„Holocaust in der Ukraine“: Boris Zabarko, Historiker des Holocaust, entkommt erneut

Babi Jar by Mark Voorendt CC BY 3.0

Er hat Erinnerungen von denen gesammelt, die entkommen sind. „Verspätete Zeugnisse“ hat Boris Zabarko diese Berichte genannt, sie bezeugen einen „Vernichtungsschlag gegen die europäische Zivilisation“. Sein Werk wird mit Claude Lanzmanns‘ „Shoah“ verglichen. Jetzt musste der Historiker, 86 Jahre alt, erneut fliehen, vergangene Woche konnte er mit Tochter und Enkelin nach Deutschland entkommen. Und stellt uns vor die Frage, ob sich Geschichte wiederhole.

Am 27. September 1941, einem Schabbat, trafen sich höhere Wehrmachts-, SS- und Polizeifunktionäre in Kiew und beschlossen, alle Juden der Stadt zu „evakuieren“. Montags und dienstags wurden 33.771 Menschen nach Babi Jar verbracht, einer idyllisch bewaldeten Schlucht vor der Stadt, in der sie ermordet wurden: “Aber ich riss mich los und entkam.”

So berichtet es Michail Rosenberg, er war 8 Jahre alt, als die Deutschen kamen, um ihn und seine Familie in den Tod zu transportieren: “Mutter hielt mich ganz fest, drückte mich an sich und sagte: Wenn wir sterben, dann zusammen, damit du nicht leiden musst.’ Aber ich riss mich los und sprang durchs Fenster …”

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Ukraine: Käßmann, Kurschus, gerechter Krieg

Warschau Altstadt 1945 by Polish Press Agency Public Domain

„Sie brauchen mehr als unser Mitgefühl und unsere Gebete.“ Sagte die Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, Anfang März der Funke Mediengruppe. Seit November 2021 ist Kurschus, was Margot Käßmann bis Februar 2010 war, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, sie stellt fest: „Ihr Land“, das der Ukrainer, „wurde willkürlich und bösartig überfallen, sie haben das Recht, sich zu verteidigen.“ Und dann dieser Satz: „Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen.“

Blamiert hat Putin alle und alles, Pop und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, Medien und Kommentatoren, Kultur und Kirche, Käßmann und „Konkret“ und so weiter: Nicht dass Putin diesen Krieg führt, sondern wie er ihn führen lässt, wirft jeden, der dachte, er sei auf Höhe der Zeit, hinter sich selber zurück. So schlau wie heute war gestern kaum wer, gerade weil die Bilder aus der Ukraine heute so aussehen wie gestern die in der NS-Wochenschau. Die „Zeitenwende“, die alle erspüren, geht auf eine Impression zurück, einen Sinneseindruck, der das Denken verändert. Beispiel: die evangelische Kirche.

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„Lieber Wolodymyr Selenskyj, wir können Sie sehen“

Katrin Göring-Eckardt im Juni 2017 (c) Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen CC BY 2.0

Nein, Katrin Göring-Eckardt hat den ukrainischen Präsidenten nicht gesehen. Er wurde dem Deutschen Bundestag live aus Kiew zugeschaltet, um sich 5:37 lang anzuhören, wie ihm die grüne Vizepräsidentin seine Welt erklärt.

Es war eine gespenstische Inszenierung gestern im Bundestag, sie war es nicht erst nach der Rede, mit der Wolodymyr Selenskyj die bundesdeutsche Politik beschämt hat, die daraufhin sehr betont zur Geschäftsordnung überging, sondern war es von Beginn an: der ukrainische Präsident gleichzeitig zugeschaltet und weggeblendet. Er wurde ins Bild gerückt, dann baute sich Göring-Eckardt davor auf.

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Kultur im Krieg: Truppenbetreuung oder Le Pop pour Le Pop

Marilyn Monroe 1954 performing for troops in Korea by U.S. Dept. of Defense – Public Domain

Pop-Kultur war immer beseelt von Gewissheit. Völlig fraglos, ob auf der Bühne oder davor, dass man bezaubere und überzeuge und falls doch einmal widerlegt, dann nur durch Pop, niemals durch Panzer, durch Putin schon gar nicht. Eine schöne Gewissheit, sie schält sich gerade täglich ab, es ist ernüchternd. Wenn Pop-Songs, die gegen Putin ins Feld geführt werden, so alt sind wie die Waffen, mit denen Putin diesen Pop bekriegt, gibt es nichts mehr zu tun. Vielleicht ist das eine Chance.

Russland bekämpft die Ukraine, Putin bekämpft den Pop. In seiner Kriegserklärung sprach der postsozialistische Diktator vom „kollektiven Westen“, der drauf und dran sei, „unsere traditionellen Werte zu zerstören“  und „Pseudo-Werte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden“.

Dagegen demonstrieren JuSos und JuLis, Grüne Jugend und Junge Union gemeinsam, am Ende ihrer Demo vorm Bochumer Rathaus ein Lied, das alle kennen, „Ein bisschen Frieden“, Nicoles Siegessong beim Eurovision Song Contest von vor 40 Jahren, jetzt frisch interpretiert.

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Saul Friedländer, Dan Diner ua: „Ein Verbrechen ohne Namen“

Saul Friedländer im Dezember 2010 | Foto Christliches Medienmagazin pro cc 2.0

Ein Büchlein mit vier Texten plus einem Vorwort, gestern erschienen. Drei der vier Texte sowie Vorwort stehen ähnlich bereits im Internet, dennoch ist dieses 94-Seiten-Buch ein 94-Seiten-Gewinn, es bündelt. Und zwar „Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust“. Die Autoren: Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Dan Diner. Ihr Ton: höflich, leicht genervt. Ihr Adressat: Die postkoloniale Forschung, die benutzt werde und sich benutzen lasse, „um zu attackieren“. Wen? Israel, die Juden. Eine Schnell-Lektüre.

Ende 1952 hielt Theodor Heuss, Präsident einer drei Jahre jungen Republik, eine Rede in Bergen-Belsen, dem Konzentrationslager, das als Drehscheibe gedient hat dafür, Menschen durch Arbeit zu vernichten. „Wir haben von den Dingen gewusst“, sagte Heuss, findet aber für das, was er beschreibt, keinen Begriff, es sei „etwas Neues geschehen.“ Für Norbert Frei ist diese Formulierung, „den ‚Zivilisationsbruch‘ erspürend“, ihrer Zeit voraus. Frei, Seniorprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Uni Jena, schlägt in seinem Beitrag  –  ursprünglich in der SÜDDEUTSCHEN erschienen, jetzt deutlich erweitert  –   einen souveränen Bogen vom 23. Mai 1949  –  das Grundgesetz wird parlamentarisch verabschiedet  –  zum 23. Mai 2021: Der postkoloniale Theoretiker Anthony Dirk Moses zieht erstens gegen die Erinnerungskultur vom Leder, zweitens gegen Juden und drittens gegen Israel.

Eine hochattraktive Mixtur „nicht nur für Verfechter linker Identitätspolitik“, so Frei über diesen postkolonialen Dreiklang, „sondern auch für die intellektuelle Rechte“. 

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3D-Test: Doppelstandard, Demokratie, Documenta 15

Joseph-Beuys-Straße mit 7000 Eichen, Soziale Plastik documenta 7. Foto: Baummapper Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Kunst, die Kunst boykottiert, ist keine. So wenig wie eine Demokratie, die Demokratie boykottiert, demokratisch ist oder ein Dialog dialogisch, wenn er den Dialog verweigert. Das ist so einfach zu begreifen wie die Tatsache, dass BDS, die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, eine zutiefst antidemokratische Bewegung ist, ihr ist die Freiheit der Kunst so egal wie die der Palästinenser. Und doch wird  –  so wie dieser Tage im Vorfeld der 15. Documenta, der international geachteten Schau für zeitgenössische Kunst  –  wieder und wieder debattiert, ob es nicht doch gehobene Kunst sein könnte, jüdische Kunst zu boykottieren. Es nisten sich Doppelstandards ein im Denken. Das Perfide daran ist, dass diese Dauerdebatte selbst jene Erinnerung in den Dienst gestellt hat, die den ermordeten Juden gilt: Ich zucke seit längerem zusammen, wenn ich das Wort von der „besonderen deutschen Verantwortung“ höre, die Israel gelte. Nicht, weil es eine solche Verantwortung nicht gäbe, sondern weil sie immer dann bemüht wird, wenn es so gar nicht um sie geht.

Im Mai 2019 hatte der Bundestag die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, BDS, nicht als antidemokratisch, sondern als antisemitisch verurteilt und nur deshalb, weil antisemitisch, als eine Bedrohung „auch für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Die Abgeordneten beriefen sich bei ihrer Einschätzung auf eine „besondere historische Verantwortung“, die Deutschland gegenüber Israel habe. Was sicherlich stimmt, aber vor die Frage stellt: Wäre BDS okay, wenn es keine „besondere historische Verantwortung“ für Israel gäbe?

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„El-Alamein-Babyboomer“: Edna Brocke über ihr Leben (und ein schwerdeutsches Linksbürgertum)

Dr. Edna Brocke 2009 bei der Verleihung des Hans-Ehrenberg-Preises in der Christuskirche Bochum by Ayla Wessel (c)

“Now this is not the end, it is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning.” Erklärte Winston Churchill, britischer Premierminister, nachdem die Briten die deutsche Wehrmacht bei El Alamein gestoppt hatten, das war am 4. November 1942. Bis zu diesem Tag musste, wer im britisch mandatierten Palästina lebte, damit rechnen, dass deutsche Truppen das heutige Israel von Süden her aufrollen würden mit dem Ziel, alle Juden zu ermorden. Unter ihnen Käte und Ernst Fürst, acht Jahre vor El-Alamein waren sie aus Deutschland nach Jerusalem entkommen, neun Monate nach El-Alamein kommt Edna zur Welt. Genauer: Sie kommt in ihre eine Welt, ihre zweite kommt später hinzu. 79 Jahre später hat Edna Brocke, die Nichte von Hannah Arendt, ihr „Leben in zwei Welten“ bilanziert, das Büchlein aus dem Lit-Verlag ist keine Autobiographie, eher ein assoziatives Erinnern, sehr unterhaltsam, völlig subjektiv „und ein wenig exemplarisch“.

Von 1988 bis 2011 Jahr hat Edna Brocke die Alte Synagoge Essen geleitet, sie hat das Haus von seinem musealen Mahnmal-Konzept befreit: „Ich war nicht gewillt zu ‚ermahnen‘, sondern zu erklären, was erklärt werden kann, und offen zu lassen, was nicht zu erklären ist.“  Ihr Konzept: den Jewish way of life zu zeigen, dessen komplexe und komplizierte Vielfalt, ein „Haus jüdischer Kultur“.

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Pulsschlag aus Stahlsaiten: Nik Bärtsch solo

Nik Bärtsch mit seiner Band Mobile 2016 in der Christuskirche Bochum by Heinrich Brinkmoeller-Becker

Das Klavier ist ein besaitetes Tasteninstrument, seine Geschichte geht ins 12. Jahrhundert und noch weiter zurück, von da an dauerte es rund ein Jahrtausend, bis Nik Bärtsch auf die Idee kam, wie man es spielen könnte: als sei es eine riesige Produktionshalle, in der verschiedene Maschinen ihren eigenen Rhythmen gehorchen, die sich nach und nach so ineinander schieben, dass man sich sicher denkt, es seien drei vier fünf Hirne am Werk und dann sechs sieben elf … der Zen-Meister aus Zürich spielt solo.

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„Judenkritisch“? Der antisemitische Diskurs und ein unglücklicher Habermas (vol 2)

Philosoph Jürgen Habermas 2014 by Európa Pont cc 2.0

War Auschwitz beispiellos oder die „Nachfolge“ kolonialer Verbrechen? Jürgen Habermas, als Staatsphilosoph verehrt, möchte die Frage diskursethisch klären. Seinen Wunsch nannte die SZ „fast salomonisch“ und ihn selber „ganz Salomon“. Als hätte hier ein König Israels gesprochen. Zwar habe Habermas die Frage selber gar nicht beantwortet, aus dem „Zusammenhang“ aber sei „zweifelsfrei“ zu schließen, dass sich alles aufklären werde. Nun ist „zweifelsfrei“ ein zweifellos fieses Kompliment für einen Philosophen. Ein Alarmlämpchen blinkt bereits in den Zusammenhang hinein  –  das Wort „alttestamentarisch“, das Habermas einspielt, verdichtet Judenhass  –  da blinkt die zweite Leuchte Alarm: Kronzeuge seiner Theorie ist der Kronjurist des Dritten Reichs, Carl Schmitt aus Plettenberg-Pasel.

Der Staatsrechtler, Politphilosoph und Nazi-Karrierist war Zeit seines Lebens, es ist kein Geheimnis, ein blindwütiger Antisemit und mieser Denunziant. Rückblick:

Gegen Ende der Weimarer Republik erhebt Schmitt die Unterscheidung von Freund und Feind zur „spezifisch politischen Unterscheidung“, die er dann aber als eine betont unpolitische, nämlich existenzielle Entscheidung bestimmt: Wer Freund sei und wer Feind, diese Wahl, die aller Politik zugrunde liege, gehe hinter alle Gründe zurück. In Schmitts Worten:

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„Alttestamentarisch“? Jürgen Habermas und der antisemitische Diskurs (vol 1)

Philosoph Jürgen Habermas, Mai 2014 by Európa Pont cc 2.0

Es gibt Wörter, die stehen stumm im Text und blinken vor sich hin wie Alarmlämpchen es tun. „Alttestamentarisch“ ist so ein Wort. Macht schwer auf Bedeutung, als wollte jemand beweisen, wie studiert er sei, während das Wort selber  –  der wissenschaftliche Begriff ist „alttestamentlich“  –  etwas anderes erzählt, es ist antisemitisch aufgeladen wie eine Giftampulle. Und hat sich einem Text von ausgerechnet Jürgen Habermas eingeimpft. Darin erklärt der vielgeehrte Philosoph, was Antisemitismus sei, indem er sich  –  und schon blinkt es erneut Alarm  –  auf Carl Schmitt beruft, den stahlhelmharten Judenhasser. Auf diese Weise  –  zwischen antisemitischem Bedeuten und einem bedeutenden Antisemiten  –  pendelt Habermas die Frage aus, ob Auschwitz beispiellos sei oder doch eher eine „Nachfolge“ kolonialer Verbrechen. Seine Antwort: Ja schon doch, aber doch auch wieder nicht. Still leuchtet das Lämpchen.

In der Septemberausgabe des Philosophie-Magazins hat sich Habermas  –  vorgestellt als „der wichtigste lebende Vertreter der kritischen Theorie“, aber das könnte ein Missverständnis sein  –  zum Historikerstreit geäußert, dem aktuellen. Beim ersten, den der Sozialphilosoph vor 35 Jahren angeführt hatte, sei es,

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