Über die Disintegration zu schreiben, ist eine Herausforderung. So vielen gilt sie als das beste The Cure-Album aller Zeiten, als ihr unbestrittenes Meisterwerk. Aber die These dieser Reihe ist ja, dass jedes Cure-Album ein Meisterwerk ist. Dazu muss man die Disintegration gewissermaßen von ihrem Thron holen, ohne den Anschein zu erwecken, sie wäre gar nicht so gut. Denn sie ist so gut. Die anderen sind nur auf ihre Weise alle auch sehr gut. Wenn man noch einmal den Vergleich mit den Kindern heranzieht, von denen keines das Lieblingskind ist, dann ist die Disintegration vielleicht dieses ältere Kind, etwas reifer als die anderen, etwas gescheiter als die anderen, das immer gute Noten schreibt und das auch mal auf die Kleinen aufpasst und von sich aus im Haushalt hilft – man hat es nicht lieber als den Rest, aber man erwartet einfach wie selbstverständlich, dass es in gewissen Aspekten überlegen ist und man muss vielleicht sogar manchmal aufpassen, dies nicht als selbstverständlich hinzunehmen.
Wodurch entstehen diese Überlegenheit und Reife der Disintegration? Eigentlich durch eine Rückbesinnung. Dadurch, dass das in der letzten Folge beschriebene archetypische Patentrezept für eine Cure- Platte wieder verlassen wird. Die wohltemperierte Mischung aus depressiver und fröhlicher Musik, aus Zugänglichkeit und Intensität, die auf The Top, The Head On The Door und Kiss Me Kiss Me Kiss Me in veränderlichen Anteilen vorgelegt wurde (und auch auf künftigen Alben wieder da sein wird), weicht wieder einer ganz einheitlichen Stimmung. So, wie Seventeen Seconds, Faith und Pornography jeweils ganz homogen waren. Jedes dieser drei hat einen in sich geschlossenen Sound, erforscht eine ähnliche Stimmung und verzichtet weitgehend auf Ausreißer.
Bei der Disintegration ist das ähnlich. Leser dieser Reihe haben längst erkannt, dass mir persönlich die fröhlichen Popsongs weniger wichtig sind als die schwermütigen und tiefschürfenden Stücke. Und wer behauptet, die Disintegration sei das beste aller Cure-Alben, fühlt wahrscheinlich ähnlich. Denn auch wenn wir zwei erfolgreiche Singles (Lovesong und Lullaby) auf der Platte haben, so ist Robert Smith doch das Kunststück gelungen, zwei Ohrwürmer zu produzieren, die den dunklen Rahmen der Platte nicht sprengen und keine Fremdkörper darstellen. Lovesong ist wehmütig genug und Lullaby spooky genug um, einen Platz auf der Disintegration zu verdienen.
Wehmütig und spooky sind nur zwei Adjektive, die die Platte beschreiben. Sie ist ganz sicher dunkel und schwer, aber sie hat auch eine Wärme, die sie fundamental von einer Seventeen Seconds unterscheidet. Am ehesten erinnert die Stimmung an die Faith. Oder sagen wir: Die Aspekte der Faith – einlullende Friedlichkeit, schmerzliche Hoffnung, tröstende Melancholie – sind vorhanden (besonders auf Closedown, The Same Deep Waters As You, Homesick und Untitled). Aber sie sind gemischt mit einer gewaltigen Portion Festlichkeit (Plainsong) und nervenaufreibender Intensität, mit elektrisierenden Klageschreien, die sich durch unsere Adern bohren (Last Dance, Fascination Street, Prayers For Rain, Disintegration). Das ist ja gar nicht alles ruhig und langsam. Was ist Disintegration (der Song) für eine treibende Spirale, was für ein unermüdliches Aufschaukeln, ohne Refrain, ohne Ruhepunkt, ein zunehmend atemloserer Trip, besonders live.
Das Komische, das sich kaum analysieren, sondern nur festhalten lässt, ist, dass diese eigentlich bei näherer Betrachtung doch recht unterschiedlichen Facetten der Disintegration ineinandergreifen und sich spiegeln und ergänzen und einander bedingen. Die Platte ist vollkommen aus einem Guss, geeint von diesem großen, warmen, schwarzen Sound, voller Details und Weite. Wenn die Troika um die Faith eher wie Schwarz-Weiß-Fernseher sind, an die man ganz dicht heranrückt, um die Welt drumherum zu vergessen, ist die Disintegration wie ein Breitbildkino, ein Fest für die Sinne, mit einem professionellen Colour Grading, das jeder Szene einen homogenen Look gibt. Ja, okay: ein Meisterwerk.
Hier gibt es die bisherigen Teile:
Alles außer Pop – The Cure I
Alles außer Pop – The Cure II – Seventeen Seconds
Alles außer Pop – The Cure III – Faith
Alles außer Pop – The Cure IV – Pornography
Alles außer Pop – The Cure V – Japanese Whispers
Alles außer Pop – The Cure VI – The Top
Alles außer Pop – The Cure VII – The Head On The Door
The Cure VIII – Kiss Me Kiss Me Kiss Me
Der Autor schreibt hier unregelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.