Als ich diese Reihe im Jahr 2019 begann, hatten The Cure gerade ihr neues Album angekündigt und meine Idee war, bis zum Erscheinen alle vorangegangenen Alben Revue passieren zu lassen. Und die These zu beweisen, dass jedes The Cure-Album gut ist. Dann schlief diese Reihe genauso ein wie offenbar die Band und der Zeitdruck, sie fertig zu
schreiben schwand mit der Hoffnung, dass jemals das angekündigte Album kommt. Nun haben The Cure aber „Songs Of A Lost World“ definitiv für den 1. November zugesagt und mir bleiben noch sieben Wochen, um die sieben fehlenden Besprechungen abzuliefern. Auf geht es daher in den Cure-Marathon, beginnend mit der „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“.
Auch wenn die Frage nach der Lieblings-Cure-Platte so gemein ist wie die nach dem Lieblingskind, wäre die Wahl in meiner Teenager-Fanboy-Zeit wohl auf diese gefallen, hätte man mich zu einer Entscheidung gezwungen. Nachdem – wie Sie in den vorangegangenen Besprechungen nachlesen können – alle Puzzleteile positioniert wurden, alle Geburtswehen überstanden sind, haben wir hier gewissermaßen das archetypische Cure-Album, die perfekte Mischung, die Krönung der Schöpfung. Wir haben ja schon festgestellt, dass „The Top“ eigentlich noch knietief im Pornography-Albtraum feststeckt und dass „The Head On The Door“ wiederum etwas zu übermäßig vom Popvirus befallen ist. Jetzt, auf der Kiss Me, ist die Balance gefunden, sehen wir das Rezept zur Perfektion gebracht und alle Zutaten meisterhaft vermengt.
Die poppigen Stücke eignen sich für die Hitparade, aber sie haben immer auch den nötigen wehmütigen Beigeschmack. Es sind mehr als genug darauf, um etliche Singles auszukoppeln, aber sie fügen sich eben auch nahtlos in das Gesamtwerk, das alles andere als harmlos ist. Wir haben die Udo-Lindenberg-Gedächtnissongs „Catch“ und „Perfect Girl“ und Tanzmusik wie „Hot! Hot! Hot!“. Aber selbst ein vordergründig spaßiges „Why Can’t I Be You?“ endet nach dem ganzen Gejauchze auf einem einzelnen, ruhigen melancholischen Akkord, wie ein Erwachen in die Dunkelheit. Wer „Just Like Heaven“ für ein fröhliches Liebeslied hält, sollte sich den Text noch mal anschauen, denn:
Daylight licked me into shape
I must have been asleep for days
And moving lips to breathe her name
I opened up my eyes
And found myself alone
Alone
Alone above a raging sea
That stole the only girl I loved
And drowned her deep inside of me
Und wer „How Beautiful You Are“ für ein romantisches Liebeslied hält, sollte das gleiche tun, denn es endet so:
And this is why I hate you
And how I understand
That no-one ever knows or loves another
Or loves another
Dass dieser Song dennoch mal mein Leben gerettet hat, ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Neben den Singles gibt es die Kategorie „treibende, sägende Brecher“ und mit „The Kiss“ eröffnet so einer auch gleich das Album. Es ist eine gute Tradition, dass Cure-Alben mit epischen, festlichen Stücken beginnen und enden. Treibend und sägend sind auch „Torture“, „Icing Sugar“ oder „Shiver And Shake“. Und die mutmachende Schlusshymne „Fight“.
Man kann die Platte aber auch als hypnagoge Droge einsetzen, ganz ohne Substanzkonsum, denn sie beherbergt magische Musik wie „If Only Tonight We Could Sleep“, das einen mittels schierer Schallwellen in Trance versetzen kann. Auch „Snakepit“ und „Like Cockatoos“ haben hypnotisierende Eigenschaften.
Und dann sind da noch die leidenschaftlichen, tieftraurigen, zugleich vor Sehnsucht explodierenden Songs, die dem Teenager damals aus der Seele sangen, als hätte Robert Smith sich telepathisch mit seinem schweren Herzen verbunden: „All I want“, „One More Time“ und „A Thousand Hours“. Robert Smiths Stimme überschlägt sich in sentimentaler Leidenschaft wie vielleicht nie zuvor und das ist auch gut so.
Verwirrt hat mich ein Song namens „Hey You“. Wir haben es hier mit einer der Platten zu tun, bei der der Kopf schon das nächste Stück abspielt, wenn noch die Schlussakkorde des alten verklingen. „Hey You“ gehörte da für mich nicht hin und gefiel mir alleine schon deshalb nicht. Ich habe aber festgestellt, dass der Song auf der Original-Doppel-LP vorhanden ist und meiner CD-Version fehlte.
Wie fasst man so ein Album zusammen, das bei genauer Betrachtung aus sehr unterschiedlichen Songs besteht, aber doch so aus einem Guss zu sein scheint? Vor allem, wenn man jede Note darauf auswendig kennt (ich kann das Wah-Wah-Solo von „The Kiss“ tatsächlich in Gedanken abspielen als wäre es ein Lied mit auswendig gelerntem Text)? Ich kann das ja gar nicht objektiv beurteilen. Das Cover ist rot und für mich als Synästhetiker hat Musik immer Farben und Formen, die durch das Artwork beeinflusst werden. „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ ist eine Platte von unglaublicher Intensität. Nicht nur melancholischer Art – auch voller Kampfgeist und Energie und Glücksmomenten, Ekstase, Wut und Jubel. Ein roter Strudel, affektiver Daueralarm, kreisendes Blut bis in die Fingerspitzen, flammendes Feuer. Sie ist rot.
Hier gibt es die bisherigen Teile:
Alles außer Pop – The Cure I
Alles außer Pop – The Cure II – Seventeen Seconds
Alles außer Pop – The Cure III – Faith
Alles außer Pop – The Cure IV – Pornography
Alles außer Pop – The Cure V – Japanese Whispers
Alles außer Pop – The Cure VI – The Top
Alles außer Pop – The Cure VII – The Head On The Door
Der Autor schreibt hier unregelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.