in Scheunen oder auf Marktplätzen und anderen ungewöhnlichen Orten inszeniert.

Ja, schon lange bevor es die Ruhrtriennale gab. Die hat das wahrscheinlich damals von mir geklaut. (Simons lacht.) Schon 1985 habe ich angefangen, mit dem Theater an andere Orte zu gehen. Hier gibt es Spielorte wie die Zechen oder die wunderschöne Jahrhunderthalle in Bochum, die sehr reizvoll sind. Die Jahrhunderthalle ist ja geradezu eine Kathedrale der Industriekultur. Man kann hier nicht einfach „normal“ Theater machen. Die ungewöhnlichen Spielstätten verlangen, dass man sich zu ihnen verhält und etwas ganz Spezielles für sie macht.

Besonders interessant sind die Spannungsfelder. In Dinslaken zum Beispiel ist für mich besonders reizvoll, dass wir auf der einen Seite ländlichen Raum und Provinz vorfinden und auf der anderen Seite der soziale Brennpunkt im Stadtviertel Lohberg direkt an das Gelände unseres neuen Spielortes, der Kohlenmischhalle der ehemaligen Zeche Lohberg, anschließt.

Ursprünglich kommen Sie ja aus der freien Theaterszene …

Ja, meine erste Theatergruppe Hollandia war ein freies Format, allerdings anders als in der deutschen freien Theaterszene, wurden unsere Projekte durch den Staat subventioniert. Aber das Interessante war unsere kollektive Arbeitsweise.

Bei meiner ersten Vorstellung am Theater in Amsterdam saßen viele Regisseure im Publikum, die dachten „Aha, wer ist denn dieser junge Simons?“ Ich fühlte mich ein bisschen wie in einer Prüfung am Gymnasium. Da dachte ich mir: „Schluss damit! Ich mache nur noch Theater für Menschen, die sonst nie ins Theater gehen.“ Die Aufgabe, Zuschauer fürs Theater zu begeistern, die eigentlich nicht ins Theater gehen, finde ich wichtig. Damit setze ich mich in meiner Theaterarbeit auseinander. Ich versuche es immer wieder, und auch die Themen der kommenden Ruhrtriennale haben viel damit zu tun. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, alle Menschen zu erreichen …

Dazu gehört auch, offen für sein Publikum zu sein. Ich gehe ganz leicht auf Leute zu und suche die Nähe zu meinen Zuschauern. Es ist wichtig, nicht abgehoben zu sein, man muss versuchen, greifbar zu bleiben. Ich komme selber aus sehr einfachen Verhältnissen. Die eigene Herkunft darf man nicht verstecken, ganz im Gegenteil, man kann sie zeigen und sich ihrer – gerade im Kontext der eigenen Arbeit – bewusst sein. Das bedeutet nicht, dass man sich an das Publikum anbiedert oder die Dinge nur auf eine einfache Weise erzählt. Das wäre eine Unterschätzung des Publikums. Johann Sebastian Bach berührt jeden!

Das Motto des Festivals ist „Seid umschlungen“. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Es hat eine große Bedeutung, denn das Motto ist für mich ein Symbol für diese Region. Und es lässt genug Raum für Interpretationen, weil es zweideutig ist und zwei Bewegungen vollzieht – nach innen und nach außen.

Wichtig bei der Programmgestaltung ist natürlich auch, welche Themen hier relevant sind. Wenn ich in Dinslaken in einer alten Industrieanlage „Accattone“ basierend auf dem Debütfilm von Pier Paolo Pasolini zeige, greift das unmittelbar ein zentrales Thema der Region Ruhrgebiet auf. Pasolini erzählt in dem Film von 1961 eine Geschichte mit Laiendarstellern über das „Subproletariat“ im Rom, das seinen eigenen Gesetzen folgt.

Für mich ist es eine moderne Geschichte. Die Menschen leben zwar außerhalb der Gesellschaft, haben aber eine eigene revolutionäre Kraft inne. Die Bewertung von Arbeit und Nicht-Arbeit ist bei diesen Menschen anders. Ein Bettler ist bei Pasolini eigentlich einer der Höchsten in der Hierarchie. Mit solchen Zusammenhängen befasst sich Pasolini. Er verachtet niemanden, auch nicht die Huren, denn er erkennt, dass die Armut die Lebensbedingungen bestimmt. Die Menschen sind nicht nur einfach sündig. Man muss verstehen, worin die Ursachen liegen.

Das klingt kein bisschen theoretisch …

Nein, gar nicht. Ich unterlege, wie Pasolini damals seinen Film, das gesamte Theaterstück mit Musik von Johann Sebastian Bach. Auch wenn viele denken, dass Bachs Kompositionen sehr rational sind, stimmt das nicht. Seine Musik ist zwar sehr klug gedacht, aber er komponierte Bauchmusik. Man merkt, dass er ein sehr sinnlicher Mensch war. Die Geschichte von Accattone zum Beispiel ist fast biblisch und nicht rational erfassbar – sie landet direkt im Bauch.

Ich habe einmal Sentimenti in der Jahrhunderthalle in Bochum inszeniert. Das Stück handelte von einem Schriftsteller, der sich auf eine gedankliche Reise zu seinen Wurzeln ins Ruhrgebiet der 60er Jahre begibt und auch von den ersten italienischen Arbeitsmigranten erzählt. Bei diesem Stück waren im Publikum Bochumer, die als Bergleute und Stahlarbeiter gearbeitet haben, und damals noch einen sehr starken Bezug zu den Industrieorten hatten und neugierig und interessiert waren. Das gefiel mir sehr!

Dann ist Arbeit für Sie auch ein Thema? Das Ruhrgebiet hat eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Deutschland …

Arbeit ist ein wichtiges Thema heutzutage. Arbeit wird immer weniger. Und immer weniger Menschen partizipieren an der Arbeitswelt. Gleichzeitig wird aber der Wert eines Menschen über seine Arbeitsleistung festgelegt. Daher müssen wir das Thema Arbeit neu denken. Wie schaffen wir eine Gesellschaft, die versucht, Arbeit oder Nicht-Arbeit auf dieselbe wertige Ebene zu heben? Man fühlt sich wertlos, wenn man keine Arbeit hat.

Sie machen aber auch so genannte „Hochkultur“, wie zum Beispiel die Inszenierung von Das Rheingold. Wie passt das zu Ihrem Konzept der Publikumsnähe und des Ruhrgebietbezugs?

Naja, Wagner hat ja Rheingold für das Ruhrgebiet geschrieben. (Simons lacht.) Aber kein Witz, die Geschichte passt total hierher. Rheingold besteht aus zwei Wörtern: Rhein und Gold. Der Rhein bei Duisburg und Dinslaken ist eine horizontale Linie. Das schwarze Gold, die Kohle, hingegen bildet eine vertikale Linie. Das Rheingold ist nichts anderes als Kapitalismuskritik. Wagner kommt ja aus der Zeit von Marx und Bakunin und kannte sie.

Es ist auch eine Kritik an der Industrialisierung, wenn ich das weiterdenke. Früher bestand diese Gegend nur aus Wald. Dann hat man die Kohle entdeckt, die viel Arbeit und einigen Menschen auch Reichtum brachte, die letztendlich auch die Stahlindustrie von Krupp und so weiter hervorgebracht und groß gemacht hat. Hier gab es also historisch gesehen eine Umwandlung, und dieser stetige Wandel ist für mich so interessant, weil man immer noch mitten drin ist, im Wandel . Hier können neue Sachen anfangen, die man nicht vorher erahnen kann. Man weiß nie, was noch kommt.

Wäre das ein roter Faden für „Ihre“ Ruhrtriennale? Oder sagen Sie, es gibt hier noch so viele andere Aspekte, die zu behandeln sind?

Ja, da lasse ich mich nicht festlegen. Mir ist vor allem die Philosophie von „Seid umschlungen“ sehr wichtig. Das hat einerseits mit der auseinanderfallenden Struktur dieser Gegend zu tun aber auch mit Dingen wie beispielsweise der Musik im 20. Jahrhundert. Früher war das Orchester an der einen Raumseite, und das Publikum saß davor. Heute kann man die Zuhörer auch um das Orchester in der Mitte herum platzieren. Auch das ist ein „ Umschlungensein“. Ein viel demokratischerer Ansatz des Musikhörens. Auch das gehört zur Philosophie unseres Mottos.

Hat das Umschlingen auch mit Europa zu tun, das heißt, sehen Sie sich als gebürtiger Holländer als Botschafter des niederländisch-deutschen Kulturaustausches? Kann man sagen, dass Sie bei der Ruhrtriennale auch Brückenschläger zwischen diesen beiden Nationen sein wollen, die eine schwierige Beziehung verbindet, da im Dritten Reich Deutschland die Niederlande besetzt hatte …

Ja, das ist noch nicht vollständig aufgearbeitet. Es gibt noch Verwundungen. Ich bin auch Intendant in Gent, nur zweieinhalb Stunden von Gelsenkirchen entfernt. Da bin ich also sehr dicht an Deutschland dran. Wir Niederländer sind ohnehin dem Ruhrgebiet wesentlich näher, als beispielsweise die Bayern. Der Rhein, bei uns die Waal, schafft eine enge Verbindung von den Niederlanden nach Deutschland. Ich lebe an diesem Fluss, und wenn ich auf dem Deich stehe, sehe ich all die Schiffe, die zwischen den beiden Ländern hin- und herfahren. Allein das ist eine starke ökonomische Verbindung. Auch das ist Europa.

Wenn man an Europa denkt, denkt man im Moment auch zwangsläufig an die Anschläge in Paris und in Dänemark und diskutiert über islamistische Bewegungen. Macht Ihnen das Sorge?

Es stehen sich in Europa im Moment zwei Gesellschaftsströmungen gegenüber. Auf der einen Seite hat der Staat und auf der anderen Seite hat Gott das Sagen. Das ist im Ansatz sehr weit voneinander entfernt. Aber egal was kommt, die Pressefreiheit können wir nicht aufgeben – und auch nicht anfangen, einen Teil unserer Freiheit aufzugeben. Liberté, égalité, fraternité – all das können wir nicht aufgeben. Wenn man beleidigende Zeichnungen macht, dann ist das für den anderen sicher kein gutes Gefühl. Aber in einer Demokratie kann ich zu einem Richter gehen, wenn ich mich attackiert fühle, das ist ein Unterschied.

Die einzige Lösung ist, dass wir uns mit unserer Gesellschaftsform auseinandersetzen, also mit den drei Säulen unserer Gesellschaft: Der Wissenschaft, der Bildung und der Kunst. Dafür müssen wir kämpfen, denn eigentlich ist das humanistisch-idealistische Modell großartig. Nur ist es in den kapitalistisch ausgerichteten Demokratien zum Teil völlig schief gegangen. Aber es gibt auch eine viel humanistischere Demokratie, nämlich die, in der es nicht nur um das Recht des Stärkeren geht, sondern um wahre Demokratie im Sinne von égalité. Als Mensch Johan Simons möchte ich dafür kämpfen. Ich möchte gerne mit daran arbeiten, die Welt ein bisschen besser zu machen!

Gibt es für Sie bei dieser Ruhrtriennale einen Schwerpunkt bei den Sparten Musik, Schauspiel oder Tanz? Und wird das Festival auch jüngeres Publikum erreichen?

Nein, alles ist für mich gleichwertig, aber ich werde dem Schauspiel ausreichend Raum geben. Mir ist wichtig, dass die Ruhrtriennale ein Festival der Kreationen ist. Das bedeutet, dass alle Stücke und Inszenierung speziell für dieses Gebiet und seine Industriehallen gemacht worden sind, egal ob sie danach nach New York, London oder Moskau gehen. Zunächst einmal sind sie einzigartig für diese Region geschaffen worden.

Wir wollen vielfältig und auch für ein jüngeres Publikum attraktiv sein. Neben Oper wird es auch ein Programm mit elektronischer Musik geben, also der wichtigsten Musik des 20. Jahrhunderts nach Stockhausen. Wir haben ein Riesenprogramm mit Tanzabenden und Konzerten. Darüber freue ich mich. Und hoffentlich merken auch die Jungen: Ach, da gibt es ja auch noch anderes, das mich interessiert  – das muss ich mir mal anschauen!

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

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Rainer Möller
Rainer Möller
9 Jahre zuvor

Nun, das alles ist intellektuell ziemlich flach – es charakterisiert aber wohl ganz gut den Durchschnitts-Theatermann:
Er zweifelt am gesellschaftlichen Wert seiner Arbeit und bemüht sich daher vor allem darum, gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit unabhängig zu machen. Gerade insofern bleibt er vom staatlichen Subventionssystem abhängig, dass deshalb als Voraussetzung nicht in Frage gestellt werden kann.

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