The Cure X – Wish


Mit der Wish kommen wir zum dritten Album in Folge, das zu besprechen mir nicht leicht fällt. Wish war das einzige Album, das während meiner heftigen Fan-Phase erschien. Als ich The Cure entdeckte, gab es die Disintegration schon und sie war nur eines der vielen zu erkundenden Alben. Jetzt aber bekam ich erstmals mit, wie eine neue Platte meiner unangefochtenen Lieblingsband auf den Markt kam, wie Singles ausgekoppelt wurden und Erfolg in den Charts hatten (wobei mir das ehrlich gesagt bereits damals vollkommen egal war). Auf der Wish-Tour sah ich sie live.

Die Platte zu besprechen ist für mich auch deshalb besonders, weil ich sie bis zum Verfassen dieses Reviews wirklich sehr, sehr lange nicht gehört habe. Alle anderen habe ich in den letzten 20 Jahren immer mal wieder aufgelegt, aber diese nicht. Obwohl ich sie natürlich früher hunderte Male gespielt habe. Vielleicht habe ich sie gemieden, weil so ein schwaches Gefühl von „guilty pleasure“ mitschwingt. Weil es ein Album ist, dass ich im Zustand völliger Ergebenheit kennengelernt und geliebt habe und weil der reifere Robert da möglicherweise drüber stehen wollte. Vielleicht aber auch, weil ich trotz aller Ergebenheit diese Platte schon damals mit gewissem Vorbehalt geliebt habe. Ich fand nicht alles großartig.

Sie nach zwei Jahrzehnten erneut zu hören, war daher wie eine Wiederbegegnung mit einem sehr alten Freund, den man unglaublich gut kennt, aber Ewigkeiten nicht gesehen hat. Um dann festzustellen, dass dieser Freund immer noch die Schwächen hat, die einen schon damals nervten. Aber man liebt ihn halt.
Die Wish ist von allen bisher besprochenen Alben jenes mit der größten Bandbreite zwischen übermenschlich guten und allenfalls durchschnittlichen Songs. Wenn ich noch mal auf die Head On The Door zurückkomme, die bislang ja von mir das bescheidenste Urteil erhalten hat, so muss ich sagen, dass sie mir eben wegen ihres hohen Anteils an poppigen Songs ganz subjektiv nicht so viel bedeutet. Aber das ist, als würde sich jemand in einem für seine Süßspeisen berühmten Restaurant über die vielen Desserts auf der Karte beschweren, weil er selbst nicht gerne süß ist. Die Head On The Door ist durchgehend sehr, sehr gut. Diese ganzen Popsongs auf ihr sind Meilensteine. Sie sind mir nur persönlich nicht so wichtig.
Auf der Wish hingegen sammeln sich Schwächen. Und das ist schade, weil im Gegenzug einige der besten Songs überhaupt darauf vertreten sind. Vielleicht würde sich der gesamte Eindruck schon durch eine Änderung der Reihenfolge beheben lassen. So hat das Album ein Spannungsloch, das ihm die Bestnote ruiniert.

Der Anfang ist so unglaublich stark. Die ersten vier bis fünf Lieder sind, jedes auf seine Weise, auf der absoluten Höhe Smithscher Songschreibekunst. Wie gewohnt beginnt das Album mit einem sägenden Brecher, analog zu The Kiss (so wie auch das Ende mit End Parallelen zu Fight aufzeigt, ein Song auf dem Smith Gefühle von Macht und Mut und Stärke skandiert). Open begleitet uns beim Kontrollverlust des Alkoholikers. Es ist ein Selbstläufer, es schiebt und zerrt und zieht uns tiefer in den Strudel, an dessen Grund nichts wartet, außer der Wiederholung des ethyltoxischen Elends am nächsten Tag.
Wenn man dann High nur für die andere poppige Single neben Friday I‘m In Love hält, gerät man schon auf die erste falsche Fährte. Nichts gegen Friday, auch wenn es mir persönlich egal ist: Das ist natürlich perfekte Popmusik und nicht umsonst einer ihrer erfolgreichsten Songs (die meisten Plays auf Spotify und vielleicht der, den man am Häufigsten im Radio hört).
Aber High klingt nur im ersten Moment so einfach wie Friday I‘m In Love. Es spielt mit ungewöhnlichen Harmonien und emotionaler wie musikalischer Dynamik und gibt damit ein Versprechen für das weitere Album ab, das es nicht hält.

Aber erstmal hält es mehr als das, denn wir hören Apart. Diese hypnotisierende Ballade hat es wirklich in sich. Selten ergänzen sich Form und Inhalt so passgenau. Der traurige Text handelt von einem Paar, das sich entfremdet hat und ständig missversteht. Eigentlich warten beide auf den anderen, eigentlich wünschen sich beide die gegenseitige Liebe. Aber wie parallele Linien können sie sich niemals treffen. Diesen schmerzlichen Schwebezustand vermittelt die Musik punktgenau, wie Magnete auf dem Kipppunkt zwischen Anziehung und Abstoßung. Die Stimmen der beiden Unglücklichen werden durch den zweistimmigen Gesang und das Flüstern perfekt inszeniert und welch ein genialer Kniff, dass im Refrain die leisere Stimme im Hintergrund viel emotionaler seufzt als die im Vordergrund.

Und nach diesem Song, der zu den besten aller Zeiten gehört, kommt sofort noch einer, der auch zu den besten aller Zeiten gehört: From The Edge Of The Deep Green Sea. Eine musikalische Kurzgeschichte, ein tongewordener Traum – Albtraum, um genau zu sein. Erneut geht es um eine gescheiterte Beziehung und auch wenn es mir für Robert Smith und alle Liebespaare leid tut: Smith ist einfach am besten, wenn er von der misslungenen Liebe singt. From The Edge ist ein Epos und eine Reise durch Gefühle der Verzweiflung, der Hoffnung, der Hilflosigkeit. Lesen Sie die Lyrics dazu, aber machen Sie sich darauf gefasst, dass diese Kurzgeschichte kein Happy End hat.

Was kann nach dieser emotionalen Tour de Force kommen? Weder etwas Spaßiges wäre angemessen noch wäre ein weiterer Felsbrocken dieser Gewichtsklasse zu verdauen. Wendy Times klingt schon vom Titel her eher spaßig und wenn mal wieder das lindenbergesque „Du-du-du“ erklingt, könnte man ein zweites Catch erwarten. Aber zum Glück ist Wendy Times was anderes, ein cooler Song („it doesn’t touch me at all“), ein groovender Song, der in ein Wah-Wah-Inferno mündet und dessen affektive Gelassenheit an dieser Stelle perfekt platziert ist.

Wir sind jetzt also schon fünf Stücke tief im Album und könnten bis hier 11 von 10 Punkten vergeben.
Käme jetzt nicht das Loch.

Doing The Unstuck ist der typische Lückenfüller. Völlig okay, ein kleines Popliedchen halt. Danach dann besagtes Friday I‘m In Love, das in exakt die gleiche Kerbe haut. Wozu zwei Stücke dieser Art direkt hintereinander, wenn auch noch eines davon deutlich schwächer ist als das andere? Sie verdünnen sich gegenseitig und bringen die Spannungskurve auf null.
Leider hebt Trust sie auch nicht wieder an. Um Trust ist es schade. Es beginnt so bombastisch, mit diesem traurigen Klavierintro. Es hat auch eine schöne Melodie. Es hat auch einen schönen Inhalt. Aber es ist einfach noch nicht fertig. Der Text klingt plakativ und rhythmisch holpernd. Es ist dramaturgisch nicht ausgereift. Der Instrumentalpart plätschert dahin, der Gesang wiederholt sich variationslos und es endet einfallslos. Es ist wie eine tolle Grundidee, der man nicht genügend Zeit gewidmet hat.

Und dann wiederholt sich der Fehler der zwei vorangegangen Songs in neuer Klangfarbe. Wo Friday I’m In Love vom ähnlichen, aber schlechteren Doing The Unstuck verwässert wurde, wird durch Trust das bessere A Letter To Elise madig gemacht. Der Song ist zweifellos gut, auch so einer, der eine Geschichte zu erzählen scheint, aber sehr ruhig, nachdenklich, sanft und nicht geeignet, die ruinierte Spannungskurve an dieser Stelle wieder zu heben.

Das tut dann erst Cut, das wieder in die Kategorie der treibenden Wah-Wah-Monster fällt, vielleicht ein Pendant zu Torture von der Kiss Me. Jetzt ist man wieder wach, aber nur kurz, denn To Wish Impossible Things ist direkt wieder sehr ruhig und melancholisch, noch ein Lied, das für sich gesehen völlig in Ordnung ist und das als Startbahn für das oben erwähnte End auch gar nicht mal schlecht platziert ist. Ich glaube, ohne das Loch vorher würde mich To Wish an dieser Stelle nicht stören. Als kontemplative Erholung vor dem obligatorischen kämpferischen letzten Song – wenn man denn Erholung bräuchte, aber von Cut alleine braucht man keine Erholung.

Ich bleibe daher mit gemischten Gefühlen für das Fazit zurück und erinnere mich 30 Jahre später ganz genau daran, die gleiche Ambivalenz schon damals gespürt zu haben. Es wäre ein Experiment wert, sich eine andere andere Reihenfolge für das Album zu programmieren, vielleicht ein oder zwei Songs rauszuschmeißen. Dann wäre Wish womöglich eines ihrer stärksten überhaupt.

Hier gibt es die bisherigen Teile:
Alles außer Pop – The Cure I
Alles außer Pop – The Cure II – Seventeen Seconds
Alles außer Pop – The Cure III – Faith
Alles außer Pop – The Cure IV – Pornography
Alles außer Pop – The Cure V – Japanese Whispers
Alles außer Pop – The Cure VI – The Top
Alles außer Pop – The Cure VII – The Head On The Door
The Cure VIII – Kiss Me Kiss Me Kiss Me
The Cure IX – Disintegration

Der Autor schreibt hier unregelmäßig über Musik. Über Musik redet er auch im Podcast Ach & Krach – Gespräche über Lärmmusik.

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